Interview mit Gustav Gressel "Die kriegsentscheidenden Waffen muss die Ukraine sich selbst basteln"
30.11.2023, 15:52 Uhr Artikel anhören
Drohnen-Piloten des Sudoplatov-Bataillons trainieren in der Region Saporischschja für ihren Einsatz gegen die Ukraine.
(Foto: IMAGO/SNA)
In der Ukraine geht es seit Wochen kaum vor, kaum zurück - Drohnen und Störsender lassen keinen der beiden Gegner in die Offensive kommen. Entscheidend ist, wer jetzt schneller eine Waffe entwickelt, die diese Hindernisse umgehen kann, erklärt Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations im Gespräch mit ntv.de. Doch der Westen schafft es nicht einmal, die Ukraine mit genügend Munition für die aktuellen Waffen auszustatten.
ntv.de: Herr Gressel, wie kommt es zustande, dass die Ukraine bei der Munition nie aus dem Vollen schöpfen kann?
Gustav Gressel: Was Europa derzeit bei der Unterstützung bremst, sind die Produktionskapazitäten, nicht der Geldmangel. Die meiste Munition für Artillerie wird zwar durch die USA geliefert, aber nicht in den USA hergestellt. Von den 650.000 Schuss Munition, die in Europa 2023 produziert werden, wird das meiste von den USA bezahlt. Ein Großteil der europäischen Munitionsfirmen hat Lieferverträge mit dem Pentagon und stellt in dessen Auftrag Munition für die Ukraine bereit. Diese Lieferverträge buchen die Firmen komplett aus, mehr können die nicht leisten.
Was würde passieren, wenn in den kommenden Monaten der US-Wahlkampf losgeht und das Weiße Haus womöglich seine Unterstützung zurückfährt?
Wenn die USA wirklich aus dem Rennen raus wären, dann würde die Europäische Kommission als Finanzierer einspringen. Die hat noch genügend Geld, denn der ursprüngliche Plan der Kommission war, zusätzlich zu den USA selbst eine Million Schuss produzieren zu lassen.
Das hatte sie mal angekündigt. Aber mit welchen Produktionskapazitäten wollte die EU das eigentlich tun, wenn die US-Aufräge die europäischen Firmen schon auslasten?
Eben, die Kapazitäten sind gar nicht im nötigen Ausmaß vorhanden, darum konnte das Geld kaum investiert werden und stünde zur Verfügung, wenn die USA ausfallen würden. Mit Munition ausschließlich aus der EU läge die Ukraine dann aber am Existenzminimum. Sie bekäme das Nötige, um gerade zu überleben. Und Europa müsste sich wirklich anstrengen, um das wenigstens zu gewährleisten. Da dürfte nichts schiefgehen, keine Umweltverträglichkeitsprüfung oder sonstiger Blödsinn, den sich irgendwelche Bürokraten einfallen lassen. Das würde sehr sportlich.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.
(Foto: seesaw-foto.com)
Aber auch wenn die USA mit der bisherigen Kraft dabei bleiben: Ist die Hilfe des Westens nicht am Ende noch immer zu wenig, zu spät?
Die Langsamkeit ist existenzgefährdend, weil sich in den USA, mittelfristig aber auch in Frankreich oder bei uns die Machtverhältnisse und damit die Haltung zur Ukraine ändern können. Hingegen sind die Nachschubmöglichkeiten auf russischer Seite stabil und gut. Aus Nordkorea dürfte genügend Munition kommen. Die Ukrainer melden auch immer öfter, dass sie chinesische Munition in russischen Gräben erbeutet haben. Die Quantität kann ich nicht beziffern, es gibt nur sehr grobe Schätzungen. Aber auf jeden Fall ermöglicht es den Russen, anzugreifen und wieder relativ viel zu schießen.
Von Deutschland bekommt die Ukraine nun nochmal Patriot-Systeme. Klar, alles hilft, aber machen ein paar Flugabwehrsysteme einen Unterschied bei dieser enormen Fläche?
Patriot wird wahrscheinlich um große Städte herum eingesetzt und auch, um Luftwaffenbasen zu schützen. Bald erhält die Ukraine F16-Flieger. Man muss davon ausgehen, dass die Russen versuchen werden, diese schon auf ihren Basen auszuschalten. Patriot-Systeme werden, so schätze ich, an Luftwaffenstützpunkten zum Einsatz kommen, auf denen F16 stationiert sind.
Wie wird man die Kampfjets einsetzen?
