Militärexperte zum Ukraine-Krieg "Erst stand Putin unter Schock, dann der Westen"
25.11.2023, 11:11 Uhr Artikel anhören
Auf einigen Bildern - hier eines vom 2. März 2022 - scheint Putin sich am Tisch festzuhalten - um nicht zu zittern? Anders Puck Nielsen meint, Putin habe eine Art Nervenzusammenbruch erlitten, als klar wurde, dass sein Blitzkrieg gegen die Ukraine scheitert.
(Foto: picture alliance/dpa/Russian President Press Office)
Russlands Krieg gegen die Ukraine sei an einem Punkt, "an dem die industrielle Kapazität über Sieg oder Niederlage entscheidet", sagt der dänische Militärexperte Anders Puck Nielsen im Interview mit ntv.de. "Wenn der Westen sich dazu entschließt, die Ukraine zu unterstützen, dann scheint mir ziemlich klar zu sein, dass Russland diesen Zermürbungs- und Produktionswettbewerb auf lange Sicht verlieren wird." Das Problem sei, dass aktuell der politische Wille fehle - sogar in den USA. Auch Deutschland halte sich "bei der Lieferung von Offensivfähigkeiten, die es der Ukraine ermöglichen würden, den Krieg zu beenden, noch immer zurück". Dennoch sieht Nielsen Grund für vorsichtigen Optimismus.
ntv.de: Sie haben kürzlich darauf hingewiesen, dass der Krieg zwischen der Hamas und Israel derzeit deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommt als der russische Krieg gegen die Ukraine. Gilt das noch?
Anders Puck Nielsen: Ja, ich denke, das ist definitiv der Fall. Die Situation in Gaza bekommt immer noch viel mehr Aufmerksamkeit als die Ukraine. Ich merke es auch ganz persönlich: Seit Anfang Oktober bekomme ich kaum noch Anfragen wegen der Ukraine. Journalisten sind hauptsächlich an Kommentaren zu den Ereignissen in Gaza interessiert. Das gilt auch weiterhin.

Anders Puck Nielsen ist Marineoffizier und Militäranalyst an der Königlichen Dänischen Verteidigungsakademie. Auf Youtube und im dänischen Fernsehen erklärt er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: Screenshot)
Ist es nicht nachvollziehbar, dass Medien und Öffentlichkeit sich stärker für einen Krieg interessieren, der neu ist?
Ja, das liegt in der Natur der Berichterstattung: Medien berichten darüber, was gerade passiert. Und im Moment sind die Ereignisse in Israel viel schneller als in der Ukraine. Trotzdem ist es wichtig, dass wir die Ukraine nicht vergessen und dass sich die mangelnde Aufmerksamkeit nicht darauf auswirkt, dass politische Ressourcen von der Ukraine nach Israel gelenkt werden.
Ist es für die Ukraine denn ein Problem, dass der Hamas-Israel-Krieg den russischen Angriffskrieg gewissermaßen in den Schatten stellt?
Das Problem entsteht dadurch, dass dies zu einer Zeit geschieht, in der wir im Westen eine Diskussion über Kriegsmüdigkeit und Perspektiven führen - also darüber, welche Strategie der Westen verfolgt, um der Ukraine langfristig zu helfen. Länder wie Ungarn, jetzt auch die Slowakei, stehen einer Unterstützung der Ukraine sehr skeptisch gegenüber. Die USA sind derzeit offenkundig nicht in der Lage, die Finanzierung der Ukraine-Hilfen für das nächste Jahr sicherzustellen. Und diese Diskussion findet nach einer ukrainischen Sommeroffensive statt, die aus Sicht vieler Beobachter eine Enttäuschung war. Nun stellt sich die Frage, wie realistisch es ist, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann, was wiederum die Frage aufwirft, ob es sich lohnt, in dieses Projekt zu investieren.
Als wir im März sprachen, sagten Sie, es sehe danach aus, dass Russland dabei sei, den Krieg zu verlieren. Die allgemeine Stimmung scheint mittlerweile deutlich pessimistischer zu sein.
