
Ein schwieriger Partner: Kanzlerin Merkel mit Präsident Erdogan.
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In der Böhmermann-Affäre steht Kanzlerin Merkel noch treu zum türkischen Präsidenten Erdoğan. Doch mittlerweile ist ihre Geduld am Ende.
In der Politik muss man oft genau hinhören, um in den Verlautbarungsfloskeln etwas Zählbares herauszuhören. Am Mittwoch ist das nicht so schwer. Sie betrachte die Dinge mit großer Sorge, sagte Kanzlerin Angela Merkel über die Lage in der Türkei. Große Sorge – in der Sprache der Diplomatie ist das scharfe Kritik. Im Frühling war der deutschen Regierungschefin noch vorgeworfen worden, zu nachsichtig mit der Türkei und mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu sein. Die Äußerungen Merkels in den vergangenen Monaten zeigen jedoch, wie sich beide Seiten voneinander entfernt haben.
Es ist der 3. April, an dem Merkel das "Schmähkritik"-Gedicht Jan Böhmermanns als "bewusst verletzend" bezeichnet. Zwei Wochen später gibt die Bundesregierung dem türkischen Strafantrag gegen den Satiriker nach. Die Kritik in Deutschland ist groß. Der Vorwurf: Um den Flüchtlingsdeal mit der Türkei nicht zu gefährden, gehe die Kanzlerin einem Konflikt mit Erdoğan aus dem Weg. Im ZDF-Politbarometer bricht ihre Popularität ein. 80 Prozent der Befragten sagen, sie nehme zu viel Rücksicht auf Erdoğan. Merkel rudert zurück, später bezeichnet sie ihre Äußerung über Böhmermann als Fehler. Dadurch sei der Eindruck entstanden, ihre persönliche Bewertung zähle.
Regierungssprecher Steffen Seibert lobt die Türkei am 4. Mai. Angesprochen auf eine Visaliberalisierung sagt er: "Die Bundesregierung begrüßt zunächst einmal die großen Fortschritte, die die Türkei bei der Erfüllung der Kriterien für den visafreien Reiseverkehr identifiziert hat. Die Kommission identifiziert auch sehr klar die Maßnahmen, die von der Türkei noch zu ergreifen sind." Ein paar Tage später mahnt Seibert im Hinblick auf die umstrittenen Prozesse gegen türkische Journalisten: "Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Türkei, die ja ein langjähriger Nato-Partner und ein EU-Beitrittskandidat ist, auch die Grundprinzipien ihrer eigenen Verfassung bewahrt - insbesondere die der Unabhängigkeit der Justiz und des Rechts auf ein faires Verfahren."
"Ihr Blut muss durch einen Labortest untersucht werden"
20. Mai, Europa schaut wieder in Richtung Türkei: Das Parlament in Ankara hat die Aufhebung der Immunität von 150 Abgeordneten beschlossen. Merkel erfüllt die "zunehmende Polarisierung mit Sorge". Ihr Sprecher Seibert macht deutlich, dass der 1. Juli, der angestrebte Termin für die Visumsfreiheit für Türken, nicht mehr haltbar ist. Der Grund: die Weigerung der Türkei, ihre Anti-Terror-Gesetze zu reformieren. Am 24. Mai droht Erdoğan überraschend mit dem Scheitern des Flüchtlingsdeals für den Fall, dass die Visagespräche keine Fortschritte bringen. Es vergeht jetzt kaum ein Tag, an dem sich die Bundesregierung nicht über die Türkei äußern muss. Seibert gibt sich versöhnlich, als er Anfang Juni auf das Verhältnis zur Türkei angesprochen wird. Die Beziehungen zur Türkei seien sehr tief. "Wir sind enge Verbündete in der Nato. Unsere Wirtschaften sind miteinander verzahnt und verflochten", sagt er in der Bundespressekonferenz. "Eine solche Art von Beziehung kann und wird auch Meinungsunterschiede aushalten."
