Interview mit Gustav Gressel "Die russische Armee wird schwächer, die ukrainische Armee wird stärker"
23.05.2022, 20:29 Uhr
Ein Mitglied der Territorialverteidigung von Saporischschja an der Front im Süden der Ukraine.
(Foto: IMAGO/Ukrinform)
Russland erzielt im Donbass derzeit Geländegewinne, aber mittelfristig sieht Militärexperte Gustav Gressel Probleme auf die russischen Truppen zukommen. Während sich der Personalmangel auf russischer Seite stärker bemerkbar mache, je länger der Krieg dauert, könne die Ukraine spätestens im Spätsommer erhebliche Kräfte in den Donbass verlegen. "Dann wird es für Russland problematisch." Zumal im Herbst für eine Reihe russischer Soldaten die Verträge auslaufen.
ntv.de: Ist in den letzten Tagen etwas im Krieg passiert, das Sie überrascht hat?
Gustav Gressel: Der Krieg hat mittlerweile eine etwas stärkere Dynamik bekommen. Den Durchbruch bei Popasna etwa haben die Russen konsolidiert. Bislang konnte die russische Armee ihre Durchbrüche immer nur etwa zwei Tage halten, dann haben die Ukrainer ihre Reserven ins Gefecht geworden. Jetzt gibt es russische Geländegewinne an mehreren Fronten.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.
(Foto: ECFR)
Woran liegt das?
Die Ukraine musste Kräfte aus anderen Gebieten lösen, um sie Richtung Popasna einzusetzen. Im Großen und Ganzen geht es um Sjewjerodonesk und Lyssytschansk, zwei Nachbarstädte am Fluss Siwerskyj Donez in der Luhansker Oblast mit jeweils 100.000 Einwohnern. Beide Städte sind noch unter ukrainischer Kontrolle. Weil die Russen für den Häuserkampf nicht genug Infanterie haben, umgehen sie solche Städte. Weiter nördlich haben sie versucht, über den Siwerskyj Donez überzusetzen, was nicht funktioniert hat. Im Süden, bei Popasna, ist ihnen dann ein Einbruch in die ukrainischen Stellungen gelungen. Jetzt versuchen sie, die Gegend von Süden her zu erobern. Dort ist das Gelände für sie etwas günstiger.
Woher holt die Ukraine die Truppen für Popasna?
Die kommen von Frontabschnitten, die weiter südlich liegen, aus der Gegend um Marjinka und der Ortschaft Nju Jork nördlich der Stadt Donezk. Da gibt es schon seit einiger Zeit schwere Kämpfe. Nachdem die Ukrainer ihre Kräfte weiter nördlich konzentrieren, kann es sein, dass die Russen hier Boden gutmachen.
Sie haben vor gut einem Monat geschrieben, Russland habe auf einen Abnutzungskrieg umgestellt. Ist es das, was gerade passiert?
Ja, und deshalb bin ich immer skeptisch, wenn es heißt, dass die Russen versuchen, größere Operationen durchzuführen. Die russischen Truppen haben bislang in der Ostukraine aus guten Gründen auf schnelle Durchstöße verzichtet. Stattdessen haben sie sich unter Ausnutzung der schweren Artillerie vorwärts geschossen. Das sieht man jetzt auch bei Popasna. Sie haben dort nicht versucht, schnell nach Norden durchzustoßen und sofort Sjewjerodonesk einzukesseln, sondern Ortschaft um Ortschaft vorzurücken und das gewonnene Gelände zu konsolidieren. Das Vorrücken wird dadurch sehr langsam, aber man kann die eigenen Verluste so eher in Grenzen halten.
Und das funktioniert?
So ganz rund läuft es nicht für Russland. Das Abnutzungsverhältnis hat sich kaum verbessert, wobei das durch die katastrophalen Flussüberquerungen über den Siwerskyj Donez wieder zu Ungunsten Russlands gekippt ist. In der normalen Feldschlacht ist Russland mittlerweile ein bisschen schonender unterwegs als noch im Frühling. Indem die russischen Truppen nicht so tief operieren und dem ukrainischen Widerstand weniger offene Flanken geben, werden die Unterstützungstruppen geschont. Dadurch hat die Ukraine weniger Möglichkeiten, über Hinterhalte und Partisanenoperationen anzugreifen. Dennoch hängt Russland den eigenen Erwartungen hinterher.
