Mobilitätsgipfel im Kanzleramt "Wir brauchen schlicht andere Autos"
12.01.2023, 10:23 Uhr (aktualisiert)
Private Autos, egal mit welchem Antrieb, stehen im Schnitt 23 Stunden und 10 Minuten pro Tag herum - die Zeit im Stau ist da noch nicht eingerechnet.
(Foto: picture alliance / photothek)
Im Kanzleramt findet heute ein Mobilitätsgipfel statt, der ursprünglich als Autogipfel geplant war. Der Verkehrsforscher Weert Canzler kritisiert, dass die Interessen der Automobilindustrie in der deutschen Mobilitätspolitik stets an erster Stelle stehen. "Autos sind im Autoland Deutschland natürlich ein wichtiges Thema", sagt er im Interview mit ntv.de. "Aber es geht eben nicht nur um Autos, sondern um Mobilität als Ganzes."
Canzler fordert eine volkswirtschaftlich und ökologisch sinnvolle Mobilität: "kleinere Autos, eine viel bessere Nutzung, daher ein möglichst hoher Sharing-Anteil, möglichst wenig private Autos und starke Alternativen zum Auto". Auf dem Land sei das Auto vorerst wohl alternativlos. Aber für Städte und vor allem Vorstädte müsse es Alternativen geben.
ntv.de: Herr Canzler, gibt es eine objektiv richtige Mobilitätspolitik?
Weert Canzler: Aus meiner Sicht sollte Mobilitätspolitik sich nach zwei Prämissen richten. Einmal muss Mobilität gewährleistet sein, das heißt, sie muss bezahlbar sein und funktionieren. Und zum Zweiten muss sie den Klimaschutzzielen der Bundesregierung entsprechen.

Weert Canzler ist Leiter der Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung" am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB).
(Foto: David Ausserhofer / WZB)
Ist Letzteres im Moment der Fall?
Im Moment ist der Verkehrssektor bei den Klimaschutzzielen das Sorgenkind. Deshalb muss der Schwerpunkt darauf liegen, wie wir eine klimafreundliche Mobilität hinkriegen.
Im Vorfeld des heutigen Mobilitätsgipfels im Kanzleramt ging die Automobilbranche davon aus, dass es ein Autogipfel wird. Dann wurde das Treffen umgelabelt zu einem Mobilitätsgipfel. Ist das ein richtiges Signal?
Autos sind im Autoland Deutschland natürlich ein wichtiges Thema. Aber es geht eben nicht nur um Autos, sondern um Mobilität als Ganzes. Insofern ist das schon ein richtiges Signal. Aber dann muss man auch ehrlich sagen, was das heißt: weniger Autos, andere Autos und eine andere Infrastruktur. Dabei reden wir nicht nur über Antriebstechniken, sondern auch über die Verteilung des Platzes und die Förderung der Alternativen zum Auto. Vor so viel Ehrlichkeit scheut der Mobilitätsgipfel zurück, vielmehr wird allein auf die Antriebswende gesetzt.
Ist es denn möglich, die Interessen der Automobilindustrie und das Ziel von weniger Autos unter einen Hut zu bringen? Da besteht doch ein Interessenskonflikt.
Die Automobilindustrie könnte sich ja auch umorientieren. Sie könnte sich als tatsächliche Mobilitätsindustrie verstehen und sagen: Wir produzieren nicht nur hochautomatisiert und hocheffizient Autos, sondern wir liefern Mobilität. Wir bieten zum Beispiel Mobilitätsdienstleistungen an. Kleine Pflänzchen in diese Richtung gab es bereits, denken Sie an die Carsharing-Angebote der großen deutschen Autohersteller, auch an das Leasinggeschäft. Daimler hat schon Anfang der 1990er Jahre unter Edzard Reuter die Idee entwickelt, "Sitzkilometer" anzubieten. Ob der nun in einem Zug, in einem Bus oder in einem Auto zurückgelegt wird, sollte dabei egal sein - Hauptsache, er findet in der Marke Daimler statt.
Durchgesetzt hat sich das bislang nicht.