Ich bin immer noch vorsichtig optimistisch. Wenn der Westen sich dazu entschließt, die Ukraine zu unterstützen, dann scheint mir ziemlich klar zu sein, dass Russland diesen Zermürbungs- und Produktionswettbewerb auf lange Sicht verlieren wird. Das kombinierte Bruttoinlandsprodukt von Westeuropa und Nordamerika übersteigt das russische BIP bei Weitem. Wir müssten also nicht einmal einen großen Teil unseres BIP in die Unterstützung der Ukraine investieren und würden Russland trotzdem klar übertreffen.
Im Grunde ist das der Punkt, an dem wir jetzt sind: Wir befinden uns in einer Phase des Kriegs, an dem die industrielle Kapazität über Sieg oder Niederlage entscheidet. Aber dafür ist politischer Wille erforderlich. Insbesondere mit Blick auf die Vereinigten Staaten kann man sich Sorgen machen, ob dieser Wille in ausreichendem Maße vorhanden ist. Ich sehe also Raum für Pessimismus, wenn ein großes Land wie die USA plötzlich nicht mehr in der Lage ist, seine Zusagen einzuhalten.
Oleksij Melnyk, ein ukrainischer Militärexperte, sagt, der Westen habe immer noch Angst vor einem Sieg der Ukraine beziehungsweise vor einer russischen Niederlage. Ist das eine zutreffende Beschreibung?
Ja, das glaube ich auch. Vor allem zu Beginn des Kriegs gab es viele politische Signale, dass wir Schulter an Schulter mit der Ukraine stehen und dergleichen mehr. Aber mit der Zeit wird immer klarer, dass der Westen, zumindest einige Länder im Westen, nicht unbedingt die gleichen Prioritäten haben wie die Ukraine. Die westlichen Länder setzen sich für den Fortbestand einer freien und unabhängigen Ukraine ein, aber es ist nicht unbedingt ihre Priorität, dass die ukrainischen Grenzen von 1991 wiederhergestellt werden. In vielen westlichen Hauptstädten scheint immer noch nach einem Ausweg für Putin gesucht zu werden, damit ein Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld vermieden werden kann. Dabei geht es vor allem um Eskalationsbefürchtungen, aber es zeigt auch, dass es im Westen und in Kiew ein unterschiedliches Verständnis der Situation gibt.
Inwiefern?
In der Ukraine liegt der Fokus viel stärker auf einem tatsächlichen Sieg. Ich habe Ukrainer mehrfach sagen gehört: Ich möchte, dass dieser Kampf beendet wird, damit meine Kinder nicht denselben Krieg führen müssen. Das soll heißen, wenn dieser Krieg nicht endgültig entschieden wird und Russland nicht in ausreichendem Maße verliert, dann wird es in einigen Jahren einen neuen Krieg geben. Die Ukrainer wollen, dass dies jetzt ein für alle Mal beendet wird.
An wen denken Sie konkret, wenn Sie Politiker in westlichen Hauptstädten als zu zögerlich bezeichnen?
Es gibt einige Staaten, die engagierter sind als andere, etwa die baltischen Länder, auch Großbritannien oder mein Land, Dänemark. Länder wie Deutschland sind zögerlicher. Die Bundesrepublik liefert vor allem Luftverteidigungswaffen und an die Ukraine - Dinge, die dafür sorgen, dass die Ukraine weiter besteht. Aber Deutschland hält sich bei der Lieferung von Offensivfähigkeiten, die es der Ukraine ermöglichen würden, den Krieg zu beenden, noch immer zurück. Ich weiß immer noch nicht, warum Deutschland keine Taurus-Raketen bereitstellt. Aber man kann auch auf die USA verweisen. Es wird immer deutlicher, dass die Biden-Regierung auch nicht unbedingt darauf bedacht ist, der Ukraine die Dinge zur Verfügung zu stellen, die ihr große Offensiverfolge ermöglichen würden. In der Regel kommt zu wenig zu spät.
Man könnte argumentieren, dass der Westen vielleicht ein Interesse daran hat, die Ukraine zu unterstützen, aber dass unsere Interessen nicht identisch mit denen der Ukraine sind.
Dagegen würde ich zwei Punkte einwenden. Erstens ist es ein humanitäres Problem, wenn man der Ukraine gerade genug gibt, dass sie den Krieg fortführen kann, aber nicht genug, um ihn zu beenden. Denn dadurch steigt auch die Zahl der zivilen Opfer. Und zweitens müssen wir verstehen, dass Russland eine langfristige Bedrohung nicht nur für die Ukraine darstellt, sondern für das gesamte westliche Bündnis. Aus russischer Sicht geht es nicht nur um ein kleines Stück Land in der Ostukraine, sondern um sehr viel mehr.
