Scholz macht Platz für Neuwahl "Jede Vertrauensfrage ist historisch - diese ist einzigartig"
16.12.2024, 06:10 Uhr Artikel anhören
Scholz hat angekündigt, die Vertrauensfrage im Bundestag ausführlich begründen zu wollen.
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Bundeskanzler Scholz stellt dem Bundestag die Vertrauensfrage, um so Neuwahlen zu ermöglichen. Der politische Publizist Albrecht von Lucke ordnet den Vorgang bei ntv.de ein - und warnt: "Die nächsten vier Jahre werden entscheidend für die Stabilisierung unseres demokratischen Systems."
ntv.de: Der Bundestag leitet qua konstruktivem Misstrauensvotum die Selbstauflösung ein - zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik. Ist der 16. Dezember 2024 damit jetzt schon ein historisches Datum?
Albrecht von Lucke: Jede Vertrauensfrage ist historisch. Was neu ist: Noch nie wurde die Vertrauensfrage von einer Minderheitsregierung gestellt. Dass die Vertrauensfrage diesmal von einem faktisch bereits gescheiterten Bundeskanzler gestellt wird, ist einzigartig. Zu beachten ist: Die Selbstauflösung des Bundestags kommt über die sogenannte unechte Vertrauensfrage zustande, die von der echten Vertrauensfrage zu unterscheiden ist.

Albrecht von Lucke ist Politologe und Publizist. Der Autor mehrerer Bücher ist Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik" und tritt regelmäßig als Experte im Fernsehen auf, darunter auch bei ntv.
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Klären Sie uns auf!
Ursprünglich war die Vertrauensfrage gedacht, um das Vertrauen der Mehrheit des Bundestags zu erringen. Das ist in manchen Fällen auch tatsächlich gelungen. Erinnern wir uns beispielsweise an die Vertrauensfrage von Gerhard Schröder 2001, um den Afghanistankrieg zu begründen. Das ist der klassische Fall einer Vertrauensfrage in der Absicht, das Vertrauen zu erzielen. Das Gleiche hat Helmut Schmidt 1982 im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss gemacht. Die anderen drei bisherigen Vertrauensfragen waren solche, die man als unechte bezeichnen muss.
Weil?
Weil sie letztlich dem Zweck dienten, das Vertrauen als Kanzler nicht ausgesprochen zu bekommen. Willy Brandt machte den Anfang 1972, anschließend Helmut Kohl 1983 und dann 2005 Gerhard Schröder. Alle drei wollten so neue Regierungsmehrheiten herbeiführen, aus unterschiedlichen Gründen. Aber anders als bei Olaf Scholz waren die Regierungsfraktionen dieser drei Kanzler nicht in der Minderheit.
Das Instrument Vertrauensfrage sollte eigentlich Regierungen stabilisieren und wird nun zum vierten Mal zweckentfremdet für ein gegensätzliches Ziel. Ist das problematisch?
Es ist problematisch in dem Sinne, dass es ursprünglich anders gedacht war. Die unechte Vertrauensfrage hat sich als Instrument dennoch etabliert und das aus berechtigten Gründen. Diese sind diesmal besonders eklatant: Die rot-grüne Minderheitsregierung ist nicht mehr handlungsfähig und gibt nun gewissermaßen das Vertrauen zurück an die Wählerinnen und Wähler.
Erleben wir gegenwärtig eine Systemkrise oder ist der Vorgang eher Ausweis eines funktionierenden Parlamentarismus, der eine Blockadesituation aufzulösen weiß?
Beides. Der Akt der Vertrauensfrage ist die Möglichkeit, wieder zu geordneten Verhältnissen zu kommen. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht dieses Vorgehen bisher nie als problematisch eingestuft. Die Situation, die zur Vertrauensfrage geführt hat, steht aber für eine Dysfunktionalität unseres Parlamentarismus. Die Ampelkoalition ist exemplarisch für immer kompliziertere Regierungskonstellationen, wie wir sie ja auch vermehrt in den ostdeutschen Bundesländern erleben.
Der Bedarf nach einer geordneten Auflösung des Bundestags ist offensichtlich. Braucht das Grundgesetz ein Update?
Ich glaube, die geübte Praxis ist haltbar. Man kann das weiterhin so machen. Aber es stimmt: Das ist eine Leerstelle, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht sonderlich im Blick gehabt haben. Sie wollten vor allem die Beständigkeit von Regierungen gewährleisten, hatten aber nicht bedacht, dass eine Regierung sich unter bestimmten Umständen auch auflösen können müssen.
