Der Kriegstag im Überblick NATO-Staaten rüsten auf - Cherson-Besatzer in Panik vor anrückenden Ukrainern
13.10.2022, 20:47 Uhr
Ein Mitglied der ukrainischen Streitkräfte nimmt zurückgelassene russische Munition in der Region Cherson auf.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Die Kämpfe in der Ukraine gehen unvermindert weiter. Beide Kriegsparteien können dabei Erfolge für sich verbuchen. In Cherson scheint sich eine Entscheidungsschlacht anzubahnen. Während Russlands Präsident Putin einen wichtigen Energiepartner umgarnt, will die NATO Fakten schaffen. Der 232. Kriegstag im Überblick.
Russen greifen "essenzielle Infrastruktur" an
Bei den erbitterten Kämpfen in der Ukraine haben beide Seiten militärische Erfolge für sich verbucht. Prorussische Behörden erklärten auf Telegram, eine Gruppe von Soldaten der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hätten "mit Feuerunterstützung der russischen Streitkräfte" die Dörfer Opytine und Iwangrad "befreit". Die Dörfer befinden sich südlich von Bachmut, einer Stadt mit Salzbergbau und Weinproduktion, mit einstmals etwa 70.000 Einwohnern. Bachmut wird seit Wochen von russischen Truppen belagert. Die Ukraine meldete zudem erneute Angriffe auf die Hauptstadt Kiew durch russische Drohnen. Es habe am frühen Morgen "einen weiteren Angriff mit Kamikaze-Drohnen auf essenzielle Infrastruktur" gegeben, erklärte der stellvertretende Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Kyrylo Tymoschenko, ohne weitere Angaben zu machen.
Der ukrainische Versorger Ukrenergo teilte im Laufe des Tages mit, die Energieversorgung sei in "allen ukrainischen Regionen" wieder stabil. Es sei nicht weiter nötig, die Stromversorgung zu rationieren, fügte das Unternehmen hinzu. In den vergangenen Tagen hatte es in zahlreichen ukrainischen Städten und Regionen infolge der russischen Angriffe Stromausfälle gegeben. Russland hatte am Montag damit begonnen, landesweit in der Ukraine Städte zu bombardieren und dabei vor allem auf die Infrastruktur zur Energieversorgung gezielt.
Cherson-Besatzer bitten Moskau um Hilfe
Ein Zeichen für das erfolgreiche Vorrücken der ukrainischen Gegenoffensive im Süden des Landes kam von der von Moskau eingesetzten Verwaltung in Cherson: "Wir haben vorgeschlagen, dass alle Einwohner der Region Cherson, die sich vor (ukrainischen) Angriffen in Sicherheit bringen wollen, sich in andere (russische) Regionen begeben können", erklärte Verwaltungschef Wladimir Saldo bei Telegram. Die Führung in Moskau bat Saldo, bei der Organisation der Evakuierungen zu helfen. Das von Russland für annektiert erklärte Gebiet Cherson im Süden der Ukraine ist seit einigen Wochen das Ziel einer Gegenoffensive der ukrainischen Armee.
Nur Momente nach Saldos Telegram-Appell erklärte allerdings sein Stellvertreter Kirill Stremousow, die Region Cherson werde nicht evakuiert. "Niemand plant, die russischen Truppen aus der Region Cherson abzuziehen." Erst am Wochenende hatte Stremoussow im russischen Staatsfernsehen eingeräumt, seine Verwaltung stelle sich auf "eine schwierige Zeit" ein.
Russischen Angaben zufolge bombardierten ukrainische Truppen zudem ein Wohnhaus im Süden Russlands nahe der ukrainischen Grenze. "Die ukrainischen Streitkräfte haben Belgorod bombardiert", erklärte der Gouverneur der Region, Wjatscheslaw Gladkow, bei Telegram. Die Ukraine wies den Vorwurf umgehend zurück. Präsidentenberater Mychailo Podoljak erklärte, vielmehr habe die russische Armee versucht, die in Grenznähe gelegene, ukrainische Stadt Charkiw zu bombardieren. Am Abend teilte die russische Seite mit, bei ukrainischen Luftangriffen auf ein Dorf in der Region Belgorod sei ein Munitionsdepot explodiert. Nach ersten Erkenntnissen habe es keine Opfer oder Verletzten gegeben.
NATO will Munitions- und Ausrüstungsvorräte aufstocken
Angesichts der neuen Bedrohungslage durch den russischen Angriffskrieg wollen die NATO-Staaten die Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie erhöhen. "Wir haben heute Entscheidungen getroffen, um unsere Munitions- und Ausrüstungsvorräte aufzustocken", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem Verteidigungsministertreffen in Brüssel. Ziel sei es, den NATO-Verteidigungsplanungsprozess zu nutzen, um der Industrie die langfristige Nachfrage zu liefern, die sie zur Steigerung der Produktion benötige. Der Ukraine will die NATO Ausrüstung zur Drohnen-Abwehr zur Verfügung stellen. In Kürze würden Hunderte sogenannte Jammer geliefert, sagte Stoltenberg. Diese könnten dabei helfen, in Russland und im Iran hergestellte Drohnen unwirksam zu machen. Jammer sind elektromagnetische Störsender. Sie senden in der Regel ein Signal aus, das die Funkverbindung zwischen der Drohne und deren Steuerungsgerät stört oder blockiert.
