
Präsident Selenskyj nutzt die direkten Kanäle täglich, um die Ukrainer zu informieren und motivieren.
(Foto: picture alliance/dpa/Pressebüro des ukrainischen Präsidenten via AP)
Aufnahmen aus der Ukraine fluten die sozialen Medien, und auch der ukrainische Präsident Selenskyj meldet sich täglich über Twitter und Co. Die Ukraine ist online - trotz der russischen Angriffe. Das Land tut viel dafür, das Internet am Laufen zu halten, denn ein Ausfall hätte verheerende Folgen.
Ein junges ukrainisches Mädchen steht auf einer umgedrehten Kiste in einem Luftschutzbunker und singt den Disney-Song "Let it go". Das Video ging ebenso schnell um die Welt, wie das der ukrainischen Band, die dem Sänger Ed Sheeran in voller Kampfmontur anbot, per Live-Video auf seinem Solidaritätskonzert aufzutreten oder die Berichte einer Jugendlichen aus dem Bunker-Alltag. Seit Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine startete, verbreiten sich Bilder und Videos von dort beinah in Echtzeit im Internet. Die Ukraine ist online - und zeigt der Welt ganz ungefiltert die Brutalität der russischen Angriffe und die immer größer werdende Not der Bevölkerung.
Möglich ist das, weil der größte Teil des Landes trotz Belagerung und Bombardierung noch immer ans Internet angeschlossen ist. "Aktuell geht die in London ansässige Firma NetBlocks davon aus, dass die Zahl der mit dem ukrainischen Internet verbundenen Geräte seit Kriegsbeginn um knapp ein Viertel zurückgegangen ist", sagt Heiko Pleines, Leiter der Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, gegenüber ntv.de. "Im größten Teil des Landes liegt das aber weniger an technischen Problemen als daran, dass Menschen in Luftschutzbunkern oder auf der Flucht weniger oft online sind als vorher in ihrem normalen Leben." Allerdings gilt das nicht für alle Teile der Ukraine. Der große Internetprovider "Kyivstar" gab jüngst bekannt, dass die Angriffe den Dienst in der Hafenstadt Mariupol lahmlegten.
Dass die Zerstörung der Internet-Infrastruktur dennoch weitaus geringer ausfällt, als es Experten voraussagten, könne daran liegen, dass Moskau damit rechnete, die Infrastruktur selbst zu benötigen, sobald es das Land besetzt hat, sagte John Ferrari, Senior Fellow am American Enterprise Institute, in der "Washington Post". Außerdem benötigen "möglicherweise auch die russischen Truppen in der Ukraine das Internet, um miteinander zu kommunizieren".
Gute Vorbereitung
Der Hauptgrund für die stabile Datenversorgung dürfte jedoch woanders liegen. "Das Internet funktioniert im größten Teil der Ukraine wohl noch, weil sich die Ukraine gut vorbereitet hat", erklärt Pleines. Im Jahr 2015 hackte Russland die ukrainischen Stromversorger und schaltete den Strom für Zehntausende Menschen ab. Seitdem hat das Land an seiner Cyberabwehr gearbeitet. "Inzwischen ist kein Szenario mehr vorstellbar, bei dem Russland in der Lage wäre, unsere fortgeschrittene Digitalisierung signifikant zu sabotieren", sagte der ukrainische Digitalminister Mykhailo Fedorov im Interview mit dem "Spiegel". Schon vor Kriegsbeginn wurde die Ukraine vom Wirtschaftsmagazin "The Economist" als führend in der digitalen Kriegsführung bezeichnet.
Das liegt zunächst an der physischen Infrastruktur, aus der das Internet in der Ukraine besteht. Diese "ist gut entwickelt und umfasst oft mehrere Glasfaserleitungen, die dieselben Gebiete abdecken können", sagte Doug Madory, der Leiter der Internet-Analyse bei dem US-Unternehmen Kentik, das den globalen Datenfluss überwacht, in der "Washington Post". Die russischen Truppen müssten also mehrere Sendemasten ausschalten, um das Internet in einem Gebiet lahmzulegen, erklärt Osteuropa-Experte Pleines. Zudem gebe es in der Ukraine viele kleine und mittelgroße Internetanbieter, die zwar unabhängig voneinander operieren, sich nun aber gegenseitig helfen, Kriegsschäden zu reparieren.
Die Anbieter schicken Mitarbeiter in Gebiete, in denen das Internet wegen der Angriffe oder wegen Stromausfalls gestört ist, um es zu reparieren. "Diese Leute sind Helden, sie riskieren ihr Leben, um den Betrieb am Laufen zu halten", betonte Minister Fedorov im "Spiegel".
