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Nach zwei Jahren Zeitenwende Warum Deutschland sich noch immer nicht verteidigen kann

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Scholz nennt es Besonnenheit, seine Kritiker werfen ihm Zögern vor. Wo stehen wir in der Zeitenwende?

Scholz nennt es Besonnenheit, seine Kritiker werfen ihm Zögern vor. Wo stehen wir in der Zeitenwende?

(Foto: IMAGO/Björn Trotzki)

Die Liste mit dem Material, das Deutschland der Ukraine schickt, ist lang - doch zur Selbstzufriedenheit besteht kein Grund. Die Nachbeschaffung funktioniert nicht und auch im Jahr zwei der Zeitenwede fehlt oftmals das Bewusstsein für die neue Bedrohung.

5000 Helme. Klingelt's da noch? Am 26. Februar 2022, zwei Tage nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist, kommt die deutsche Unterstützungslieferung in dem angegriffenen europäischen Land an. Als "ganz deutliches Signal" will die damalige Verteidigungsministerin, Christine Lambrecht, diese Schutzhelme gewertet wissen, "dass Deutschland an der Seite der Ukraine steht". Einen Tag später nennt ihr Chef, Olaf Scholz, im Bundestag das, was im Osten Europas gerade vor sich geht, eine "Zeitenwende". Das bedeute, so der Kanzler: "Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor."

Eine kluge Strategie fährt Scholz damals, die grundlegenden Entscheidungen und massiven Veränderungen, die sich aus der Invasion von Kremlchef Wladimir Putin ergeben müssen, unter einen weiten Begriff zu fassen. Zeitenwende - das klingt nach etwas Großem, etwas, wofür deutsche Politik den Kurs ändern und den Kompass neu kalibrieren muss.

Aber wie weit ist Deutschland tatsächlich vorangekommen im zu Ende gehenden Jahr 2 der Zeitenwende? Den 5000 Helmen von damals stehen heute gegenüber: 48 Kampfpanzer Leopard I und II, 80 Schützenpanzer Marder, 52 Flakpanzer Gepard, 13 Brückenlegepanzer Biber, zweimal Patriot-Flugabwehr, zwei Rad- und 14 Panzerhaubitzen, 5 Mehrfachraketenwerfer MARS, 162 Aufklärungsdrohnen Vector.

Die Liste, der diese Waffentypen und -mengen entnommen sind, umfasst in Gänze 144 Artikel, darunter auch Wintermützen (240.000), Kühlschränke (67, für Sanitätsmaterial) und Schwerlastsattelzüge (85). Sie ist eine öffentlich zugängliche Internetseite, auf die die Bundesregierung bei Gelegenheit gern verweist, neben der Aufnahme von einer Million Kriegsflüchtlingen und humanitärer Hilfe.

Und ja, diese wirklich lange Liste von Waffen und Gerät belegt, dass die Bundesregierung nicht mehr der Auffassung ist, man könne mit 5000 Helmen an der Seite der Ukraine stehen. Doch der Impuls, sich, nachdem man den Bildschirm bis zum Ende runtergescrollt hat, selbst auf die Schulter zu klopfen für diese Hilfe, die man sich gern so hands on vorstellt - "Wie sieht's mit Kälteschutzhosen aus?" - "Brauchen wir" - "Alles klar, 80.000 schicken wir los" -, dieser Impuls ist trügerisch. Denn messen lassen muss sich die Kraft, die Deutschland für die Unterstützung der kämpfenden Ukrainer aufwendet, nicht an der Binnensicht der Deutschen.

Schubumkehr verdient Respekt, aber ...

Deutschlands Denken stammt aus Friedenszeiten. Die Bundesregierung hat sich per Grundsatz verboten, Waffenexporte in Krisengebiete zu genehmigen. Freilich hat die Rüstungsindustrie in der Vergangenheit gut an Geschäften mit Ägypten, der Türkei, Saudi-Arabien, Südkorea verdient. Aber die Krisen und Kriege, in die jene Länder verwickelt sind, muten anders an und ermöglichten den Entscheidern in Berlin die Einschätzung, das exportierte Kriegsgerät werde nicht direkt in einen Fronteinsatz wandern.

Um an der Seite der Ukraine zu stehen, musste die Bundesregierung ihren Grundsatz nicht nur über den Haufen werfen, sondern ins Gegenteil umkehren: Gerade weil sich die Ukraine im Krieg befindet, unterstützt Deutschland sie mit Waffen und anderem Gerät. Diese 180-Grad-Wende, diese Schubumkehr verdient Respekt. Und sie hat 2023 an Kraft zugelegt. Während im ersten Jahr der Zeitenwende rund 1,63 Milliarden Euro für Militärhilfe in die Ukraine ausgegeben wurden, so sagt die Bundesregierung, steigerte sich der Posten im zweiten Jahr auf mehr als 4 Milliarden.

