Politik

"Partygate", Ruanda, Nordirland "Tote Katzen" halten Boris Johnson im Amt

Um Boris Johnson wird es auch in den nächsten Wochen nicht ruhiger werden.

Um Boris Johnson wird es auch in den nächsten Wochen nicht ruhiger werden.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Noch vor zwei Wochen hätte die politische Karriere des britischen Premiers Johnson vorbei sein können. Doch das Misstrauensvotum der Tory-Abgeordneten im Unterhaus übersteht er knapp und lenkt mit den nächsten Krisen ab.

Es ist ein erstaunliches Talent, über das Boris Johnson verfügt. Noch vor knapp zwei Wochen wäre die politische Karriere des britischen Premierministers beinahe zu Ende gewesen. Das Misstrauensvotum der konservativen Tory-Abgeordneten im Unterhaus überstand er nur knapp, von den Mitgliedern seiner eigenen Fraktion stimmten 41 Prozent gegen ihn. In Umfragen fordert ein Großteil der Bevölkerung seinen Rücktritt, bei den Feierlichkeiten zum Thronjubiläum der Queen wurde er öffentlich ausgebuht. Und dennoch, Johnson macht einfach weiter. Statt über "Partygate" und seine Verfehlungen während der Corona-Lockdowns zu sprechen, stehen immer neue Krisen im Mittelpunkt.

"Die Briten nennen das die 'Dead-Cat'-Strategie", erklärt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit ntv.de. "Wenn eine tote Katze auf dem Tisch liegt, reden alle darüber und nicht über den Skandal, der davor dominiert hat", sagt der Großbritannien-Experte. Und es funktioniert, schließlich liegen diesmal gleich mindestens zwei tote Katzen auf dem Tisch. "Beides, die erneute Eskalation mit der EU in der Nordirland-Frage und auch die Deportationen nach Ruanda, sind eine Strategie, um von 'Partygate' abzulenken", sagt von Ondarza.

Schon eine Woche nach dem knapp überstanden Misstrauensvotum beschwören Johnson und seine Regierung eine weitere Krise herauf. Am vergangenen Montag brachten sie im Unterhaus einen Gesetzesentwurf ein, der das Nordirland-Protokoll des Brexit-Abkommens einseitig umgehen soll - und damit wohl das Völkerrecht brechen würde. Ein Konflikt, der schon lange schwelt. Dass er nun ausgerechnet jetzt wieder hochkocht, ist für den Politologen Anthony Glees keine Überraschung. "Es ist Boris Johnson, der um sein politisches Überleben kämpft", sagt der emeritierte Professor der Universität Buckingham im Gespräch mit ntv.de "Johnson meint, mit einem immer härteren Brexit die Menschen hinter sich versammeln zu können."

Kein wirtschaftliches Argument für Nordirland-Frage

Dabei war es der britische Premier selbst, der das Brexit-Abkommen samt Nordirland-Protokoll unterzeichnete. Johnson feierte die Regelung 2019 als großen Durchbruch, sie ersetzte den Backstop-Vorschlag seiner Vorgängerin Theresa May. Der Backstop hätte vorgesehen, dass Großbritannien weiterhin innerhalb des Binnenmarktes und der Zollunion geblieben wäre, um eine Zollgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern. Mit dem Protokoll konnte das Königreich austreten. Die Zollgrenze liegt nun auf dem Seeweg zwischen dem britischen Festland und Nordirland.

"Damals hieß es: Nordirland bleibt im EU-Binnenmarkt und bekommt damit das Beste aus der EU-Mitgliedschaft und bleibt Teil des Vereinigten Königreichs", erklärt Glees. Für die britische Provinz habe sich das ausgezahlt. "Es geht den Menschen wirtschaftlich besser, weil sie ihre Waren im EU-Binnenraum verkaufen und auch Arbeitskräfte aus der ganzen EU beziehen können. Das können wir im Rest Großbritanniens nicht." Deshalb ergebe es aus wirtschaftlicher Sicht auch wenig Sinn, dieses Abkommen infrage zu stellen, sagt der Politologe.

Es steckt also ein politischer Wille dahinter. Die britische Regierung behauptet, es gehe ihr um das Karfreitagsabkommen, das den Frieden in Nordirland sicherstellt. Dabei folgt sie der Argumentation der nordirischen unionistischen DUP, die eine Vereinigung mit der Republik Irland bekämpft. Seit Wochen blockiert sie die Regierungsbildung in Belfast und fordert, dass Nordirland seinen Brexit-Sonderstatus aufgeben müsse.

Streit mit Brüssel und Straßburg

Die EU hat auf Johnsons Gesetzentwurf mit einem Vertragsverletzungsverfahren reagiert. Politikwissenschaftler von Ondarza erwartet noch zwei weitere Schritte, jedoch nicht die volle Eskalation. Denn der Entwurf zum Nordirland-Protokoll muss durch beide Häuser des Parlaments. "Im House of Lords hat die britische Regierung keine eigene Mehrheit und viele konservative Lords sehen vor allem den Bruch des Völkerrechts kritisch", sagt der Großbritannien-Experte.

Das weiß auch die EU. "Es ist unwahrscheinlich, dass der Gesetzesentwurf vor Ende dieses Jahres durch das britische Parlament kommt", erklärt von Ondarza. Hinzu kommt, dass unklar ist, ob Johnson dieses Jahr überhaupt politisch übersteht. Deshalb reagiert Brüssel mit einer "strategischer Geduld", wie von Ondarza es nennt, und werde als dritten Schritt versuchen, Nordirland zu signalisieren, dass es mit sich reden lässt - anders als das Narrativ, das London häufig bemüht.