Das Netz ist wichtig fürs Überleben der Ukrainer
Das Unternehmen "Kyivstar" stellt sogar Internetdienste für mehr als 200 Bunker im Land bereit, wie die "Washington Post" berichtete. Zusätzlich hat das Land Internetterminals von der Firma "SpaceX" von Elon Musk erhalten.
Die Ukraine tut viel dafür, das Internet am Laufen zu halten. Anna Litvinenko beschäftigt sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin mit osteuropäischen Medien. Sie findet es nicht verwunderlich, dass Kiew sich so massiv für das Netz einsetzt, denn "es spielt derzeit auch eine wichtige Rolle für das Leben der Ukrainer". So gibt es zwar Fliegeralarm, viele nutzen jedoch Telegram, Instagram, Facebook und verschiedene Warnapps, um zu sehen, wann die nächste Bombardierung kommt. "Über das Internet aktualisieren sich die Informationen einfach sehr schnell", sagt Litvinenko ntv.de. Im Krieg könne so etwas über Leben und Tod entscheiden. Auch werden digitale Flugblätter im Eiltempo verbreitet, etwa mit taktischen Anleitungen für den Schutz vor Scharfschützenfeuer oder dem Bau von Straßenblockaden.
Zudem ist die übliche Funktion der sozialen Medien im Krieg noch wichtiger geworden: Für die Menschen sind sie der einfachste Weg, Kontakt zu halten - sowohl mit ihren Angehörigen als auch mit der ukrainischen Regierung und Verwaltung. So setzt vor allem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von Beginn an auf den direkten Kanal. Einerseits, um die Bevölkerung fast in Echtzeit mit Informationen zu versorgen und andererseits um ihr Durchhaltevermögen mit täglichen emotionalen Videos, Bildern und Ansprachen zu stärken. Auch kann er auf Propaganda reagieren, noch bevor sie sich in den Köpfen der Menschen festsetzt. So ging das Selfie-Video, das den ukrainischen Präsidenten und sein ganzes Team in der Hauptstadt zeigt, um die Welt. Mit den Worten "Wir sind alle hier" stellte er damit kurz nach Kriegsbeginn klar, dass er nicht außer Landes geflohen war.
"Wir haben also TikTok eingenommen?"
"Man darf den Einfluss von emotionaler Ermunterung nicht unterschätzen", erklärt Litvinenko. "Selenskyjs tägliche Posts und Auftritte sind wichtig, um die eigene Bevölkerung zu mobilisieren und die Moral zu stärken." Die sozialen Medien sind somit essenziell für die Verbindungen in der Ukraine. Allerdings sind sie ein ebenso wichtiger Bestandteil der Kommunikationsstrategie des Landes.
"Wir haben also TikTok eingenommen?", fragte Selenskyj bei einem Besuch von Kriegsopfern in einem Krankenhaus in Kiew. Der Moment wurde von einer Smartphone-Kamera aufgenommen und flimmert nun über die internationalen Smartphone-Bildschirme. Der Präsident musste bei seiner Frage schmunzeln, wollte er doch nur die 16-jährige Katya aufmuntern, die bei einem Raketenangriff verwundet wurde. Doch er hat recht. Die Flut an Bildern aus dem Kriegsgebiet, die auf TikTok, Instagram, Facebook und Telegram kursieren, stammen fast ausschließlich von einer Kriegspartei. Beinah alle wurden von ukrainischen Zivilisten und Soldaten aufgenommen.
Die Kommunikationsstrategie des Landes in den sozialen Medien bildet damit den Gegenpol zu der russischen Propaganda, die kaum Bilder aus dem Kriegsgeschehen zeigt. Im Gegenteil: Am 20. Februar beschloss das russische Parlament ein Gesetz, das den russischen Soldaten die Nutzung ihrer Smartphones im Dienst verbietet. Moskau erhoffte sich dadurch offensichtlich Vorteile im Bereich der Operations Security, also der Strategie zum Schutz kritischer Daten wie Truppenbewegungen, schreibt Social Media-Experte und Major der Bundeswehr Paul C. Strobel auf der Homepage von "Freundeskreis Heeresaufklärer". Dieses Vorgehen "stellte sich jedoch als großer Fehler heraus", denn die Deutungshoheit des Konfliktes lag bereits nach den ersten Tagen bei der Ukraine. Was aber bringt der Ukraine dieser "Sieg im Informationskrieg" in der militärischen Auseinandersetzung?
