Reisners Blick auf die Front "Es ist eine unbarmherzige Lage für die Ukrainer am Dnipro"
27.11.2023, 19:24 Uhr Artikel anhören
Die Soldaten können sich bei den eisigen Temperaturen an der Front nur schwer warm halten.
(Foto: REUTERS)
Mit voller Wucht bricht in der Ukraine der Winter über das Land herein. Für die ukrainischen Soldaten sei die Situation dramatisch, da ihre Stellungen noch nicht winterfest sind, sagt Oberst Markus Reisner im Interview. "Sie sind dieser nassen und kalten Witterung nahezu ungeschützt ausgeliefert." Die Ukraine müsse daher ihre Kräfte schnell rotieren, was wiederum zu Verlusten führe, weil die Russen sie dabei angreifen.
ntv.de: Herr Reisner, der Winter ist mit heftigen Stürmen, Schnee und Frost in der Ukraine eingezogen. Sind die gefrorenen Böden für die Truppen an der Front eine willkommene Veränderung zu den Schlammmassen der Rasputiza oder bringen sie neue Herausforderungen mit sich?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Die ersten Schneefälle markieren zwar den Übergang zum Winter, aber noch nicht das Ende der Rasputiza. Über mehrere Wochen wird es deshalb eine Mischung zwischen sehr kaltem Wetter mit Schneestürmen und immer wieder kurzen Perioden geben, wo es immer noch schlammig, aber sehr kalt ist. Diese Übergangszeit bedeutet nichts Gutes, sondern stellt für die Soldaten noch eine zusätzliche Herausforderung dar, weil sie sich erst auf diese kalten Bedingungen einstellen müssen. Bis der Boden dann wirklich gefroren ist und dem Schlamm weicht, dauert es aber noch ein wenig.
Was bedeuten die neuen Wetterbedingungen für die Truppen an der Front?
Zunächst bedeutet es für die ukrainische Seite, dass die Soldaten den Winter dort, wo sie nach der Offensive liegen geblieben sind, in Empfang nehmen müssen. Vor allem im Zentralraum vor Melitopol hat die Offensive zwar taktische Erfolge erzielt, indem es den Ukrainern zwar gelungen ist, in die erste Verteidigungslinie der Russen einzudringen, aber man hat nicht Tokmak gewonnen. Im offenen Gelände vor der Stadt waren sie in den letzten Wochen unter Dauerbeschuss durch russische Artillerie und First-Person-View-Drohnen, und das heißt, sie konnten sich nur sehr eingeschränkt für den Winter vorbereiten und ihre Stellungen winterfest machen. Die russischen Soldaten auf der anderen Seite haben den Vorteil, dass sie ihre Verteidigungsstellungen bereits über Monate eingerichtet haben und deswegen einen großen Vorteil haben, was die Witterung betrifft. Für die Ukrainer ist die Nässe und Kälte noch zu einer zusätzlichen Herausforderung geworden.
Was hätte die Ukraine idealerweise in den letzten Wochen machen müssen, um sich gut auf den Wintereinbruch vorzubereiten?
Das Ziel der Offensive im Zentralraum war, die Stadt Tokmak zu erreichen, um dort Winterquartiere aufzubauen. Das ist aber nicht gelungen. Stattdessen liegen sie jetzt in den zerstörten Gebieten zwischen Robotyne und Werbowe, nördlich von Tokmak. Das bedeutet, dass sie dieser nassen und kalten Witterung nahezu ungeschützt ausgeliefert sind. Die Ukrainer versuchen jetzt mit allen Anstrengungen entsprechende Vorbereitungen zu treffen, um das gewonnene Gelände auch während des Winters zu halten.
Wie kann man sich winterfeste Stellungen vorstellen?
Es geht vor allem darum, dass die Soldaten sich wärmen müssen. Das kann man also mit zweierlei Dingen machen: Zum einen durch regelmäßige Rotationen. Man kann sehr gut auf Videos sehen, dass die ukrainische Armee versucht, immer wieder ihre Truppen auszuwechseln, indem sie mit ein, zwei gepanzerten Fahrzeugen vorstößt, schnell neue Soldaten absitzen lässt, um die anderen, die bereits seit mehreren Tagen in den Stellungen waren, aufzunehmen. Das ist die eine Möglichkeit, die Soldaten ins Trockene zu bringen, wo sie sich wärmen und Verwundete versorgt werden können. Das ist aber immer mit Verlusten verknüpft, weil die Russen genau auf diese Situationen warten und dann gezielt mit Artillerie und den First-Person-View-Drohnen angreifen.
