
Mehrfach täglich wendet sich Selenskyj über seine Social-Media-Kanäle an die Welt.
(Foto: via REUTERS)
Der ukrainische Präsident Selenskyj weiß, wie man eine Heldengeschichte erzählt. Mit seinen Auftritten kann er den militärischen Nachteil seines Landes im Krieg gegen Russland ein Stück weit ausgleichen.
Wir erleben den ersten Krieg in Europa unter den Bedingungen einer globalen Social-Media-Öffentlichkeit. Niemals zuvor war die Nutzung sozialer Netzwerke bei einer kriegerischen Auseinandersetzung auf unserem Kontinent so intensiv. Sowohl bei den Konfliktparteien als auch beim Publikum. Authentische wie auch manipulierte Handyvideos sind das Medium dieses Kriegs. Mit all seinen Gräueln wird der Krieg in Echtzeit der globalen Öffentlichkeit zugeführt. Wir schauen zu mit dieser Mischung aus Bestürzung und Anspannung, die sich so schwer in Worte fassen lässt.
Soldaten, Reporter und Zivilisten im Kriegsgebiet haben ihre Smartphones in der Tasche. Angesichts der Tötung von Menschen durch reale Waffen erscheint die oft bemühte Metapher vom Smartphone als "Waffe im Informationskrieg" der blutigen Realität vollends unangemessen. Was man aber feststellen muss: Social Media ist zum strategischen Kriegsschauplatz geworden. Russland weiß das schon lange für sich zu nutzen. Seit der Kreml massiv in digitale Desinformation investiert, stirbt die Wahrheit nicht erst im Krieg. Sie stirbt schon vorher, um den Krieg vorzubereiten. Russland bestreitet diesen Angriffskrieg auch als Desinformations-Großmacht.
Seit Kriegsbeginn sieht sich Russland nun aber mit einer bemerkenswerten Volte konfrontiert: Wolodymyr Selenskyj führt einen äußerst effektiven kommunikativen Verteidigungskrieg. Hauptsächliche Arena sind die sozialen Medien. Seit der russischen Invasion posten Selenskyj und sein Team im Stundentakt. Telegram, Facebook, Twitter und Instagram sind seine wichtigsten Kanäle. Dort folgen ihm Millionen von Menschen. Auf Telegram postet er zahlreiche Videostatements, teils als Selfie, teils am Rednerpult aufgenommen. Auf Twitter dokumentiert und kommentiert Selenskyj seine Gespräche mit anderen Staatschefs.
"Wie kann ich selber Nazi sein? Erzählen Sie das mal meinem Großvater"
Um die Strategie hinter seinen Beiträgen zu verstehen, muss man Selenskyjs Zielgruppen analysieren. Er scheint drei Ziele gegenüber drei Zielgruppen zu verfolgen: Erstens will er den Bürgerinnen und Bürgern seines Landes Mut zusprechen. Und zum Kämpfen auffordern. Offenbar gelingt ihm das: Nicht nur scheint seine Truppe eine äußerst hohe Moral zu haben. Videos zeigen auch, wie sich Zivilisten an manchen Orten allein mit ihren Körpern den Panzern der Invasoren entgegenstellen. Selenskyj dürfte Mobilisierung und Motivation seiner Landsleute auch deshalb gelingen, weil er auf Augenhöhe, mit Optimismus, ohne Floskeln, dafür sehr persönlich und schon mehrmals von der Straße zu ihnen spricht. Seine Botschaft: Wir kämpfen zusammen, wir gewinnen zusammen. Das ist beeindruckendes Leadership. Und er widerlegt schnell und ständig russische Desinformation. Putin setzt kommunikativ mittlerweile verstärkt auf taktische Desinformation. Seine Propaganda beinhaltet Lügen über die Situation auf dem Schachtfeld, beispielsweise, dass bestimmte Gebiete eingenommen worden seien, massenweise ukrainische Soldaten kapitulieren würden oder Selenskyj selbst das Land verlassen habe. Selenskyj hält dagegen und zeigt sich auf den Straßen Kiews mit Regierungskollegen.