Dennoch besteht für (Selbst-)Zufriedenheit kein Anlass. Denn um diese 4 Milliarden Euro schwere Militärhilfe-Liste im wahrsten Sinne "wertschätzen" zu können, braucht es zum einen den Blick auf den kompletten Haushalt: Dann stehen der Summe für Haubitzen, Panzer, Erste-Hilfe-Kits, Nachtsichtbrillen 500 Milliarden Euro Gesamtausgaben gegenüber. Deutschland gibt Freunden für deren Existenzkampf weniger als ein Prozent.

Zudem muss sich dieser Aufwand an Putins Zielen für die nächsten Jahre messen. Wie er Moldau bereits in den Blick nimmt. Wie er sein Bild vom Westen immer mehr bestätigt sieht: zu bequem, zu dekadent, um, wenn es drauf ankommt, wirklich Einsatz und Ausdauer zu zeigen.

Der russische Präsident will in Europa noch weitere Grenzen verschieben. Was ihn davon abhalten kann: ein Scheitern des Angriffs auf die Ukraine. Die braucht genug westliche Waffen, um Putin wieder in die alten Schranken zu verweisen. An dieser Herausforderung muss sich die Hilfe der NATO-Staaten messen. Dafür reicht es derzeit bei Weitem nicht.

Deutschland trickst beim Zwei-Prozent-Ziel

Noch immer doktern Deutschland und andere Bündnismitglieder am Zwei-Prozent-Ziel der NATO herum - als hätten sie ihren gewalttätigen Gegner gar nicht im Blick. Russland abzuschrecken, Überlegenheit zu zeigen, ist so notwendig geworden, dass die zwei Prozent des BIP für den Verteidigungshaushalt selbstverständlich sein sollten, eine Marke, die man so nebenbei nimmt. Stattdessen trickst Deutschland herum, um die zwei Prozent zu erreichen, indem es etwa Pensionsgelder für ehemalige Soldaten miteinrechnet. Wie Putin sich von Rentenzahlungen abschrecken lässt? Man wartet noch auf Antwort der Regierung.

Immerhin: Inzwischen sind zwei Drittel der 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr vertraglich gebunden, etwa für Schützenpanzer PUMA, schwere Transport- und leichte Kampfhubschrauber, ein Luftverteidigungssystem, F-35 Kampfjets. Doch bis all dies bei der Truppe ankommt, werden Jahre vergehen. Völlig unverständlich zudem, dass die Beschaffung für deutlich simplere Posten wie Artillerie-Munition bislang auch nicht wesentlich schneller läuft.

"Die Bundeswehr ist heute nicht kriegstüchtiger oder siegfähiger, als sie es letztes Jahr war", lautet die Bilanz von Susanne Wiegand, Chefin des Rüstungszulieferers Renk. Die Truppe habe sogar gelitten und von dem wenigen, was sie hat, noch abgeben müssen, sagt sie im "Wirtschaftswoche"-Podcast. Diese Einschätzung ist unter Fachleuten weitgehend Konsens. "Noch immer hätte die Luftwaffe im Verteidigungsfall Munition für weniger als einen Tag, das Heer für wenige Tage", sagt CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter. Es sei weder eine massive Unterstützung der Ukraine mit Munition erfolgt, noch habe man in diesen zwei Jahren die eigenen Bestände aufgefüllt. "Für Außenstehende ist dieses Versagen nicht nachvollziehbar, dass nicht mal in unsere Vorräte investiert wurde. Nicht mal für unseren eigenen Bedarf sorgen wir vor."

Darauf angesprochen zeigen Regierungskreisen zumeist auf die Rüstungsindustrie, die gar nicht in der Lage sei, mehr zu produzieren. Kiesewetter lässt das nicht gelten: "Die Zeitenwende hätte konkrete Investitionen in die Rüstungsindustrie zur Folge haben müssen, Finanzierungszusagen und Bürgschaften, auch die Möglichkeit zur Ausweitung der Arbeitszeiten." Denn bei aller geopolitischen Dramatik ist das Management eines Rüstungskonzerns unverändert dem Unternehmenswohl verpflichtet. Und das verbietet, mit Kapazitätserweiterung oder Produktion massiv in Vorleistung zu gehen, ohne sichere Aufträge.