Für einen Autohersteller, der bisher - um das etwas unhöflich zu formulieren - Blech gebogen hat, ist das ein schwieriger Schritt, denn mit ihrem alten Geschäft ist die deutsche Automobilindustrie über Jahrzehnte gut gefahren. Sie produziert die besten Autos der Welt, kann vor allem im Premiumbereich hohe Margen realisieren. Aber ob dieses Geschäftsmodell weltweit verallgemeinerbar ist und ob es ökologisch tragbar ist, das ist eine andere Frage.
Die Margen sind ein wichtiger Punkt: Renault beispielsweise hat gerade mitgeteilt, dass es für den Kleinwagen Zoe keinen Nachfolger geben soll. Größere Autos werfen eine höhere Rendite ab.
Das Gleiche ist beim Up von Volkswagen passiert und beim Smart. Auch bei Elektroautos gehen die Hersteller lieber in den High-End-Bereich. Da gibt es die Margen, die sie von den Verbrennern gewohnt sind. Aus Sicht der Unternehmen ist das verständlich. Aber als Gesellschaft brauchen wir schlicht andere Autos. Wir brauchen nicht zweieinhalb Tonnen schwere Autos für einen Besetzungsgrad von 1,2 Personen. Das ist absurd. Volkswirtschaftlich und ökologisch sinnvoll ist eine effiziente Mobilität und das heißt: kleinere Autos, eine viel bessere Nutzung, daher ein möglichst hoher Sharing-Anteil, möglichst wenig private Autos und starke Alternativen zum Auto, die effizienter sind, also Bus und Bahn, und bei kurzen Wegen zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren.
Wie will man eine große, etablierte und erfolgreiche Industrie dazu bewegen, gegen ihre unmittelbaren betriebswirtschaftlichen Interessen umzusteuern?
Vieles hängt an den Rahmenbedingungen, an der Regulierung. Wenn ich regulieren dürfte, dann würde ich schwere Autos höher besteuern als leichte. Ich würde kleine Autos mit einer geringeren Parkgebühr belegen als große Autos. Ich würde gleichzeitig den öffentlichen Verkehr stärken und damit auch die Autoindustrie einladen, in diesen Bereich zu gehen. Warum muss das immer alles die Deutsche Bahn machen? Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass auch andere Unternehmen im öffentlichen Verkehr aktiv werden.
Die FDP lehnt "unverhältnismäßige Verbote in der Mobilität" ab. "Wir setzen auf Innovationen, Vernunft und Freiheit", heißt es in ihrem Programm. Ist klimafreundliche Mobilitätspolitik ohne Verbote möglich?
Nein, aber auch jetzt ist es ja nicht so, dass alles erlaubt ist. Und Innovationen sind eine schöne Sache, aber bei der FDP ist es so, dass sie technologisch "auf den Skat reizt".
Das müssen Sie erklären.
Beim Skatspielen ist es ziemlich riskant, wenn man darauf hofft, dass man im Skat - den beiden Karten, die man zusätzlich zum eigenen Blatt aufnimmt, wenn man das Spiel an sich zieht - zwei Buben oder zwei Asse findet. Wenn es um nichts geht, kann man so spielen, um die Spannung zu erhöhen. Aber in einem Skat-Turnier sollte man das besser lassen. Natürlich kann man einen Verbrenner mit synthetischen Kraftstoffen befeuern - das ist ja in der Regel gemeint, wenn von "Technologieoffenheit" die Rede ist. Aber dann braucht man das Fünf- bis Siebenfache an Inputenergie. Einfach zu sagen: Da wird schon irgendwas erfunden, um dieses Problem zu lösen. Das kann man machen, aber es ist eben Reizen auf den Skat.
Sie haben gesagt, es sollte möglichst wenig private Autos geben. Warum reicht es nicht, alle Verbrenner durch E-Autos zu ersetzen?
In Deutschland sind 48,6 Millionen private PKW zugelassen. Theoretisch könnte man die auch elektrisch antreiben, aber der Ressourcenaufwand und der zusätzliche Strombedarf wären immens. Und ein Problem hätten wir damit nicht gelöst: das des Platzes. Wir hätten weiterhin in den Städten gigantische Blechlawinen. Auch Elektroautos werden im Durchschnitt 23 Stunden und 10 Minuten pro Tag stehen.
Ein Auto wird im Schnitt nur 50 Minuten täglich bewegt?