Mit der Auflösung des Bundestages ist die Krise ja nicht beendet: Wenn die Bundestagswahl nicht sehr eindeutige Mehrheiten hervorbringt, dauert das Machtvakuum in Deutschland womöglich vom 6. November bis in den April hinein.
Das ist das eigentliche Problem und nicht die Auflösung der Regierung. Die nach der Vertrauensfrage nur noch geschäftsführende Bundesregierung kann keine wichtigen Entscheidungen treffen. Bei Gesetzen wird ihr die Opposition nur in Ausnahmen zu Mehrheiten verhelfen. Mit Blick auf den Amtsantritt des nächsten US-Präsidenten Donald Trump am 20. Januar ist das verheerend. Dieses Datum bedeutet weltpolitisch eine fundamentale Zäsur, während Deutschland noch einen langen Monat im Wahlkampf steckt. Daraus resultiert ein großer Druck auf die Parteien, sich nach der Wahl schnell auf eine Regierung zu einigen. Eine erneute Koalition aus Union und SPD wird dadurch wahrscheinlicher.
Das legen auch die aktuellen Umfragen nahe. Viele Menschen waren erleichtert, als es mit der Ampelkoalition endlich vorbei war. Ist das nicht trügerisch? Vielleicht braucht auch die nächste Regierung drei Parteien.
Mit Blick auf die Umfragen kann noch einiges passieren, das ist richtig. Olaf Scholz wird die Wahl eher nicht mehr zu seinen Gunsten drehen. Aber CDU und CSU könnten noch einiges von ihrem Vorsprung verlieren. Das wird noch enger werden, als viele denken. Wenn es irgendwie reicht, läuft es dennoch auf Schwarz-Rot hinaus. Dazu wird notfalls Bundespräsident Steinmeier auch wieder beitragen. Und wenn man ehrlich ist: Die Unterschiede zwischen beiden Parteien sind bei Weitem nicht so groß, wie sie im Wahlkampf gemacht werden.
Wäre es für Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz leichter gewesen, Wahlkampf gegen eine amtierende Ampelkoalition zu machen?
Absolut! Dass sich durch die Auffächerung der Ampel eine neue Konstellation im Wahlkampf ergibt, ist vor wenigen Wochen noch kaum beachtet worden. Die FDP kann sich nun wieder wirtschaftsfreundlicher als die CDU positionieren. Die SPD kann ohne Rücksicht auf die FDP den Neoliberalismus geißeln. Hinzukommt: Ein Markus Söder in den eigenen Reihen macht es Merz nicht leichter.
Stichwort: unangenehme Situation für Merz. Müsste der im Wahlkampf nicht allmählich seinen Sound ändern? Wer ein Land verspricht, wo nach dem Ampel-Aus Milch und Honig fließen, kann im Amt nur enttäuschen.
Beim Thema Schuldenbremse beobachten wir bei Merz bereits erste Lockerungsübungen. Söder, CDU-Generalsekretär Linnemann und die FDP klammern sich alle an die Schuldenbremse. Aber Merz weiß, dass das Lastenheft nur dicker wird, sobald Trump Europa in die Pflicht nimmt, selbst für die europäische Sicherheit zu sorgen. Er braucht auch Spielraum, wenn er mit der SPD regieren will. Wo soll das ganze Geld denn herkommen? Es wird spannend, inwieweit in diesem Wahlkampf die Wahrheit gesagt wird oder die Menschen auf Zeiten eingestimmt werden, die viel schwerer werden, als wir es uns vielleicht vorstellen können.
Auf die Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 gemünzt: Wie tiefgreifend ist die Krisensituation für Deutschland?
Wir erleben ein Polykrise. Es gibt eine Vielzahl äußerer Krisen, die sich mit Trumps Amtsantritt als verschärfte Wirtschaftskrise für Deutschland und Europa konkretisieren werden. Eine Wirtschaftskrise verstärkt wiederum die Vertrauenskrise und die systemische Krise im Inneren. Die kommende Bundesregierung -nehmen wir mal an, aus Union und SPD - wird unter massivem Druck stehen. Die nächsten vier Jahre werden entscheidend für die Stabilisierung unseres demokratischen Systems. Unter der Ampel ist das Vertrauen der Menschen massiv verloren gegangen. Das muss die kommende Bundesregierung zurückgewinnen. Andernfalls drohen Deutschland Verhältnisse wie Frankreich, Österreich und den Niederlanden: Wenn die Kräfte der politischen Mitte permanent schrumpfen, übernehmen irgendwann die Radikalen das Land.
Mit Albrecht von Lucke sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de