Der Kriegstag im Überblick Kiew setzt Kamikaze-Drohnen ein - Russland sanktioniert mehrere EU-Mitglieder
22.07.2022, 21:11 Uhr
Diese von der russischen Staatsagentur Tass zur Verfügung gestellte Foto soll russische Einheiten bei einem Einsatz nahe Odessa zeigen.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Im Kampf gegen die russischen Invasoren setzt die Ukraine auf moderne Kampfmittel. Ein Angriff auf Stellungen rund um das AKW Enerhodar erfolgte lauf Kiew mit Kampfdrohnen. Derweil kommen die russischen Truppen aus Expertensicht nur langsam voran. Auf diplomatischer Ebene versucht es Moskau mit anderen Mittel: Fünf EU-Länder werden vom Kreml auf eine Liste "unfreundlicher Staaten" geschrieben. Ein Abkommen sorgt unterdessen für Hoffnung, dass ärmere Länder vor drohenden Hungersnöten bewahrt werden könnten: Beide Kriegsparteien unterschrieben eine Vereinbarung, um Millionen Tonnen Getreide nahe Odessa für den Weltmarkt auszuführen. Der 148. Kriegstag im Überblick.
Kiew bestätigt Einsatz von Kamikaze-Drohnen
Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben Kampfdrohnen am von Russlands Armee besetzten Atomkraftwerk Enerhodar eingesetzt. "Mit Kamikaze-Drohnen wurde ein Angriff auf eine Zeltstadt und feindliche Technik ausgeführt", teilte der Militärgeheimdienst in Kiew mit. Zerstört worden seien dabei Luftabwehr und ein Mehrfachraketenwerfer des Typs Grad (Hagel). Den Geheimdienstangaben zufolge sind drei Russen getötet und zwölf verletzt worden. In einem dazu veröffentlichten Video sind Zelte und vor einer Explosion fliehende Menschen zu sehen.
Zuvor hatte bereits die russische Besatzungsverwaltung des Gebiets Saporischschja über die Attacke rund 440 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Kiew berichtet. Demnach sollen elf Kraftwerksmitarbeiter verletzt worden sein, vier davon schwer. Das mit sechs Blöcken und einer Leistung von 6000 Megawatt größte Atomkraftwerk Europas wurde von der russischen Armee Anfang März erobert.
Experten: Russische Truppen kommen nur langsam voran
Derweil verzeichneten die ukrainischen Behörden an allen Frontabschnitten Beschuss durch russische Truppen. Westliche Militärexperten sagten jedoch, dass die Angreifer nur langsam vorankämen. "Die russischen Kräfte werden in den kommenden Wochen kaum Geländegewinne machen", schrieb das US-amerikanische Institut für Kriegsstudien (ISW). Nach britischen Angaben setzen die Invasionstruppen verstärkt Flugabwehrraketen gegen Ziele am Boden ein. Demnach leiden die Russen unter einem "kritischen Mangel" an Boden-Boden-Raketen und greifen daher zu den für den Abschuss von Fluggeräten bestimmten Waffen. Diese stellten ein hohes Risiko für die Zivilbevölkerung dar, hieß es im täglichen britischen Geheimdienstbericht.
Ukrainer schildern Misshandlungen durch russische Truppen in besetzten Gebieten
Ergänzend dazu warf die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) der russischen Armee Folter, illegale Verhaftungen und Freiheitsberaubung von Zivilisten im Süden der Ukraine vor. "Die russischen Truppen haben die von ihnen besetzten Gebiete im Süden der Ukraine in einen Abgrund der Angst und der wilden Anarchie verwandelt", erklärte die HRW-Beauftragte für die Ukraine, Julia Gorbunowa. HRW befragten nach eigenen Angaben mehr als 70 Ukrainer, die mehr als 40 Fälle von Misshandlungen und Folter schilderten. Die Opfer wurden verprügelt oder Stromstößen ausgesetzt, sie erlitten Verletzungen an den Rippen oder Zähnen, Verbrennungen oder Gehirnerschütterungen.