Dauerpräsenz im Westen
Es sei unwahrscheinlich, dass dadurch eine russische Bombe weniger falle, sagt Christian Pentzold von der Universität Leipzig im Gespräch mit ntv.de. "Allerdings kann man gar nicht überschätzen, wie wichtig die Dauerpräsenz der Ukraine im Westen ist." Tägliche Bilder von verletzten Kindern und trauernden Müttern auf den Smartphones der westlichen Welt schaffen eine Nähe zu dem osteuropäischen Land, die es vor dem Krieg nicht gab. "Unser Wissen über und Interesse für die Ukraine war vorher lückenhaft und sporadisch", sagt der Medienwissenschaftler. Das habe sich nun komplett geändert. Zudem spricht Präsident Selenskyj so oft wie möglich über Videokonferenzen in den Parlamenten der Welt. Mit acht bis zehn Regierungschefs habe er täglich Kontakt - mit vielen funktioniert der Austausch ganz einfach über Whatsapp, wie er kürzlich in einem Interview verriet.
Die direkte Kommunikation und ständige Präsenz der Ukraine sei die "Signatur dieses Kriegs", sagt Pentzold. Sie ermögliche es der Ukraine, ihre Interessen im Westen zu kommunizieren und zu vertreten. Das Konzept geht auf: Die Ukraine hat die westliche Gesellschaft auf ihrer Seite. "Außerdem ist bereits ein starkes antirussisches Meinungsklima entstanden", so der Kommunikationswissenschaftler. Dadurch steige die politische Erwartungshaltung: Menschen aus Großbritannien, Deutschland und den USA fordern von ihren Regierungen, die Interessen der Ukraine zu berücksichtigen. Bei einigen der vom Westen verhängten Sanktionen hat dies bereits funktioniert - so gehörte der Ausschluss russischer Banken vom SWIFT-System zu den Forderungen der Ukraine. Bei anderen Fragen wie dem Öl- und Gasembargo- erhöht sich der Druck auf die Politik.
Die Ukraine nutzt die sozialen Medien allerdings nicht nur, um den Westen zu erreichen. "Es wird ebenso versucht, auf die russische Öffentlichkeit einzuwirken", erklärt Litvinenko. So eröffnete das ukrainische Innenministerium zum Beispiel einen Telegram-Kanal auf russisch, auf dem Bilder und Videos von russischen Kriegsgefangenen gepostet werden. Familienangehörige in Russland sollen entgegen der Propaganda aus Moskau auf den Krieg aufmerksam gemacht werden, sagt die Medienwissenschaftlerin. Im Interview mit dem "Spiegel" nannte der ukrainische Digitalminister Mykhailo Fedorow das Ziel der Kontaktaufnahme mit der russischen Bevölkerung: "Wir glauben, dass es eines Tages einen Wendepunkt geben wird und die Menschen in Russland aktiv werden." Auch das Interview Selenskyjs mit russischen Exil-Journalisten wurde aus diesem Grund geführt und auf möglichst vielen Kanälen verbreitet, so Litvinenko.
Auch die Armee ist online
Schließlich ist auch die ukrainische Armee auf das Internet angewiesen. Zum einen hat das Land eine IT-Armee aus "Tausenden Spezialisten, Firmen und Freiwilligen" aufgebaut, die sich nicht nur gegen digitale Angriffe zur Wehr setzt, sondern auch für "die größten Cyberangriffe in der russischen Geschichte" verantwortlich ist, wie der ukrainische Digitalminister dem "Spiegel" sagte. Zum anderen findet auch die militärische Planung online statt.
Eine Regierungs-App, die ursprünglich für den Zugang der Bevölkerung zu öffentlichen Diensten gedacht war, gibt den Ukrainern nun die Möglichkeit, ihrer Armee die Position russischer Panzer und Soldaten zu melden. Social Media-Experte Strobel schreibt, dass auch in den sozialen Medien "Truppenbewegungen, Angriffe und ihre Folgen geteilt und von OSINT-Spezialisten und Amateuren analysiert werden". Auch betreibe der ukrainische Militärgeheimdienst einen eigenen Telegram-Kanal, "dem man Aufnahmen russischer Truppenbewegungen zuspielen kann", so Strobel. Dies helfe dabei, "ein erstaunlich präzises öffentliches Lagebild zu schaffen, das laufend aktualisiert wird".
Beinah alle Bereiche der Ukraine sind darauf angewiesen, online zu sein. Ein längerer Ausfall könnte die Koordination der Armee stören und die Interessenvertretung im Westen erschweren. Für die Bevölkerung wäre die komplette Abkopplung vom Netz jedoch wohl am verheerendsten, denn eine ständige Versorgung mit aktuellen Informationen wäre dann ebenso wenig möglich wie der schnelle Kontakt zu Angehörigen. "Kriegsentscheidend sind am Ende zwar Raketen und Panzer", sagt Pentzold. Es sei jedoch von nationaler Bedeutung, das Internet am Laufen zu halten. "Deswegen wird da so viel Energie reingesteckt."
Quelle: ntv.de