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Kleiner Parteitag vor Europawahl Plötzlich sehen die Grünen wieder Land

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Gelassen vor der Europwahl: Ricarda Lang, Robert Habeck, Terry Reintke, Annalena Baerbock und Omid Nouripour in Potsdam.

Gelassen vor der Europwahl: Ricarda Lang, Robert Habeck, Terry Reintke, Annalena Baerbock und Omid Nouripour in Potsdam.

(Foto: picture alliance/dpa)

Schwache Umfragen, offene Anfeindungen allerorten: Mehr als ein Jahr Dauerkrise haben die Grünen hinter sich. Dennoch ist eine Woche vor der Europawahl das Selbstvertrauen zurück. Im Gegenwind verlegt sich die Partei aufs Kreuzen.

Zwischen zwei nur fünf Kilometer voneinander entfernten Orten können Welten liegen. Ende November fantasierten im Potsdamer Landhotel Adlon AfD-Vertreter zusammen mit anderen Rechtsextremisten und Ultrakonservativen über die Ausweisung möglichst vieler Menschen mit Migrationsgeschichte. Sieben Monate später machen sich in Potsdams Schinkelhalle die Grünen auf, bei der Europawahl als erste Kraft gegen einen Rechtsruck auf dem Kontinent durchs Ziel zu gehen.

"Demokraten vor Faschisten! Grün vor blau", ruft Grünen-Geschäftsführerin Emily Büning am Samstag zum Auftakt des Länderrats. Beim kleinen Parteitag redet sich die Partei im Wahlkampfendspurt noch einmal Mut zu, und das durchaus aussichtsreich: Ausweislich der Umfragen würde die Partei damit hinter der Union auf Platz zwei landen, wie schon vor fünf Jahren. Das ist angesichts der jüngeren Vergangenheit beachtlich. Damals hatten die Grünen mit 20,5 Prozent ein Rekordergebnis erzielt, waren nur knapp hinter CDU und CSU gelandet.

... dann eben Demokratieschutz

Es war damals die Hochzeit von Fridays for Future, Klimaschutz das Thema der Stunde. Davon ist nach bald zweieinhalb Jahren grüner Regierungsbeteiligung im Bund wenig bis nichts mehr zu spüren. Der Gegenwind bläst den Grünen hart ins Gesicht, spätestens seit dem - vor allem kommunikativ - verhunzten Heizungsgesetz. Es folgten im vergangenen Winter die Bauernproteste und seither immer wieder Übergriffe gegen grüne Wahlkämpfer. Die Partei hat sich entschieden, in diesem Wind zu kreuzen, statt beizudrehen.

Das Motto: Wenn Klimaschutz nicht zieht, dann eben Demokratieschutz. In der Schinkelhalle trägt dieser Kurs das Gesicht von Anne-Katrin Haubold. Sie wurde Anfang Mai Augenzeugin, als ihr Parteikollege beim Plakatieren in Dresden von vier jungen Männern ohne Vorwarnung attackiert wurde. Diese seien "in Sturmformation angerannt" gekommen, berichtet Haubold in Potsdam. "Zack, eine Minute später liegt ein Parteifreund am Boden, niedergestreckt mit zwei Schlägen ins Gesicht. Und dann wird auch noch auf ihn eingetreten."

Die Hochschulprofessorin berichtet von ihren vielen ermutigenden Erfahrungen seither und ermahnt - als Ehrengast und Basisaktive durchaus überraschend - die Parteioberen: "Wir dürfen nicht nur Programm machen für unsere Kernklientel in den wohlsituierten grünen Zonen in den Städten." Auch den vielen potenziellen Wählerinnen und Wählern auf dem Land müssten die Grünen "ein klares Angebot unterbreiten".

Flaute auf dem Land, Zuspruch in den Städten

Im ländlich geprägten Thüringen ist die Partei bei den Kommunalwahlen am letzten Maiwochenende abgeschmiert: Auf 3,8 Prozent hat sich das Gesamtergebnis im Vergleich zur vorangegangenen Kommunalwahl halbiert. Bei den Landtagswahlen am 1. September droht der Rauswurf aus dem Parlament in Erfurt. Einziger Lichtblick aus grüner Perspektive: Grünen-Kandidatin Kathleen Lützkendorf ist in die Stichwahlen eingezogen um das Oberbürgermeisteramt von Jena. Die Hochschul- und Hightech-Stadt ist eine linksliberale Insel im blauen AfD-Meer rundum.

