Der Kriegstag im Überblick Ukraine will keine Kampfpause im Donbass - Dänemark liefert Anti-Schiffs-Rakete
23.05.2022, 21:44 Uhr
Der ukrainische Präsident Selenskyj fordert beim Weltwirtschaftsforum "maximal wirksame Sanktionen" gegen Moskau.
(Foto: picture alliance/dpa/KEYSTONE)
In seiner Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos hat der ukrainische Präsident Selenskyj von 87 Toten nach einem russischen Luftangriff auf einen Militärstützpunkt im Norden der Ukraine berichtet und trotz prekärer Lage im Donbass eine Kampfpause ausgeschlossen. Derweil plant Russland, den Prozessauftakt gegen die Asowstal-Kämpfer direkt in Mariupol auszutragen. Dänemark will die Ukraine militärisch mit der Anti-Schiffs-Rakete des Typs Harpoon beliefern. Es soll ein Mittel gegen die russischen Blockaden der Häfen sein. Der 89. Kriegstag im Überblick.
87 Tote bei russischem Luftangriff laut Ukraine
Die Ukraine hat die bislang schwersten eigenen Verluste bei einem russischen Luftangriff eingeräumt. "Heute haben wir die Arbeiten in Desna abgeschlossen. In Desna, unter den Trümmern, lagen 87 Opfer", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videoansprache auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Bislang hatte die Regierung in Kiew von acht Toten bei einem Raketenangriff auf eine Kaserne in Desna am 17. Mai gesprochen. Zum Wochenbeginn heulten wieder in vielen ukrainischen Städten Warnsirenen. Die russischen Streitkräfte setzten ihre Offensive im Osten und Süden fort. Vor allem im Donbass und dem Gebiet der Stadt Mykolajiw im Süden tobten zum Teil heftige Kämpfe.
Ukraine: Kampfpause im Donbass ausgeschlossen
Die Lage im Donbass sei extrem schwierig, erklärte Selenskyj weiter. Sein Berater Mychailo Podoljak schloss aber eine Kampfpause aus, wie sie von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi ins Gespräch gebracht worden war. Damit würde sich die Ukraine nur selbst schaden, da Russland nach einer Waffenruhe nur umso härter zuschlagen würde, sagte der Berater des ukrainischen Präsidenten: "Sie starten dann eine neue Offensive, noch blutiger und größer angelegt." Die heftigsten Gefechte lieferten sich beide Seiten im Gebiet der Zwillingsstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk nordwestlich von Luhansk im Osten der Ukraine, wie ein Berater des Kiewer Innenministeriums sagte. Die russischen Truppen versuchen bereits seit Mitte April, die Front zu schließen und die ukrainischen Verbände einzukesseln.
Verhandlungen nur mit Putin und nur über Kriegsende
Selenskyj würde sich mit seinem Amtskollegen Wladimir Putin treffen, allerdings nicht mit anderen russischen Vertretern. Dabei würde es auch nur ein einziges Thema geben: das Ende des Krieges, sagte Selenskyj bei der Videoschalte. Angesichts des russischen Vorgehens gegen Zivilisten in den besetzten Teilen der Ukraine werde es jedoch immer schwieriger, irgendwie geartete Gespräche zu organisieren.
Selenskyj: Maximum an Sanktionen noch nicht erreicht
In der Videobotschaft wies Selenskyj in Hinblick auf die Sanktionen gegen Russland darauf hin, dass das Maximum noch nicht erreicht sei, es sei ein Öl-Embargo nötig. Mit Russland sollte kein Handel betrieben werden. Die Welt müsse einen Präzedenzfall schaffen. "Die Geschichte ist an einem Wendepunkt", sagte Selenskyj. "Das ist wirklich der Moment, in dem entschieden wird, ob rohe Gewalt die Welt regieren wird." Der Stabschef des Präsidialamts, Andrij Jermak, bekräftigte auf Twitter, die Ukraine werde keine territorialen Zugeständnisse machen. Russland ist einem Medienbericht zufolge zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit. Voraussetzung sei, dass die Regierung in Kiew eine "konstruktive Position" einnehme, berichtete die Nachrichtenagentur Ria unter Berufung auf den stellvertretenden Außenminister Russlands, Andrej Rudenko. In der Vergangenheit waren dies für die Ukraine unannehmbare Forderungen.
Klitschko fordert totale Isolation Russlands
Ähnlich wie der ukrainische Präsident argumentiert auch der Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko und forderte die vollständige Isolation Russlands. "Der Krieg wird so lange dauern, wie die Welt Handel mit Russland treibt", sagte der 46-Jährige ebenfalls per Videoschalte in Davos. Er forderte zudem einen Ausschluss russischer Athleten von Olympischen Spielen. "Das hat nichts mit der Nationalität oder den Athleten zu tun, aber sie repräsentieren das aggressive Regime Russlands", sagte er. Zugleich betonte der Ex-Boxer, die Ukraine werde ihren Widerstand nicht aufgeben: "Wir werden so lange kämpfen, wie wir leben." Sein ebenfalls anwesender Bruder Vitali, Bürgermeister von Kiew, sagte zum erbitterten Widerstand gegen die russischen Angreifer: "Wir Ukrainer verteidigen unsere Kinder, Familien und die Zukunft unserer Kinder - und die russischen Soldaten kämpfen für Geld."
Ukrainisches Militär warnt vor Aktivitäten an belarussischen Grenze
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs zieht derzeit Belarus, das sich bislang nicht aktiv am russisch-ukrainischen Krieg beteiligt hat, Streitkräfte an der Grenze zusammen. "Die belarussischen Streitkräfte führen verstärkt Aufklärung durch und haben zusätzliche Einheiten im Grenzbereich aufgestellt", hieß es. Demnach bleibe die Gefahr von Raketen- und Luftangriffen auf die Ukraine von belarussischem Gebiet aus erhalten. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat sich nicht mit eigenen Truppen an dem Ende Februar von Russland begonnenen Krieg gegen die Ukraine beteiligt, das Land war aber Aufmarschgebiet.