Selenskyj-Kritiker spricht von Ausbürgerung aus der Ukraine
Der Chef der Gebietsverteidigung der südostukrainischen Großstadt Dnipro ist nach eigenen Angaben während einer Auslandsreise ausgebürgert worden. "Ich kann mit keinem Dokument einreisen. Von der Sache her stecke ich hier im Grenzgebiet fest", sagte Hennadij Korban ukrainischen Medien. Er hatte zuletzt öffentlich über fehlende Unterstützung aus Kiew geklagt und soll über US-Kontakte auf eine Entlassung des Chefs des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, gedrängt haben. Diesem wiederum werden seit längerem Verbindungen zu Russland vorgeworfen. In den ukrainischen Medien wird seit Tagen über ein vermeintliches Geheimdekret von Präsident Wolodymyr Selenskyj spekuliert, dem zufolge schon mindestens zehn Ukrainern die Staatsbürgerschaft entzogen worden sein soll, weil sie angeblich noch eine zweite Staatsbürgerschaft besaßen.
Kreml erweitert Sanktionsliste
Als Reaktion auf die Sanktionen des Westens führt die russische Regierung noch einmal explizit die EU-Länder Griechenland, Dänemark, Slowenien, die Slowakei und Kroatien auf ihrer Liste "unfreundlicher Staaten" auf. Eigentlich stand dort schon die gesamte Europäische Union. Kremlsprecher Dmitri Peskow kommentierte die Entscheidung der Regierung als weiteren Schritt Moskaus, den Kontakt zu diesen Ländern zurückzufahren. Dabei geht es vor allem um Einschränkungen für die diplomatischen Vertretungen der Länder in Moskau, russisches Personal einzustellen.
Slowenien und Kroatien dürfen demnach gar keine russischen Staatsbürger mehr beschäftigen. Für die anderen Länder sind konkrete Zahlen festgeschrieben. Möglich seien auch noch weitere Einschränkungen, sagte Peskow. Hintergrund sei eine unfreundliche Politik der Länder gegenüber Russland, sagte Peskow, ohne ins Detail zu gehen. Die russische Regierung hatte im vergangenen Jahr nach einem Erlass von Kremlchef Wladimir Putin mit der Erstellung einer Liste "unfreundlicher Staaten" begonnen, auf der zuerst die USA und Tschechien erschienen. Nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine wurden auch jene Länder darauf gesetzt, die Sanktionen gegen Moskau mittragen.
Polen verärgert über Zögern beim Panzer-Ringtausch
Ein anderes EU-Land, Polen, hat die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem geplanten Ringtausch für Waffenlieferungen an die Ukraine scharf kritisiert. "Die deutschen Versprechen zum Panzer-Ringtausch haben sich als Täuschungsmanöver erwiesen", sagte Vize-Außenminister Szymon Szynkowski vel Sek dem "Spiegel". Aus polnischer Sicht seien die deutschen Angebote inakzeptabel, sodass man nun auf die Hilfe anderer NATO-Partner setze. Zunächst hätten die Deutschen Panzer angeboten, "die älter waren als diejenigen, die wir der Ukraine gaben", sagte er. Es sei auch nur um die langsame Abgabe weniger Panzer gegangen. Deswegen rede Polen lieber mit anderen NATO-Partnern, "die wirklich bereit sind, uns dabei zu helfen". Nach seinen Angaben erhält Polen bereits jetzt Panzer aus den USA und Großbritannien. Der Panzer-Ringtausch soll eigentlich schnelle Lieferungen von schwerem und den Soldaten in der Ukraine vertrautem Kriegsgerät ermöglichen.