Die F16-Jets sind wichtig für die Ukraine, um die russische Luftwaffe fernzuhalten vom eigenen Staatsgebiet. Die Ukraine ist so groß, sie lässt sich nicht flächendeckend mit bodengestützter Fliegerabwehr sichern. Da braucht es einfach Abfangjäger.
Würde das bedeuten, dass es in diesem Winter für die Ukraine einfacher werden könnte, ihre Infrastruktur vor russischen Angriffen zu schützen? Im vergangenen Winter hatte sie die F16 ja noch nicht.
Jein. Die Infrastruktur greifen die Russen größtenteils mit Drohnen an. Dagegen ist ein Kampfjet nicht das optimale Mittel, weil der im Vergleich zur Drohne viel zu schnell fliegt. Da gab es in der Vergangenheit schon einige Flugunfälle mit den MiG29-Jets, die mit der von ihnen zerstörten Drohne dann kollidiert sind. Der Geschwindigkeitsunterschied zwischen Abfangjäger und Drohne ist so hoch, dass der Jet, wenn er nah genug an der Drohne ist, um zu schießen, quasi schon in ihr drin sitzt.
Womit lassen sich die Drohnen besser abwehren?
Auf diese Drohnen schießt man eher mit Kanonen, zum Teil stammen die noch aus den 50er Jahren. Das funktioniert, wenn man die alten Waffen mit einem modernen Wärmebildgerät, einem lasergestützten Entfernungsmesser und einem Feuerleitrechner aufrüstet. Das basteln sich die Ukrainer alles selbst und dann treffen die ganz gut.
Kommt die Ukraine so auf Augenhöhe mit dem, was Russland an Angriffswaffen in diesem Winter auffährt?
Jein. Das Problem ist erstens die Quantität. Letztes Jahr haben die Russen iranische Drohnen eingesetzt, mittlerweile bauen sie die selbst. Und die Produktionszahlen steigen. Auch wenn ein hoher Prozentsatz abgeschossen wird, gelingt es den Russen womöglich irgendwann einfach, die Ukraine zu übersättigen, also mehr Drohnen zu schicken, als die Ukrainer abschießen können. Das zweite Problem liegt im Bereich der elektronischen Kampfführung.
Bekommt die Ukraine da Unterstützung?
In diesem Bereich hält sich der Westen sehr zurück. Viele Staaten erlauben ihren Rüstungsfirmen nicht, das beste Gerät an die Ukraine zu liefern. Aus Angst, dass es in russische Hände fallen könnte und die sich etwas abschauen. Peilgeräte, die Deutschland oder die USA der Ukraine liefern, stammen meistens noch aus dem Kalten Krieg. Wenn die aber moderne Störsender orten sollen, kriegen sie Probleme. Die beste industrielle Kooperation bezüglich Drohnenabwehr läuft derzeit mit Tschechien. Aber das Land allein kann nicht genug zur Verfügung stellen, um die Infrastruktur überall zu schützen.
Wenn Sie sagen "elektronische Kampfführung", dann geht es darum, Waffensysteme auf russischer Seite zu orten?
Mittel elektronischer Kampfführung sind zum einen Störsender, mit denen die Ukraine russische Kommandosignale an ihre Drohnen unterbricht. Zweitens lassen sich damit auch russische Störsender orten, russische Drohnen, Steuerstationen. So weiß die Artillerie genau, wo sie hinschießen soll.
Wenn man diese Mittel hat.
Die aktuellen Schwierigkeiten der Ukraine, an Waffen und Munition zu kommen, bestärken Putin in seiner Annahme, dass er einen langen Krieg gewinnen wird. In dem Sinne ist ein Waffenstillstand, den manche erhoffen, derzeit weiter weg, als er es jemals war. Putin sähe darin keinerlei Nutzen. Die Ukraine hat keine andere Chance, als unter den widrigen aktuellen Bedingungen zu kämpfen.
Es gibt Theorien, dass die lückenhafte Unterstützung des Westens weniger auf Unvermögen fußt als auf Unwillen. Die "Bild"-Zeitung schrieb von einem "Plan" des Westens, Selenskyj so verhandlungsbereit zu machen. Will der Westen der Ukraine zum Überleben, aber nicht zum Siegen verhelfen?
Ich würde das nicht einen "Plan" nennen, weil es nicht besonders planvoll war, was im Westen passiert ist. Aber es gab und gibt noch immer hier diese Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges, auf einen Waffenstillstand, auf die Einsicht Putins, dass er den Krieg nicht gewinnen kann. Dieses ganze Wunschdenken hat erst einmal den Blick auf die nüchternen Tatsachen vernebelt. Und es stimmt schon, dass in Deutschland und in den USA von Anfang an starke Vorsicht herrschte. Hinter verschlossenen Türen sprach man da von einem "katastrophalen Sieg der Ukraine".