Beschaffungsrecht noch nicht angepasst

"Alle Unternehmen, die ich kenne, haben bereits nach Kräften die Kapazität hochgefahren, Personal eingestellt und in die Supply Chain investiert. Und zwar auf eigene Kosten und mit teilweise erheblichem Risiko", sagt Renk-Chefin Wiegand. Wie sich dieses Risiko mindern ließe? Mit Vorauszahlungen. Im Exportgeschäft sei das üblich. Doch das deutsche Beschaffungsrecht verbietet Anzahlungen. So quält sich die Branche mit Strukturen, "die zuvor 30 Jahre lang ihre Berechtigung hatten, weil es eben keine wahrgenommene Bedrohung gab", sagt die Konzernchefin. Das Beschaffungsrecht an die Zeitenwende anzupassen, damit die Rüstungsbranche beschleunigen kann - bislang nicht passiert.

So hapert es noch an dringend nötigen Veränderungen im System - bei Beschaffung, Verwaltung, auch im Inneren des Ministeriums und der Bundeswehr. Monatelang bemühte Boris Pistorius öffentlich dasselbe Bild: An einem Schiff in voller Fahrt herumzubauen, Segel und Kapitän zu wechseln, so der Verteidigungsminister, sei keine gute Idee. Anders gesagt: falscher Zeitpunkt für die große Reform. Immerhin hat er die Hand an den kleineren Hebeln und so genießt bei der Beschaffung der Faktor Zeit seit dem Frühjahr oberste Priorität.

Doch scheint der Minister erkannt zu haben, dass viele kleine Hebel nur Stückwerk ergeben. Bis April 2024 soll Generalinspekteur Carsten Breuer Vorschläge für eine neue Struktur der Streitkräfte vorlegen. Pläne, die es längst gibt, nachzulesen in einem 23 Seiten starken Papier, an dem vor mehr als zwei Jahren Experten aus Wissenschaft und Bundeswehr, Parteien und Behörden beteiligt waren. "Eckpunkte für eine Bundeswehr der Zukunft" heißt es. Für ein Strategiepapier sind die Pläne sehr konkret. So konkret, dass man sich fragt, warum es vier Monate dauern soll, diese Gesamtstrategie zu aktualisieren und in Handlungsanweisungen umzusetzen.

Immerhin soll die Strategie überhaupt konkret werden, anders als bei der Nationalen Sicherheitsstrategie. Im Frühjahr veröffentlicht, bietet sie kluge Analyse, aber kaum etwas zu daraus folgenden Konsequenzen. Deutschland muss verteidigungsfähig werden und resilient - aber welche Schritte sind dafür als Nächstes nötig? Ein Nationaler Sicherheitsrat könnte Haltung und Konzepte definieren. Doch den gibt es weiterhin nicht.

Masala: Auch nichtmilitärische Bedrohungen beachten

Aus Sicht des Sicherheitsexperten Carlo Masala fehlt Deutschland noch immer das Bewusstsein dafür, wie nötig es ist, sich auch auf Gefahren nicht-militärischer Art einzustellen. "Wie bringt man den Leuten bei, wie sie damit umgehen, wenn es Cyberattacken auf kritische Infrastruktur gibt? Wie macht man ihnen klar, wie sie sich organisieren, wenn in Stadtteilen drei Tage der Strom ausfällt?", fragt der Wissenschaftler von der Universität der Bundeswehr. "In der Nationalen Sicherheitsstrategie ist das hinterlegt, im Haushalt werden die Mittel, etwa für den Katastrophenschutz, aber gekürzt."

Dabei hat die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 vor Augen geführt, welches Chaos Katastrophenhilfe produzieren kann, wenn Rotes Kreuz, Feuerwehr, THW und andere nicht koordiniert im Einsatz sind, sondern sich im Weg stehen. Erst, wenn auch für zivile Gefahren ein Bewusstsein geschaffen wird, "ist die Gesellschaft verteidigungsfähig", sagt Masala ntv.de. Wenn man Zeitenwende richtig begreife, müsse Verteidigung breiter gedacht werden. Im Sinne von Gesamtverteidigung. "Dafür sehe ich keinerlei Ansätze."

So war 2023 im Sinne der Zeitenwende ein bestenfalls durchwachsenes Jahr, wenn auch erheblich besser als 2022. Große Projekte aus dem Sondervermögen wurden angeschoben, der Faktor Zeit hielt Einzug ins Beschaffungswesen, die militärische Hilfe für die Ukraine wurde spürbar verstärkt.

Doch ob die große Reform der Bundeswehr Wirklichkeit wird, ist offen. Ebenso, wann die Bundeswehr neue Munition bekommt. Die Ukraine ist in der Defensive - auch, weil Deutschland und andere Unterstützer ihr zu spät zu wenige schwere Waffen lieferten. Die Hilfe muss Kiews Truppen wieder offensivfähig machen. Und sich selbst muss Deutschland so ausstatten, dass die Bundeswehr in der Lage wäre, sich selbst oder ein Partnerland im NATO-Verbund zu verteidigen. Pistorius' Forderung, "kriegstüchtig" zu werden, weist in die richtige Richtung und ins kommende Jahr.

Quelle: ntv.de

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