Uniper bereitet nach Milliardenverlusten Rechtsstreit mit Gazprom vor
Der wegen verringerter Gaslieferungen aus Russland in Schieflage geratene Energiekonzern Uniper will Schadenersatz von seinem Lieferanten Gazprom haben. "Klar ist, dass wir versuchen werden - zum Wohle unseres Unternehmens -, Gazprom haftbar zu machen", sagte der Vorstandsvorsitzende der Firma, Klaus-Dieter Maubach, in Düsseldorf. Ob es eine Auseinandersetzung vor Schiedsgerichten oder vor öffentlichen Gerichten werde, könne er noch nicht sagen. Uniper bezieht den Großteil seiner Gasimporte aus Russland. Weil inzwischen aber viel weniger kommt als früher, muss Uniper teure Extraenergie am Markt einkaufen, um seine Verträge mit Stadtwerken und Industriefirmen erfüllen zu können. Die Mehrkosten darf Uniper bisher nicht an seine Vertragskunden weiterreichen, deshalb macht der Konzern tiefrote Geschäfte.
Die Kosten für diese Ersatzbeschaffungen bezifferte Maubach bis Ende August auf 4,5 Milliarden Euro. Sollte ein von der Bundesregierung geplantes Umlagesystem, das 90 Prozent der Extrakosten decken soll, erst im Oktober eingeführt werden, würde das Uniper noch einmal 1,7 Milliarden Euro kosten, sagte der Manager. Verträge zwischen Uniper und Gazprom laufen nach seinen Angaben noch bis Mitte der 2030er Jahre. Ein Sonderkündigungsrecht habe seine Firma nicht.
Russland bremst Rücknahme von Gasturbine nach eigenen Angaben nicht
Die Unsicherheit bezüglich weiterer russischer Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 hält unterdessen an: Die in Kanada gewartete Turbine für die Röhre steckt nach Angaben Russlands nicht mangels russischer Importgenehmigung in Deutschland fest. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow widersprach einem entsprechenden Bericht. Peskow bezeichnete den Bericht als "Unsinn". Die dort zitierten Insider lägen falsch. Diese hatten gesagt, Russland habe den Rücktransport der Turbine von ihrem Zwischenstopp in Deutschland noch nicht genehmigt.
Brüssel justiert Sanktionen neu
Die EU lockerte derweil ihrerseits Bestimmungen, die Getreide- und Düngemittelausfuhren Russlands betreffen. Dabei geht es vor allem um die Finanzierung und Versicherung solcher Geschäfte. Gegenüber der russischen Luftfahrt erlaubte die EU "technische Hilfe", um Sicherheitsstandards einzuhalten. Das größte Land der Welt wird durch den Luftverkehr zusammengehalten, im Passagierverkehr werden vor allem westliche Flugzeuge von Airbus und Boeing geflogen. Mit Strafmaßnahmen wurden im neuen Sanktionspaket 57 Personen und Organisationen belegt, darunter der Chef der russischen Rüstungsholding Rostech, Sergej Tschemesow, und die russische Sberbank. Begrenzt wurde vor allem die Einfuhr von russischem Gold.
Istanbul überwacht künftig ukrainische Getreideausfuhren
Bei einem anderen Handelsgut gab es einen Durchbruch: Fast fünf Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs kann die Ukraine dank einer internationalen Vereinbarung Millionen Tonnen Getreide für den Weltmarkt ausführen. Russland und die Ukraine unterzeichneten in Istanbul im selben Raum - aber getrennt voneinander und nacheinander - entsprechende Abkommen unter Vermittlung von UN-Generalsekretär António Guterres und der Türkei. Die Vereinbarung regelt, wie das Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer durch den Bosporus auf den Weltmarkt gelangen kann. Es war das erste Mal seit Kriegsbeginn Ende Februar, dass Kiew und Moskau überhaupt Dokumente unterzeichneten und einen Kompromiss eingingen. Die Ukraine zählt zu den wichtigsten Getreideexporteuren der Welt. Das Abkommen "eröffnet den Weg für umfangreiche kommerzielle Lebensmittelexporte aus drei entscheidenden ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer - Odessa, Tschornomorsk und Juschnyj", sagte Guterres.
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Quelle: ntv.de, lve/AFP/dpa