Das heißt, der Krieg wird noch länger dauern?
Der Krieg wird auf jeden Fall noch länger dauern. Russland hat noch nicht einmal seine unmittelbaren politischen Ziele erreicht und die Oblaste Donezk und Luhansk sowie Saporischschja vollständig erobert. Donezk und Luhansk könnten sie bis zum Ende des Sommers schaffen, aber Saporischschja würde dann auf jeden Fall in den Spätherbst hineingehen. Dann wird sich die Frage stellen, ob die Ukraine ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem die Russen ihre Offensivkraft verbraucht haben dürften, einem Waffenstillstand nach dem Vorbild des Minsker Abkommens zustimmen werden, der gewissermaßen das ganze Land in einen riesigen Donbass verwandeln würde. Ich glaube, sie werden dann eher versuchen, Cherson zurückzuerobern und um Charkiw Geländegewinne zu erzielen.
Warum sollte die russische Armee im Spätherbst ermattet sein, wenn sie jetzt vorrückt, wenn auch nur langsam?
Das Problem der russischen Truppen sind die schweren Verluste aus der Anfangsphase des Kriegs. Die besten Elite-Verbände, Fallschirmjäger und Marineinfanterie, sind enorm abgenutzt, und auch bei den motorisierten Schützentruppen macht sich Mangel breit. Deshalb nehmen sie Ortschaften nicht ein, sondern umgehen sie, weil sie die dafür notwendige mechanisierte Infanterie nicht mehr haben. Der Personalmangel der russischen Truppen macht sich stärker bemerkbar, desto länger der Krieg dauert. Die Bereitschaft der Russen, sich freiwillig für diesen Krieg zu melden, ist gering - Freiwillige kommen nicht in dem Maße, wie die Truppen Verluste erleiden. Im Februar haben die Russen diesen Krieg mit etwa 150.000 bis 190.000 Mann begonnen. Ich würde schätzen, dass diese Zahl auf etwa 120.000 Mann gesunken ist, weil es Verluste gab, weil es Verwundete gab, weil Verträge ausgelaufen sind, die nicht verlängert wurden.
Es gibt einen Personalmangel wegen ausgelaufener Verträge?
Normalerweise werden diese Verträge in einer militärischen Operation automatisch verlängert. Aber eine Reihe von Soldaten hat gemeutert: Sie haben sich dagegen gewehrt, noch mal in die Ukraine gehen zu müssen.
Was geschieht in solchen Fällen?
In den meisten Fällen wurden die Soldaten einfach nach Hause geschickt. Offenbar ist es aus Sicht der russischen Armee sinnvoller, die Leute zu entlassen, als Sabotage an der Front zu riskieren. Es gibt aber auch Sondergerichte, die die Leute jetzt aburteilen. Wer sich in Russland einem militärischen Befehl widersetzt, geht ein großes Risiko ein. Dass es trotzdem vorkommt, zeigt, dass die Stimmung in der russischen Armee nicht die beste ist. Im Herbst läuft erneut eine ganze Reihe von Verträgen aus, das könnte für erhebliche Schwierigkeiten sorgen.
Wie sieht es auf der ukrainischen Seite aus?
Im Februar wurde die Mobilmachung ausgelöst, seither werden Soldaten ausgebildet. Bis sie feldverwendungsfähig sind und in die Verbände eingegliedert werden, dauert es einige Monate. Aber über den Sommer, wahrscheinlich im Spätsommer, ist damit zu rechnen, dass die Ukrainer numerisch zu den Russen aufschließen und erhebliche Kräfte in den Donbass verlegen können. Dann wird es für Russland problematisch.
Warum braucht Russland für seine Offensive im Donbass so viele Bodentruppen? Reicht es nicht, kleinere Städte wie etwa Popasna einfach aus der Entfernung zu beschießen und zu zerstören?