Und die andere?
Die andere Möglichkeit ist, vor Ort winterfeste Stellungen zu bauen. Dafür muss man tief in die Erde hinein, stabile Unterkünfte ausheben und diese vor allem drainagieren, also schauen, dass das Wasser abgeleitet werden kann. Das Ganze muss man zudem gedeckt bauen, das heißt, man braucht zum Beispiel starke Baumstämme, die man über diese Stellungen legt, um gegen den Artilleriebeschuss und den Einsatz von First-Person-View-Drohnen geschützt zu sein. Zusätzlich muss man die Stellungen noch tarnen. Man braucht auch entsprechende Einrichtungen für eine gewisse Basishygiene. Dann hat man tatsächlich die Möglichkeit, ein Quartier winterfest zu machen, wo man über mehrere Wochen und Monate dem Gegenüber zumindest nicht schutzlos ausgeliefert ist.
Gibt es für die Soldaten auch eine Möglichkeit eine Art Wärmequelle in den Bunkern zu haben?
Sie haben oft kleinere Öfen. Das Dilemma dabei ist, dass sie permanent unter Beobachtung stehen, im sogenannten gläsernen Gefechtsfeld. Schon die Baumaßnahmen werden beobachtet und möglicherweise bekämpft, vor allem mit First-Person-Drohnen. Die Tragik dabei ist, dass auch die kleinste Rauchentwicklung gesehen wird. Wenn also zum Beispiel irgendwo ein kleiner Rauchfang aus einem Bunker herausragt, wird das oft erkannt und kann beschossen werden. Es gibt Videos, in denen zum Teil Drohnen ganz gezielt Handgranaten in diese Rauchfänge hineingeworfen haben, die dann in den Bunker detoniert sind.
Wie lange können die Soldaten überhaupt in so einer Kälte ohne Öfen oder schon fertige Schutzbunker durchhalten?
Sehr, sehr kurz. Die Witterung beeinflusst die Kampfkraft stark und der Kampfwert nimmt sehr rasch ab. Wenn die Ukrainer deshalb nicht in der Lage sind, entsprechende Stellungen mit Wärmeöfen einzurichten, müssen sie die Soldaten rasch rotieren und das versuchen sie auch, was aber mit Verlusten verknüpft ist. Das ist auch besonders prekär bei Krynky am Dnipro, weil sie dort versuchen, diese Rotationen mit Schiffen und Schlauchbooten durchzuführen.
Bei Krynky ist einer der Brückenköpfe, die die Ukraine am südlichen Ufer des Dnipro errichtet hat, richtig?
Ja, und seit letzter Woche gibt es von dort die ersten Videos, wo die Russen bei Tag und Nacht mit mit Wärmebildkameras ausgestatteten Drohnen diese Rotationen versuchen zu unterbinden. Sie können sich vorstellen, was es bedeutet, bei diesen Temperaturen nach dem Treffer auf ein Boot ins Wasser zu stürzen. Die Soldaten sind durchnässt und wenn sie dann nicht sofort gewärmt werden, kann das unmittelbar zu den schwersten Erfrierungen oder dem Tod führen. Auch andersherum ist das der Fall: In der Kälte versuchen die Ukrainer den Fluss zum Südufer zu überqueren. Wenn sie Glück haben, kommen Sie drüben im Sumpfgebiet an. Dann steigen sie aus, versuchen rasch Distanz zum Boot zu gewinnen, treten vielleicht in eine Pfütze oder fallen hinein, sind nass und werden vielleicht durch den beginnenden Artilleriebeschuss verletzt. Das ist eine unbarmherzige Situation für die ukrainischen Streitkräfte am Dnipro. Es gibt unbestätigte Meldungen von russischer Seite, dass sie ukrainische Soldaten gefangen genommen hätten, von denen alle Erfrierungen aufgewiesen haben. Das ist nicht bestätigt, aber ein Indiz genau in diese Richtung. Die Situation in Krynky ist deshalb schlimmer als zum Teil in Awdijiwka, denn dort können sich die Soldaten zumindest in zerstörten Gebäuden halbwegs wärmen, was in Krynky für die ukrainischen Marines fast unmöglich ist.
