Fünf Erkenntnisse aus Washington NATO macht sich "trumpfester" und spinnt Stroh zu Gold
12.07.2024, 05:02 Uhr Artikel anhören
In Washington saßen erstmals auch die NATO-Neumitglieder Schweden und Finnland mit am Tisch.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Zwar waren viele Details vorher durchgesickert, aber auf einem Gipfel kondensieren sich die Entwicklungen in kurzer Zeit. Wegen des Beitritts von Finnland und Schweden traf sich die NATO drei Tage lang und so mitgliederreich wie nie. Das weltweit größte Verteidigungsbündnis vereint nun rund die Hälfte der globalen Wirtschaftskraft auf sich. Das alles dominierende Thema war der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und die Bedrohung für Europa. Fünf Erkenntnisse vom Jubiläumstreffen in Washington, wo die NATO vor 75 Jahren gegründet wurde.
NATO baut an Festung Europa
In den vergangenen Jahren hat sich die NATO an die neue geopolitische Realität angepasst, zusätzlich angetrieben von Russlands Angriffskrieg. Der Kommandeur für die US-Streitkräfte nannte die Veränderungen im Bündnis einen "riesigen Umschwung". Im Ernstfall kann die NATO nun für die Verteidigung Europas innerhalb von 30 bis 100 Tagen eine halbe Million Soldaten in den Einsatz bringen. Dazu kommen Luftwaffe, Marine und mehr. Es gibt detaillierte Einsatzpläne für verschiedene Regionen und Szenarien, die NATO und das Militär der Mitglieder führen bereits auch entsprechende Manöver durch. Abschreckung ist das oberste Gebot, es soll gar nicht erst zum Verteidigungsfall kommen. Ab 2026 sollen in Deutschland wieder US-Mittelstreckenraketen stationiert werden.
Der Ukraine macht das Bündnis die größtmögliche informelle Zusicherung einer Mitgliedschaft. Der Weg dorthin sei "unumkehrbar" heißt es in der Abschlusserklärung. Mehr geht möglicherweise schon rein praktisch nicht: Ein bedingungsloser Eintritt Kiews mitten im Krieg könnte einen NATO-Einsatz und damit die direkte Konfrontation mit Russland bedeuten. Die will das Bündnis unbedingt verhindern. Dies betonte beim Gipfel auch noch einmal US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. Für die ums Überleben kämpfende Ukraine ist die Zusage zunächst einmal: gar nichts.
Die Bezeichnung hatte schon vor Gipfelbeginn bei den Bündnisstaaten die Runde gemacht und offensichtlich für viele Potenzial: angenehm entschieden im Klang, in der Aussagekraft mit Blick auf konkrete Schritte aber hohl. Sarkastisch ausgedrückt: So hat man's gern, wenn man nichts entscheiden will, es sich aber so anhören soll, als hätte man doch etwas entschieden. Anders als im vergangenen Jahr in Vilnius hat in dieser Woche in Washington Wolodymyr Selenskyj nicht auf den Tisch gehauen und sich beschwert über die fehlende Einladung zum Aufnahmeprozess ins Bündnis. Der Präsident der Ukraine hat sich an die Spielregeln gewöhnt. Aber wäre es vielleicht auch für die NATO besser, er hätte es nicht getan? Statt eines direkten Beitritts haben die EU, Deutschland und mehr als 20 weitere Staaten bilaterale militärische Unterstützungsabkommen mit der Ukraine geschlossen, was die NATO unter dem Namen "Ukraine Compact" zusammenfasst.
Pressestelle spinnt Stroh zu Gold
Zugegeben, diese Entscheidung war schon eine Nachricht: Erstmals seit Ende des Kalten Krieges wollen die USA wieder Mittelstreckenraketen in Deutschland stationieren, die Russland ins Visier nehmen können. Geht es aber um die Belange der Ukraine, dann pumpt die PR-Maschinerie des Bündnisses auch das zu einer Nachricht auf, was eigentlich eine Nullnummer ist. Der "unumkehrbare Weg" ist das eine, das zusätzliche System der wertvollen Flugabwehrwaffe Patriot, das US-Präsident Joe Biden beim 75-Jahre-Jubiläumsfestakt "ankündigte", das andere. Dies ist ein alter Hut, seit Monaten bekannt und im ukrainischen Dispositiv fest eingeplant.