Das wird im Westen nicht verstanden?
Ich glaube, nicht in ausreichendem Maße. Es gibt eine Tendenz, misszuverstehen, wofür die Russen in diesem Krieg kämpfen. Solange es dieses Missverständnis gibt, werden wir Annahmen über die Ziele Russlands treffen, die einfach nicht stimmen. Wenn wir nicht erkennen, dass Russland für den Westen auf lange Sicht ein Problem darstellen wird, dann sind wir nicht darauf vorbereitet, was möglicherweise als Nächstes kommt. Russland geht es darum, den Zusammenhalt der NATO auf die Probe zu stellen, das westliche Bündnis so weit zu schwächen, dass wir nicht mehr wissen, ob die USA uns helfen würden, wenn es notwendig wäre. Wenn wir in eine solche Situation geraten, dann ist Russland der dominierende Akteur in Europa. Der beste Weg, mit dieser Herausforderung umzugehen, wäre, dafür zu sorgen, dass die Russen in der Ukraine nicht erfolgreich sind. Sonst könnten sie Appetit auf mehr entwickeln.
Noch eine Frage zum Kriegsverlauf: Wie schätzen Sie die Situation am Dnipro bei Cherson ein, wo die Ukraine erste Brückenköpfe auf der südlichen Seite des Ufers errichten konnte?
Das muss man in einen größeren Rahmen einordnen. Zu Beginn der Invasion gab es auf russischer Seite die Vorstellung eines Blitzkriegs mit raschem Sieg nach wenigen Tagen. Als das nicht eintrat, stand die politische Führung in Russland offensichtlich unter einer Art Schock. Es gab diese Bilder von Putin, auf denen er zitterte, und Spekulationen, dass er krank sei. Tatsächlich war es wohl eher eine Art Nervenzusammenbruch, weil er mit der Situation klarkommen musste, dass der schnelle Krieg nicht funktionierte. Den Russen wurde klar, dass dieser Krieg eine Weile dauern würde und dass sie sich darauf vorbereiten müssen, ihn über viele Jahre hinweg zu führen. Die russische Wirtschaft hat seither viele Veränderungen vollzogen, die für einen langen Krieg notwendig sind. Ein großer Teil des russischen BIP fließt heute in den Verteidigungssektor, die Produktion von militärischen Gütern wurde deutlich gesteigert.
Ironischerweise gab es eine ähnliche Verschiebung auch im Westen, aber auch in der Ukraine selbst. Von der Sommeroffensive wurde ein großer Durchbruch erwartet, geradezu eine Entscheidung, ein Ende des Kriegs. Was wir jetzt im Westen erleben, scheint mir ein bisschen der Zeit zu ähneln, als Putin unter Schock stand und nicht wusste, was er tun sollte. Und auch wir müssen uns jetzt darüber klar werden, dass dies ein langer Weg ist. Es ist ein langer, harter Krieg.
Und Cherson?
Was wir in der Region Cherson sehen, ist sehr interessant, denn es zeichnet gewissermaßen die Konturen dessen, was die Ukraine tun kann, um die Dynamik des Kriegs langfristig zu verändern. Die Brückenköpfe auf der anderen Seite des Dnipro können eine neue Front aufmachen. Das Merkwürdige am aktuellen Frontverlauf ist, dass er zwar sehr lang, aber gleichzeitig auch ziemlich kompakt ist. Eigentlich geht die Front über rund 1000 Kilometer. Aber auf knapp der Hälfte bildet der Dnipro die Front, dort finden keine größeren Kämpfe statt. Wenn die Ukraine es schafft, sich in der Region Cherson auf der südlichen Seite des Flusses festzusetzen, dann würde sie die Frontlinie praktisch mehr oder weniger verdoppeln. Das kann dazu führen, dass 2024 ganz anders wird als 2023 - oder es ist etwas, das sich auf 2025 auswirkt. Andere Initiativen der Ukraine, die die Dynamik des Kriegs verändern können, sind ihre Angriffe in der Tiefe, die auf die Logistik der Russen zielen. Deshalb ist es auch so frustrierend, dass ein Land wie Deutschland nicht die Raketen liefert, die die Ukraine dafür braucht.
Mit Anders Puck Nielsen sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de