Indes hegt London schon länger einen zweiten Konflikt mit Europa. Diesmal nicht mit Brüssel, sondern mit Straßburg. Am Mittwoch stoppte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) - der mit der EU nichts zu tun hat, sondern ein Organ des Europarats ist - den ersten geplanten Abschiebeflug nach Ruanda. Die britische Regierung hatte einen 120-Millionen-Pfund-Deal mit dem afrikanischen Land geschlossen. Das Abkommen sieht vor, dass Menschen, die Großbritannien abschiebt, in Ruanda landen und dort eine Unterkunft und ein Asylverfahren bekommen. Durch Abschreckung soll so verhindert werden, dass Schlepper weiterhin Menschen in seeuntüchtigen Booten über den Ärmelkanal lotsen.

"Scheußliches" Ruanda-Abkommen

Wegen des Streits mit Straßburg drohten bereits einige Tory-Abgeordnete damit, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Großbritannien in den 1950er-Jahren mit aufgebaut hatte, auszutreten. Sonderlich wahrscheinlich ist das aber wohl nicht. "Ich halte das eher für Schattenboxen", sagt von Ondarza. "Ich glaube nicht, dass das etwas ist, was die britische Regierung ernsthaft anstrebt." Schließlich würde das nicht nur das Brexit-Abkommen, sondern auch das Karfreitagsabkommen in Nordirland gefährden, da die Regierung sicherstellen muss, dass die britische Provinz dort Mitglied ist.

Ohnehin ist das Ruanda-Abkommen umstritten. Nach der EGMR-Entscheidung sollen nun britische Gerichte klären, ob die Praxis rechtmäßig ist. Doch die Kritik daran reicht inzwischen von Menschenrechtlern bis hin ins britische Königshaus. "Es ist wirklich scheußlich", sagt Glees. Die britische Regierung habe die Suche nach Asyl kriminalisiert. "Am Ende entscheidet Ruanda darüber, was mit den Menschen passiert", sagt Glees.

Der Experte sieht dahinter eine Politik, die für Johnson typisch ist. Die Ruanda-Deportationen und die erneute Nordirland-Frage, das seien eine Verradikalisierung der britischen Politik. Johnson versuche, mit immer neuen Krisen an der Macht zu bleiben. "Alles, was die Leute und ihre Meinungen spaltet, das ist ihm wichtig", sagt Glees. Bei rund 35 Prozent der Wählerinnen und Wähler stießen die Ruanda-Deportationen auf Zustimmung. "Wenn man genauer hinschaut: Die Leute, die für den Brexit gestimmt haben, und die, die 2019 für die Tories gestimmt haben, genau die stecken in diesen 35 Prozent mit drin", sagt Glees.

Labour kann Schwäche nicht nutzen

Johnsons Partei ist dagegen weniger kritisch. "Die Ruanda-Politik wird von dem Großteil der konservativen Partei getragen, auch einigen, die gerade das Misstrauensvotum gegen Johnson unterstützt haben", sagt von Ondarza. Dabei hilft auch, dass die Labour-Partei sich müht, bei den Ruanda-Abschiebungen und der Nordirland-Frage eine eigene Position zu finden. Denn auch ein wichtiger Teil ihrer Wählerschaft befürwortet härtere Regeln gegen illegale Migration. Zudem ist es für die ehemalige "Remain"-Partei, die den Brexit nicht mehr infrage stellen will, schwierig, sich in der Nordirland-Frage zu positionieren.

Es bleibt also nur die konservative Partei, über die Johnson stürzen könnte. "Doch dort gibt es gerade keinen klaren Nachfolger oder Nachfolgerin", sagt von Ondarza. "Und für viele ist Johnson derjenige, der den Brexit durchgesetzt hat. Gerade bei konservativen Wählerinnen und Wählern ist das eine große Errungenschaft." Mit ihm könne man Wahlen gewinnen. Doch mittlerweile kosten die ständigen Skandale Zustimmung. "Wegen seiner Verfehlungen und mangelnder Glaubwürdigkeit ist er in der Partei und auch an der Basis deutlich umstrittener. Es halten dennoch jeweils etwa 60 Prozent der Abgeordneten und konservativen Wähler zu ihm", sagt von Ondarza.

Also ist Johnsons Scheitern nur eine Frage der Zeit? Wenn es nach dem Politologen Glees geht, könnte es schon in den nächsten Wochen so weit sein. Dann stehen in zwei Regionen Nachwahlen an, für die Konservativen bahnen sich dort Pleiten an. Etwas verhaltener ist da Politikwissenschaftler von Ondarza. "Meiner Einschätzung nach wird Johnson auch die Nachwahlen sehr wahrscheinlich überstehen." Im Oktober gibt es dann den großen Parteitag der konservativen Partei. "Bis dahin muss es aber einen deutlichen Stimmungsumschwung innerhalb der eigenen Fraktion geben", sagt von Ondarza.

Zudem zeichnen sich die nächsten Skandale bereits ab. Vor wenigen Tagen trat der "ethische Berater" der britischen Regierung, Christopher Geidt, zurück, dessen Rücktrittsgesuch Downing Street mittlerweile veröffentlicht hat. Dazu kommen die Lebenshaltungskosten, die gerade auch in Großbritannien kräftig steigen. Und ein Untersuchungsausschuss ist gerade dabei zu klären, ob der britische Premier während "Partygate" das Parlament belogen hat. "Ich glaube, wenn Johnson über irgendetwas stürzt, dann ist es die Kombination dieser Ereignisse, aber nicht eines allein", sagt von Ondarza.

Quelle: ntv.de

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