Dem ukrainischen Präsidenten gehen die bisherigen Zusagen noch nicht weit genug. Vor der parlamentarischen Versammlung des Europarats forderte Wolodymyr Selenskyj erneut zusätzliche Mittel für die Luftabwehr, um "den gesamten ukrainischen Himmel" zu schützen. Er sagte, die Ukraine habe "erst zehn Prozent von dem, was wir brauchen".
186 mutmaßliche Kriegsverbrecher ermittelt
Selenskyj rief vor dem Europarat außerdem dazu auf, Russland als "Aggressorstaat" zu benennen und "jeden Aggressor und Schlächter" für die "während dieses Krieges begangenen Verbrechen" vor ein internationales Gericht zu stellen. Nach Angaben des Generalstaatsanwaltes hat die Ukraine bislang 186 mutmaßliche russische Kriegsverbrecher identifiziert. Nur wenige von ihnen befänden sich aber bereits in Haft, teilte Generalstaatsanwalt Andriy Kostin in Den Haag mit. Das Ausmaß der Verbrechen sei immens, sagte er. Es gebe Hinweise, dass seit Ausbruch des Krieges jede Art von Kriegsverbrechen begangen worden sei, wie Folter, Mord, Vergewaltigung oder Vertreibung. In 45 Fällen wurden die Ermittlungen nach Informationen von Kostin abgeschlossen und dem Gericht übergeben, 10 Personen wurden bereits verurteilt."
Dutzende Gefangene ausgetauscht
Kiew und Moskau gaben unterdessen den Austausch von jeweils 20 Gefangenen bekannt. Der Chef des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Jermak, sprach auf Telegram von "Momenten der Freude". Auf ukrainischer Seite seien 14 Soldaten, vier Mitglieder der Landesverteidigung, ein Mitglied der Nationalgarde und ein Angehöriger der Marine freigekommen. Jermak erklärte, die Freigekommenen würden medizinisch untersucht. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte, dass 20 russische Soldaten von ukrainischem Gebiet zurückgekehrt seien. Sie erhielten alle die "erforderliche psychologische und medizinische Hilfe".
Macron betont Redebereitschaft mit Putin: "Wollen keinen Weltkrieg"
Mit deeskalierenden Worten machte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf sich aufmerksam. "Wir wollen keinen Weltkrieg", schrieb Macron in einer englischsprachigen Twitternachricht. "Wir helfen der Ukraine dabei, ihren Boden zu verteidigen, niemals dabei, Russland anzugreifen. Wladimir Putin muss diesen Krieg beenden und die territoriale Integrität der Ukraine respektieren." Zugleich erläuterte Macron die von ihm am Vorabend angekündigten weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine: "Caesar-Haubitzen zur Durchführung der Gegenoffensive, Radare, Systeme und Raketen zum Schutz vor Luftangriffen, gepanzerte Fahrzeuge und Ausbildung: Wir werden den ukrainischen Widerstand weiterhin unterstützen und unsere militärische Hilfe verstärken."
Putin trifft Erdogan
Der Adressat von Macrons Worten traf sich derweil am Rande eines Regionalgipfels im kasachischen Astana mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dabei ging es um weitere mögliche Kooperationen beider Länder im Bereich der Energie sowie die Ausfuhr von Getreide und Düngemittel aus Russland. Die USA und die EU hatten zuletzt den Druck auf die Türkei erhöht, sich den Sanktionen des Westens gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine anzuschließen. Erdogan führt hingegen an, die Türkei könne als neutraler Akteur mögliche Waffenstillstandsgespräche zwischen Kiew und Moskau erwirken. Das Land profitiert aber auch wirtschaftlich stark von dem Konflikt: In den vergangenen Monaten haben sich die türkischen Exporte nach Russland nahezu verdoppelt.
Russischen Angaben zufolge unterhielten sich die beiden Staatschefs allerdings nicht über eine Lösung des Ukraine-Konflikts. "Eine Einigung zwischen Russland und der Ukraine war kein Thema", zitierte die staatliche Nachrichtenagentur RIA den Sprecher des russischen Präsidialamtes, Dmitri Peskow.
Kreml signalisiert wiederholt Verhandlungsbereitschaft
Dass Moskau zum Reden bereit ist, machte Peskow aber an anderer Stelle noch einmal deutlich. Er nannte einer russischen Zeitung zufolge Verhandlungen als Alternative, um die Ziele seines Landes in der Ukraine zu erreichen. Zwar hätten diese sich nicht geändert, zitierte "Iswestia" Peskow. "Allerdings haben wir wiederholt darauf hingewiesen, dass wir Verhandlungen offen gegenüberstehen, um unsere Ziele zu erreichen." Außenminister Sergej Lawrow sagte der Zeitung ebenfalls, man sei bereit, "spezifische ernsthafte Vorschläge" zu prüfen. Lawrow hatte bereits am Dienstag auf die Möglichkeit von Verhandlungen hingewiesen. Zwar hat die Regierung in Moskau immer erklärt, sie sei zu Gesprächen bereit. Die Häufung der Hinweise in einer Woche ist jedoch ungewöhnlich.
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Quelle: ntv.de, fzö/dpa/AFP/rts