Ja. Wir haben seit Jahren einen Anstieg der absoluten Zahl der Fahrzeuge und eine sinkende Kilometerzahl pro Jahr. Ein durchschnittliches Auto fährt weniger als 14.000 Kilometer im Jahr. Wir haben also immer mehr Autos, die immer weniger gefahren werden. Das ist ja auch klar: Man kann seinen Erst-, Zweit- und Drittwagen nicht gleichzeitig fahren. Und abgesehen vom Ressourcenaufwand verursacht die Ausweitung der Flotte ein immer größer werdendes Platzproblem. Gleichzeitig werden die Autos immer größer, so dass der Platzbedarf noch weiter steigt. Im Moment wird in verkehrspolitischen Fachkreisen sogar ernsthaft diskutiert, ob die Normgröße für Parkplätze im öffentlichen Raum erhöht werden sollte.
Vor zwei Jahren lehnte in einer Umfrage eine Mehrheit autofreie Innenstädte ab.
Ein paar Monate später ergab eine Umfrage des WZB in zwei Berliner Stadtvierteln, dass eine Mehrheit dafür ist, dass in ihren Kiezen keine privaten Autos mehr parken dürfen. Aber bei solchen Fragen gibt es immer unterschiedliche Interessen. Nicht nur zwischen Innenstadt und Stadtrand oder zwischen Fußgängern und Autofahrern. Viele Menschen haben bei diesem Thema mehrere Interessen gleichzeitig. Mal sind sie mit dem Auto unterwegs, mal zu Fuß, mal mit dem Fahrrad, mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Dann sind sie noch Anwohner, die vielleicht keine Lust darauf haben, dass in ihrer Straße das Auto alles dominiert. Bleiben wir beim Beispiel Berlin: Innerhalb des S-Bahn-Rings leben 1,4 Millionen Menschen. Dort haben weniger als 50 Prozent aller Haushalte ein Auto. Mit anderen Worten: Die Mehrheit der Menschen dort hat gar nichts davon, dass ihre Straßen mit Autos vollgestellt sind.
In Berlin ist Mobilität auch außerhalb des S-Bahn-Rings noch ohne Auto möglich. Aber wie sieht die Zukunft der Mobilität am Stadtrand oder auf dem Land aus?
Auf dem Land ist das Auto vorerst wohl alternativlos. Wobei natürlich auch auf dem Land viele Wege zu Fuß oder mit dem Rad gemacht werden können. Aber dass man da ein Auto braucht, um flexibel zu sein, wird sich für lange Zeit nicht ändern. Nur werden die elektrisch sein. Und sie werden häufiger mit der eigenen Photovoltaikanlage betankt werden.
Das Problem ist nicht der ländliche Raum, sondern die Städte und vor allem die Vorstädte, die Speckgürtel. Künftig wird man von dort nicht mehr mit dem Auto in die Stadt fahren können. Dafür muss nicht nur der Takt der öffentlichen Verkehrsmittel gut sein, sondern auch die Anbindung, und dafür braucht es Parkhäuser und auch Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen im Umland von Städten. Der Weg zur S-Bahn oder zur Regionalbahn ist häufig nicht länger als fünf, sechs oder vielleicht auch mal acht Kilometer. Mit dem Pedelec ist das kein Problem - aber dann muss ich das Rad dort sicher abstellen können. Solche Schnittstellen sind entscheidend.
Was wären zwei oder drei Dinge, die aus Ihrer Sicht relativ leicht verändert werden könnten, um die Mobilität in Deutschland ein bisschen nachhaltiger zu organisieren?
Das Erste ist: Wir brauchen ganz schnell und mit gesicherter Finanzierung eine Nachfolge des 9-Euro-Tickets. Aus meiner Sicht wären 29 Euro gut, aber meinetwegen auch 49 Euro - Hauptsache, man kann das Ticket überall in Deutschland benutzen und muss nicht mehr über Zonen und Waben nachdenken. Zweitens natürlich ein Tempolimit. Die CO2-Einsparungen liegen, je nachdem, wie man rechnet, bei zwei bis vier Prozent. Kritiker sagen, das sei nicht viel, aber es ist nicht wenig und kostet fast nichts. Der dritte Punkt wäre, Anreize zu schaffen für effiziente, kleinere Autos mit Elektroantrieb sowie alle Möglichkeiten des Sharings regulativ zu erleichtern.
Mit Weert Canzler sprach Hubertus Volmer
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 10. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de