Weil Russlands Niederlage Putin so gedemütigt hätte?
Ein zu schneller Sieg der Ukraine oder eine totale Niederlage Russlands hätten in den Augen mancher Regierungen den Atomkrieg bedeutet. Gerade im letzten Herbst, nach der erfolgreichen Gegenoffensive der Ukraine musste erheblich Druck aufgebaut werden auf Washington und Berlin, mit Waffenlieferungen weiterzumachen. Keine amerikanische F16 ist jemals zugesagt worden. Und selbst zur Exporterlaubnis für andere Staaten mussten die Amerikaner genötigt werden. Daraus ergibt sich natürlich, dass die Ukraine zu nichts mehr in der Lage ist, als die Front zu halten. Diese Linie gibt in den USA Jake Sullivan aus, Bidens Sicherheitsberater, und in Berlin das Kanzleramt.
Sehen Sie dann auch nicht, dass jetzt eine Initiative gestartet wird, um in die Wege zu leiten, was die Ukraine bräuchte, um im nächsten Frühjahr nochmal in die Offensive zu gehen?
Das Problem: Der technische Fortschritt ist auf der russischen Seite angelangt. Die Russen werden beim Drohneneinsatz immer besser. Die Lücke, die anfangs zwischen ihnen und den mengenmäßig schwächeren aber technisch überlegenen Ukrainern klaffte, die schließt sich immer mehr. Auch im Artilleriekrieg haben die Russen aufgeholt.
Wie einschneidend sind die Folgen?
Mittlerweile ist es nicht mehr so, dass man eine ukrainische Offensive einfach durch die Lieferung von mehr Abrams-Panzern, Bradley, Leopard und Marder beflügeln könnte. Das wäre Ende 2022 noch möglich gewesen. Hätte man noch vor dem letzten Kriegswinter geliefert, dann wäre das noch der Fall gewesen. Jetzt reicht das allein nicht mehr. Jetzt muss man den Kampf der verbundenen Waffen mit einer sehr engen Integration von elektronischer Kampfführung und Drohnen neu denken.
Sind die Entwickler denn da dran? Wird das getan?
Daran experimentieren jetzt sowohl die Russen als auch die Ukrainer herum. Wer das als erster von den beiden hinkriegt, kommt wieder in die Offensive und wird den Krieg entweder gewinnen oder mindestens signifikante Vorteile haben. Wer das aber von beiden sein wird, ist zurzeit noch offen. Die Ukrainer haben mehr oder weniger aufgegeben, dass da aus dem Westen irgendein vernünftiger Impuls für sie kommt. Das müssen sie selber machen.
Wie sollen die Ukrainer das denn schaffen?
Sie fahren gerade ihre Rüstungsindustrie hoch, so dezentralisiert, dass, wenn einzelne Werke getroffen werden, nicht die Produktion und nicht die technischen Details für ganze Produktstraßen wegfallen. Vieles wollen sie in Zukunft selbst herstellen, zum Teil mit industrieller Kooperation aus dem Westen. Deshalb geht Rheinmetall runter in die Ukraine, General Dynamics auch. Die Ukrainer haben realisiert, dass eine industrielle Offensive im Westen nicht kommen wird. Die kriegsentscheidende Generation von Kampf- und Schützenpanzern, von Landfahrzeugen und Artilleriesystemen, Fliegerabwehr und Mitteln der elektronischen Kampfführung werden sie sich selber basteln müssen. Bis diese Geräte aber vom Band laufen, muss die Ukraine eine enorm schwere Durststrecke überbrücken.
Und der Westen hat den Eindruck, er muss sich um die Entwicklung der nächsten Waffengeneration nicht kümmern? Nicht einmal im Interesse eigener Wehrhaftigkeit?
Nötig wäre das, wir tun es bislang aber nicht. Wie lange hat Deutschland gebraucht, um 18 Panzerhaubitzen nachzubestellen? Nun dauert es nochmal zwei Jahre, bis die produziert werden. Und auf deutschen Truppenübungsplätzen dürfen ukrainische Drohnen nicht aufsteigen, weil sie hier keine zivile Fluggenehmigung bekommen. Das heißt, wenn die Ukrainer der Bundeswehr beibringen wollen, wie Drohnenkrieg funktioniert, dann dürfen sie das gar nicht.
Mit Gustav Gressel sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de