Lebenslange Haft für russischen Soldaten
Im ersten Kriegsverbrecherprozess seit Beginn der russischen Invasion wurde ein 21 Jahre alter Russe in Kiew zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Panzersoldat hatte zuvor gestanden, am 28. Februar einen 62 Jahre alten ukrainischen Zivilisten erschossen zu haben. Der aus Sibirien stammende junge Mann entschuldigte sich während des Prozesses für die Tat. "Ich bedauere es. Ich bereue es sehr. Ich habe mich nicht geweigert, und ich bin bereit, alle Maßnahmen zu akzeptieren, die verhängt werden", hatte er in seinem Schlusswort gesagt. "Natürlich besorgt uns das Schicksal unseres Mitbürgers", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Für möglich gehalten wird, dass der Mann gegen ukrainische Gefangene in Russland ausgetauscht wird. Insgesamt geht die Ukraine nach eigenen Angaben mehr als 13.000 mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen nach. Dies sei der gegenwärtige Stand, sagt Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa der Zeitung "Washington Post".
Prozess gegen Asowstal-Kämpfer soll in der Region stattfinden
Russland will derweil die in der Hafenstadt Mariupol gefangen genommenen ukrainischen Soldaten nach Angaben eines prorussischen Separatistenführers direkt in der Region vor ein Gericht stellen. Die Gefangenen, die sich im Stahlwerk Asowstal verschanzt und schließlich ergeben hatten, werden im Gebiet der selbsternannten Volksrepublik Donezk im Osten der Ukraine festgehalten, wie Separatistenführer Denis Puschilin der Agentur Interfax zufolge sagte. Ein "internationales Tribunal" werde organisiert. Unter Berufung auf eine Quelle, die mit dem "Tribunal" befasst sei, schrieb Interfax außerdem, ein erster Prozess soll in Mariupol stattfinden. Weitere Prozesstage könnten auch an anderen Orten abgehalten werden. Am Freitag hatten sich die letzten gut 500 ukrainischen Soldaten in Asowstal ergeben.
Russland: Westen für Nahrungsmittelkrise verantwortlich
Moskau warf dem Westen vor, mit seinen Sanktionen eine weltweite Nahrungsmittelkrise hervorgerufen zu haben. "Russland war immer eher ein verlässlicher Exporteur von Getreide", sagte Kreml-Sprecher Peskow. "Wir sind nicht die Ursache des Problems." Nach Darstellung der Ukraine und des Westens blockieren russische Streitkräfte alle ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer, darunter auch den größten Hafen in Odessa. Millionen Tonnen Getreide liegen demnach dort brach und können nicht exportiert werden.
Russischer UN-Diplomat wirft hin
Ein klares Zeichen gegen die russische Aggression setzte der UN-Diplomat Boris Bondarew. Er hat seinen Rücktritt eingereicht und protestiert in einem Brief gegen den Krieg seines Landes gegen die Ukraine. Der 41-Jährige, der bei der russischen diplomatischen Vertretung in Genf gearbeitet hatte, begründete seinen Schritt darin mit folgenden Worten: "Zwanzig Jahre meiner diplomatischen Laufbahn habe ich verschiedene Wendungen unserer Außenpolitik gesehen, aber noch nie habe ich mich meines Landes so geschämt wie am 24. Februar dieses Jahres."
Ex-MI6-Chef erwartet Machtwechsel "spätestens 2023"
Der ehemalige Direktor des britischen Auslandsgeheimdienstes, Sir Richard Dearlove, rechnet mit einem Machtwechsel in Russland spätestens 2023. "Wir erreichen das Ende dieses Regimes in Russland", sagte der ehemalige MI6-Chef im Podcast "One Decision". Putin werde in den nächsten Monaten gewaltlos abgelöst: "Ich denke, er wird bis 2023 weg sein - wahrscheinlich im Sanatorium, aus dem er nicht als Führer Russlands hervorgehen wird."
Gepard-Lieferung soll bis Ende August abgeschlossen sein
Die Lieferung von 30 Gepard-Flugabwehrpanzern an die Ukraine soll möglichst noch vor September abgeschlossen werden. Nach der bereits angekündigten Bereitstellung von 15 Gepard-Panzern bis Mitte Juli solle der Rest bis Ende August von der Industrie geliefert werden, sagte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums in Berlin. Demnach sollen voraussichtlich diese Woche die Verträge der Ukraine mit der Industrie geschlossen werden. Dies sehe auch die Ausbildung von ukrainischen Gepard-Besatzungen durch die Industrie selbst vor, sagte der Sprecher. Die Bundeswehr unterstütze dies unter anderem durch die Bereitstellung geeigneter Schießplätze.
Dänemark liefert Anti-Schiffs-Rakete Harpoon an Ukraine
Waffen-Nachschub soll es aus Dänemark geben. Laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin will das Land die Ukraine mit Anti-Schiffs-Raketen des Typs Harpoon sowie entsprechenden Abschussvorrichtungen versorgen. Aus US-Regierungskreisen heißt es, dass das ukrainische Militär mit dem fortgeschrittenen Waffensystem in die Lage versetzt werden soll, die russischen Blockaden der Häfen zu brechen. Aber auch Italien, Griechenland und Polen wollen Artilleriesysteme liefern. Insgesamt hätte die Ukraine laut Us-Regierung von etwa 20 Staaten Zusagen für weitere militärische Unterstützung bekommen.
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Quelle: ntv.de, ysc/rts/dpa