Im Grunde macht Russland das. Rubischne ist komplett zerstört, auch Isjum ist so gut wie zerstört. Die größeren Ortschaften, die Russland eingenommen hat, sind quasi von der Landkarte verschwunden. Das Problem aus russischer Sicht dabei ist: Auch Ruinen sind gute Deckungen. Die verteidigende Infanterie baut sich die Keller aus und verstärkt die Kellerdecken mit Stützbalken, damit sie nicht einstürzen, wenn das Haus darüber kollabiert. Die Trümmerschicht auf der Kellerdecke bildet dann eine Art natürlichen Bunker: Wird eine Bombe darauf geworfen, verpufft die Explosionsenergie im Geröll. Man muss schon schwere bunkerbrechende Bomben einsetzen, um einen solchen Unterstand auszuschalten. Deshalb ist auch eine Ruinenstadt nur unter großen Verlusten einzunehmen. Das kennt man aus dem Zweiten Weltkrieg: Stalingrad war auf dem Höhepunkt der Schlacht auch nur noch eine Ruinenstadt. Gerade große Städte wie Sjewjerodonesk und Lyssytschansk lassen sich gut verteidigen.
Erwarten Sie, dass Russland versuchen wird, Odessa und die Küstenlinie westlich der Krim zu erobern?
Das Institute for the Study of War hat geschrieben, dass das zu erwarten sei und dass die Russen sich darauf vorbereiten. Ich weiß nicht, auf welcher nachrichtendienstlichen Grundlage das ISW zu dieser Einschätzung kommt. Als politisches Ziel hat Russland dies formuliert, aber funktionieren würde es nur, wenn die russische Donbass-Offensive vollendet ist und Russland Kräfte von dort abziehen könnte, um sie gegen Odessa einzusetzen. Das Gelände bis Mykolajiw ist zwar vergleichsweise günstig für einen Angriff, weil es flach ist. Aber über den Unteren Bug, an dem Mykolajiw liegt, führt nur eine Brücke, die in der Stadt selbst liegt. Die nächste Brücke ist eine Eisenbahnverbindung 100 Kilometer weiter nördlich. Und mit einer Ponton-Brücke ist der Bug nicht so einfach zu überqueren, dazu ist er zu breit. Insofern bildet der Fluss eine starke Verteidigungslinie vor Odessa.
Selenskyj und die ukrainische Regierung klangen zuletzt optimistisch, die Russen aus dem Donbass und sogar von der Krim vertreiben zu können. Ist das Rhetorik oder eine realistische Option?
Nach der ukrainischen Gegenoffensive in der Region von Charkiw gab es in der Ukraine einen gewissen Optimismus, aber Selenskyj selbst hat diese Euphorie gerade wieder gedämpft, indem er daran erinnert hat, dass pro Tag 50 bis 100 Ukrainer fallen. Aber dennoch: Die russische Armee wird schwächer, die ukrainische Armee wird stärker. Wenn Putin aus innenpolitischen Gründen keine Generalmobilmachung ausruft, haben wir im Herbst die erwähnte Situation, in der die Ukrainer den Russen zumindest von den Zahlen her überlegen sind. Zwei Punkte werden dann entscheidend sein: Werden die Ukrainer über ausreichend mechanisierte Infanterie verfügen, um selbst Offensiven ausführen zu können? Und in welcher Verfassung werden die russischen Truppen dann sein? Letzteres hängt davon ab, wie sehr sie sich durch ihre aktuellen Offensiven abnutzen.
Militärisch gilt, dass die Ukraine die sogenannte Kontaktlinie im Donbass seit 2015 halten konnte, weil die Gegend gut zu verteidigen ist. Das trifft umgekehrt nun aber auch auf die russischen Truppen zu, wenn die Ukraine eine Offensive tief in den Donbass starten sollte. Das Gleiche gilt für die Krim. Zwischen der Halbinsel und dem Festland gibt es nur zwei Verbindungen. Die Ukrainer haben keine Marine und keine Landungstruppen, sie müssten an diesen zwei Landwegen rüberkommen. Auch eine geschwächte russische Armee hätte noch genügend Kräfte, um diese Verbindungen gut zu verteidigen. Sich die Krim zurückzuholen, wäre für die Ukraine enorm blutig.
Mit Gustav Gressel sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de