Zweite Zielgruppe ist die russische Bevölkerung. Zu ihnen spricht er auf Russisch. Auch an sie ist die Widerlegung von Putins Propaganda gerichtet. "Die Ukraine in euren Nachrichten und die Ukraine in der Realität sind zwei komplett unterschiedliche Länder", sagt Selenskyj in solchen Videos. Oder: "Wie kann ich selber Nazi sein? Erzählen Sie das mal meinem Großvater, der im Zweiten Weltkrieg starb." Selenskyj dankt auch den mutigen Protestierenden in Russland. Natürlich hört man über die russischen Staatsmedien nichts von den Botschaften des ukrainischen Präsidenten. Aber er verbreitet diese vornehmlich in Videos über Telegram, das von rund einem Viertel der russischen Bevölkerung genutzt wird. Dort kann er den einen oder anderen erreichen. Es sind Nadelstiche in das Narrativ des Kremls. Zusammen mit der Kriegskritik einzelner russischer Promis und Influencer, Bildern von den Schlagen vor Bankautomaten und anderen Sanktionsfolgen entsteht in den sozialen Medien in Russland zumindest in Ansätzen ein Gegendiskurs zu Putins Propaganda. Selenskyj liefert die passenden und teilbaren Videoclips dazu.
Das hat mit Schauspiel nichts zu tun
Drittens erreicht der ukrainische Präsident die globale Öffentlichkeit. Allen voran geht es ihm um die westlichen Staaten, deren Unterstützung er unermüdlich erbittet. Selenskyj beschwört das Narrativ von der "Anti-Kriegskoalition". So twittert er beispielsweise, dass Frankreich Waffen und Militärausrüstung auf den Weg geschickt habe oder Portugal den Ausschluss von Russland aus Swift unterstütze. "The anti-war coalition is working!", setzt er an das Ende solcher Tweets. Damit übt er öffentlichen Druck auf diejenigen Länder aus, die sich bislang noch zurückhalten. Natürlich erreichen auch seine Selfies und Reden die globale Öffentlichkeit. Längst wird er als Held gefeiert. Nicht nur, weil er wohl tatsächlich einer ist, sondern auch, weil er weiß, wie man eine Heldengeschichte erzählen muss.
Auch die deutsche Öffentlichkeit reagiert mit Verehrung, manche Social-Media-Nutzenden gar mit Personenkult. Das ist politisch und emotional nachvollziehbar. Selten sind die Rollen von Freund und Feind so eindeutig verteilt wie in diesem Angriffskrieg. Dennoch muss man fragen: Wie viel Gewissensberuhigung steckt in unserer heutigen Verehrung angesichts unserer Unterlassungen von gestern? Den Status des Kriegshelden hat sich Selenskyj sicher nicht gewünscht.
Selenskyj führt einen Verteidigungskrieg gegen Putin und eine Kommunikationsoffensive auf der ganzen Welt. Entstanden ist der größtmögliche Kontrast im Erscheinungsbild zwischen Selenskyj und Putin. Putin als kriegsverbrecherischer Diktator, einsam und grimmig im Palast zwischen groteskem Mobiliar. Selenskyj als tapferer Freiheitskämpfer mit seinen Kameraden auf der Straße, lächelnd und entschlossen. Natürlich kommt dem früheren Schauspieler und Comedian dabei sein Redetalent und Gespür für das richtige Bild zugute. Aber man sollte nicht den Fehler machen, Komödie und Krieg durcheinander zu bringen. Das ist nicht "der Auftritt seines Lebens", wie am Wochenende eine deutsche Tageszeitung titelte. Selenskyj hat sich diese "Bühne" nicht ausgesucht. Was er in diesem Tagen tut, hat nichts mit Schauspiel und Inszenierung zu tun. Ein Krieg wird in mehreren Disziplinen ausgetragen. Militärisch ist Russland überlegen. Aber im kommunikativen Bereich agiert Selenskyi derart clever, dass er durch die Motivation seiner Leute, die Aufklärung russischer Bürger und die Druckausübung auf westliche Länder, seinen militärischen Nachteil bislang ein Stück weit ausgleichen kann. Selenskjy liefert ein Meisterstück der strategischen Kommunikation.
Quelle: ntv.de