Fünf strategische Luftverteidigungssysteme seien damit zusammengekommen, lobt Biden die westliche Hilfe und lässt unter den Tisch fallen: Drei davon sind schon seit Langem in der Ukraine in Gebrauch. Und ganz offensichtlich zu wenig, wie auch der mörderisch-erfolgreiche Angriff auf ein Kinderkrankenhaus am Anfang der Woche gezeigt hat. So menschenverachtend war diese Attacke, dass ihre Verurteilung es bis in die Abschlusserklärung geschafft hat. Mehr Patriots indes, um das Land vor Putins stumpfer Gewalt aus der Luft zu schützen, gibt es von der NATO nicht.
Niemand traut sich an die Zwei-Prozent-Klausel
Mehr gemeinsame Beschaffung von Militärmaterial vonseiten der NATO-Partner soll es geben. Das Bündnis bekräftigt, von Russland gehe die größte und unmittelbarste Sicherheitsbedrohung aus. Auch in vergangenen Jahren wurde der Kreml so gesehen, nur in anderen Jahren hatte er die russische Wirtschaft nicht auf Krieg umgestellt und sich laut westlichen Analysen angeschickt, mindestens 7 Prozent der Wirtschaftsleistung in die eigene Kampfkraft zu investieren. Die NATO verlangt von ihren Mitgliedern bislang jährliche Rüstungsausgaben von 2 Prozent des Bruttosozialprodukts als Minimum.
Die Bündnismitglieder in Europa kommen in diesem Jahr zwar erstmals gemeinsam auf diesen Anteil, aber 9 der 32 Mitgliedsstaaten bleiben darunter. Müsste man da vielleicht auch im Bündnis noch eine Schippe drauf packen, um etwas weiter in die Nähe dessen zu kommen, was der Gegner so treibt? Bei vielen Expertinnen und Experten bestehen über diese Notwendigkeit keine Zweifel. Doch auf die Gipfel-Agenda hat es die Zwei-Prozent-Klausel nicht geschafft, aus der man vorausschauend möglichst bald eine Drei-Prozent-Klausel machen könnte. Oder vielleicht sollte? Zu heikel, zu kontrovers ist das Thema Kosten und auch Kosten(ver)teilung in der NATO. Das Zwei-Prozent-Fass in Washington aufzumachen, das wollte niemand forcieren.
Bündnis verschärft Ton gegenüber China
Eine neue geopolitische Ausrichtung sah US-Außenminister Anthony Blinken und sprach über die Zusammenarbeit zwischen Russland, China, Iran und Nordkorea in Rüstungsangelegenheiten. Er war nicht der Einzige. Laut den USA wäre Moskaus Krieg in der Ukraine ohne Peking kaum möglich. Praktisch alles, was die russische Rüstungsindustrie zur Herstellung ihrer Waffen braucht, komme von dort. Blinken schlägt Sanktionen vor, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte bestimmt, die Unterstützung durch China sei nicht viel anders als direkte Waffenlieferungen an Russland.
In ihrer Abschlusserklärung bezeichnen die 32 Mitgliedsländer das Land als "entscheidenden Helfer" Russlands im Ukraine-Krieg. Ein bemerkenswerter Schritt, schließlich ist China sowohl für die USA als auch Europa ein immens wichtiger Handelspartner. Peking reagierte empört.
Trump ist omnipräsent
US-Präsident Joe Biden war der Gastgeber, aber Donald Trump, der kommende Woche von den Republikanern als Kandidat für die Wahl im November abgesegnet werden wird, war trotzdem allerorten. Bei den Entscheidungen steht zwischen den Zeilen die Frage, was passiert, sollte Trump erneut ins Weiße Haus einziehen. Der große NATO-Skeptiker könnte die Ukraine-Hilfen der USA blockieren oder wesentlich mehr von den Verbündeten fordern. Schließlich sind die Vereinigten Staaten mit Abstand das wichtigste Mitglied der Militärallianz.
Washington gibt bereits jetzt mehr Kontrolle aus der Hand, damit die NATO "trumpfester" wird: Statt von den USA übernimmt das Bündnis "sehr bald" die Ausbildung und Koordination der Ukraine-Hilfen in einer neuen Kommandozentrale in Wiesbaden. Dazu kommt die Zusage für Waffenlieferungen im Wert von 40 Milliarden US-Dollar im kommenden Jahr. Mit Hilfe der "Ukraine Compact"-Verträge soll die Ukraine und ihr Militär "bis in die 2030er" Jahre hinein gestärkt werden. Mögliche Volten aus dem Weißen Haus müssen so nicht unausweichlich und sofort auf Kosten europäischer Sicherheit gehen.
Quelle: ntv.de