Dazu kommen jetzt noch die schweren Drohnenangriffe im ganzen Land. Am Wochenende hat Russland die schwerste Drohnenattacke seit Kriegsbeginn auf die Ukraine gestartet. Was bezweckt Russland damit, beziehungsweise welche Taktik steckt dahinter?
Da muss man zwischen verschiedenen Drohnenangriffen unterscheiden: Auf der taktischen Ebene setzt Russland vor allem First-Personen-View-Drohnen ein, auf der operativen Ebene zum Teil Lancet-Drohnen, die weit hinter der Frontlinie zum Beispiel zur gezielten Zerstörung von ukrainischen Kampfflugzeugen genutzt werden. Auf der strategischen Ebene ist es der Einsatz von iranischen Drohnen, gepaart mit russischen Marschflugkörpern auf die kritische Infrastruktur der Ukraine. Was auffällt, ist, dass es in den letzten Wochen zwar fast täglich zu Einsätzen von iranischen Drohnen gekommen ist, bis zu einem Dutzend, aber meistens nur ein bis zwei Marschflugkörpern. Das ist ein klares Indiz dafür, dass die russische Seite herauszufinden versucht, wie die ukrainische Flugabwehr aufgestellt ist, um dann massiert zuzuschlagen. Einen ersten Vorgeschmack davon haben wir jetzt in den letzten Tagen gesehen. Das war dieser massive Angriff mit iranischen Drohnen im Raum Kiew, wo Russland versucht hat, eine Übersättigung der Flugabwehr zu erreichen.
Wie machen sie das?
Die ukrainische Fliegerabwehr verschießt dann alle verfügbaren Raketen, was an Munition des Flugplatzes vorhanden ist, wodurch die Russen mit Marschflugkörpern dann gezielt einzelne Ziele angreifen. Einerseits testen sie so die ukrainische Flugabwehr und greifen dann massiert an.
Die Russen suchen also die Lücke in der Luftverteidigung und versuchen dann mit Drohnen Terror in der Zivilbevölkerung zu machen und die Infrastruktur anzugreifen?
Genau, es kommen also zwei Aspekte zusammen. Zum einen die täglichen Angriffe, meistens nachts, damit die Bevölkerung nicht zur Ruhe kommt und ständig Schutzräume aufsuchen muss. Zum anderen der Versuch - nach einer gewissen Übersättigung der ukrainischen Flieger - gezielte Angriffe mit Marschflugkörpern oder iranischen Drohnen auf Objekte der kritischen Infrastruktur.
Wie schlägt sich die Ukraine in ihrer Abwehr momentan?
Momentan noch gut. Sie haben eine Abschussrate zwischen 80 und 90 Prozent, was sehr hoch ist, auch wenn das Dilemma besteht, dass die restlichen 10 bis 20 Prozent, die durchstoßen und Ziele treffen, natürlich Zerstörungen verursachen. Die Ukraine hat aber zwei Dinge getan, um sich vorzubereiten: Zum einen hat sie versucht, die kritische Infrastruktur wieder instand zu setzen, nach den massiven Verlusten im vergangenen Winter. Zumindest 10 bis 15 Prozent der kritischen Infrastruktur haben sie wieder zusammengeflickt. Das heißt, etwa die Hälfte der städtischen Infrastruktur und Stromversorgung ist einsatzbereit.
Und das zweite?
Das zweite ist, dass Sie versucht haben, über die letzten Monate zusätzliche Flugabwehr in Stellung zu bringen. Da machen die Lieferungen des Westens einen entscheidenden Unterschied, wie jetzt zum Beispiel die Ankündigung der deutschen Bundesregierung, ein weiteres Patriot-System bzw. Iris-T zu liefern. Die kann die Ukraine gezielt um die Städte einsetzen. Die Frage ist, wenn diese Angriffe in der Intensität, wie wir das vor kurzem erlebt haben, auf dem gleichen Niveau bleiben, ist dann genug Munition über die nächsten Wochen und Monate vorhanden, um all diesen russischen Angriffen etwas entgegensetzen zu können? Oder kommt es zu einem Kulminationspunkt, wo nicht mehr ausreichend Munition vorhanden ist, um diese intensiven russischen Luftangriffe entsprechend abwehren zu können? Das wird sich in den nächsten Monaten zeigen.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de