Die Probe kommt am 3. Juni, aber die deutsch-türkischen Beziehungen bestehen sie nicht. Der Bundestag verabschiedet eine Resolution, in dem er das Massaker an den Armeniern erstmals offiziell als Völkermord einstuft. Merkel ist bei der Abstimmung nicht anwesend, aber für die türkische Regierung macht es das nicht besser. Erdoğan ist wütend. Er warnt, Deutschland könne einen "wichtigen Freund" verlieren. "Schande über euch", titelt die türkische Zeitung "Hürriyet". Wer glaubt, dass der Ärger schnell verfliegt, wird enttäuscht. Deutschland sei das letzte Land, das über einen Völkermord abstimmen solle, ätzt Erdoğan. Über die türkischstämmigen Abgeordneten im Bundestag schwadroniert er: "Manche sagen, das seien Türken. Was denn für Türken bitte? Ihr Blut muss durch einen Labortest untersucht werden." Politiker wie Cem Özdemir erhalten Morddrohungen und Polizeischutz. Daraufhin gewinnen auch die Äußerungen der Kanzlerin an Schärfe. "Die Vorwürfe und die Aussagen, die da jetzt gemacht werden von der türkischen Seite, halte ich für nicht nachvollziehbar. Die Abgeordneten des Bundestags sind frei gewählte Abgeordnete, ausnahmslos", sagt sie.
Merkel applaudiert bei Erdoğan-Schelte
Seibert erklärt, Drohungen könnten kein Mittel sein. Auch tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten müssten ausgehalten werden. "Das entspricht der engen Verbindung unserer beiden Völker. Das entspricht auch dem guten Zusammenleben, das wir hier in Deutschland mit Millionen von türkischstämmigen Mitbürgern haben und an dem uns viel liegt." Am 9. Juni kritisiert Bundestagspräsident Norbert Lammert im Parlament Erdoğan scharf. "Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten." Die Kanzlerin macht etwas, das sie im Bundestag selten tut: Sie applaudiert. Erdoğan verbietet deutschen Politikern daraufhin den Besuch von Bundeswehrsoldaten auf dem Nato-Stützpunkt Incirlik. In Berlin ist die Empörung groß. Nicht wenige Parlamentarier bringen jetzt den Abzug der Bundeswehr ins Gespräch.
Beim Nato-Gipfel in Warschau sprechen Merkel und Erdoğan am 9. Juli miteinander. Die Kanzlerin fordert ein Ende des Besuchsverbotes, doch der türkische Präsident bleibt hart. "Es ist nicht das erste Mal in der Politik, dass ein erstes Gespräch noch nicht reicht", sagt Merkel hinterher und betont: "Es ist notwendig, dass unsere Abgeordneten nach Incirlik reisen können, dass sie unsere Soldaten besuchen können." Am Abend des 15. Juli kommt unfreiwillig Ruhe in den Streit. Türkische Militärs wagen den Aufstand, scheitern aber. Noch in der Putschnacht sichert die Bundesregierung ihre Solidarität zu. Einen Tag später richtet Merkel jedoch mahnende Wort an ihn: "Gerade im Umgang mit den Verantwortlichen für die tragischen Ereignisse der letzten Nacht kann und sollte sich der Rechtsstaat beweisen. Es ist tragisch, dass so viele Menschen diesen Putschversuch mit dem Leben bezahlt haben. Das Blutvergießen in der Türkei muss jetzt ein Ende haben."
Erdoğan lässt sich davon wenig beirren. Nach dem Putsch reagiert er mit Massenfestnahmen, Entlassungen und Ausreiseverboten. Sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe wird Thema. Die Bundesregierung reagiert für ihre Verhältnisse scharf. "Wir lehnen die Todesstrafe kategorisch ab. Ein Land, das die Todesstrafe hat, kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein", lässt Merkel über Seibert ausrichten. Eine unmissverständliche Warnung. Spätestens jetzt wird sichtbar, wie weit die Kanzlerin von Erdoğan abgerückt ist. Sie nimmt nun sogar in Kauf, dass das Flüchtlingsabkommen platzt.
Quelle: ntv.de