Im urbanen Milieu haben die Grünen mit dem Aufschwung der AfD und anderer Rechtsaußenkräfte ein Mobilisierungsthema. Auch SPD und Linke versuchen sich im Europawahlkampf als Gegenpol zum Rechtsruck zu positionieren. Doch Sozialdemokraten und Linken drohen am 9. Juni enttäuschende Ergebnisse. Den Grünen dagegen reicht ein Ergebnis nahe den 14,7 Prozent der Bundestagswahl 2021 womöglich schon, um erste Kraft hinter der Union zu werden. Das ist nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen zur Europawahl in Reichweite: Die Kernwähler der Grünen nehmen zuverlässiger an der Europawahl teil als die der Konkurrenz.

Die Nische als Chance

Ausgerechnet die Union hat der grünen Erzählung, Kraft gegen einen Rechtsruck zu sein, Schwung verliehen: CDU und CSU stellen den Green Deal der CDU-Spitzenkandidatin und amtierenden Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen offen infrage und rütteln am Verbrenner-Aus im Jahr 2035. Von der Leyen könnte zudem nach der Wahl Stimmen vom rechten Rand brauchen, um zusammen mit den Mandaten der Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten auf eine erkleckliche Mehrheit im Europaparlament zu kommen.

Oder aber von der Leyen umwirbt doch die Grünen. Die sind gesprächsbereit, pochen aber auf eine ungebremste Fortsetzung der Dekarbonisierung von Europas Wirtschaft. "Wir als Grüne stellen uns mit allem, was wir haben, gegen diesen Rechtsruck", ruft die europäische Spitzenkandidatin der Grünen, Terry Reintke, den Delegierten in Potsdam entgegen. Sie fordert die Kommissionspräsidentin erneut auf, eine Zusammenarbeit mit der Partei der italienischen Rechtsaußen-Ministerpräsidentin Giorgia Meloni auszuschließen.

Die Grünen mögen in Europa eine nachrangige politische Kraft sein, könnten aber nach der Wahl Zünglein an der Waage spielen. Die deutschen Grünen werden stärkste Gruppe in ihrer Fraktion bleiben. Die Schwäche der Partei in den ländlichen Gegenden des Ostens wirkt sich auf das bundesweite Ergebnis gering aus. So steht die Partei in diesem Frühjahr nach für sie denkbar schwierigen Monaten stabil da, wenn auch weit entfernt von Umfragewerten oberhalb der 20 Prozent, mit denen sie 2021 in den Kampf ums Kanzleramt gezogen war. Aber die sind derzeit kein Maßstab.

Generalprobe für 2025

Dennoch richtet sich im laufenden Europawahlkampf schon der Blick auf das kommende Jahr: Noch ist offen, ob Robert Habeck als Doppelspitze mit Baerbock in den Wahlkampf zieht oder die Partei diesmal dem amtierenden Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz die Kanzlerkandidatur anträgt. Vieles deutet aber darauf hin. Nicht nur die im Vergleich zu Baerbock bessere terminliche Verfügbarkeit von Habeck erklärt dessen zuletzt deutlich größere Anzahl an Wahlkampfauftritten. Der Vize-Kanzler hat den Traum vom Kanzleramt noch nicht aufgegeben.

Nachdem Baerbocks Kanzlerkandidatur nicht zuletzt an den zahlreichen Pannen während des Wahlkampfes gescheitert war, üben sich die Grünen mit ihren Bundesvorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour derzeit vor allem in Fehlervermeidung. Angriffe der Konkurrenz versucht die Partei abperlen zu lassen. Den teils heftigen Anfeindungen selbst aus den Reihen der Union trotzt sie mit demonstrativem Selbstbewusstsein. Zu "verhärten" sei das Falscheste, was die Grünen tun könnten, appelliert Lang während des Länderrats. Die Hand ihrer Partei bleibe ausgestreckt, die Ohren offen für das Gespräch.

In ihrem Wohnort Potsdam ruft Baerbock den Delegierten zu: "Das Glas ist halb voll." Ziel der Rechtsextremen sei, "so viel Angst zu schüren, dass der Blick auf die Stärke des Zusammenhalts verloren geht". Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung stehe weiter hinter dem Grundgesetz und für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein.

Vor ihrer Kanzlerkandidatur hatte die heutige Außenministerin für ihre Partei einmal das Motto "radikal staatstragend" ausgerufen. Inzwischen kommen die Grünen vielerorts nicht mehr ohne einen sie schützenden Staat aus. Wer trägt da wen?

Unabhängig vom Ausgang der Europawahlen blickt die Partei herausfordernden Monaten entgegen. Ein Totalabsturz wie der FDP droht ihr indes nicht. Die blau-braune Flut in den Umfragen ist wie Hochwasser: Beides finden die Grünen furchtbar. In die Karten spielt es ihnen dennoch.

Quelle: ntv.de

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