Politik

Inhaftierte Belarus-Politikerin "Wir wissen nicht, ob Maria Kolesnikowa noch lebt"

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Seit mehr als einem Jahr gibt es keine Informationen über Maria Kolesnikowa und mehrere weitere inhaftierte Oppositionelle.

Seit mehr als einem Jahr gibt es keine Informationen über Maria Kolesnikowa und mehrere weitere inhaftierte Oppositionelle.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Maria Kolesnikowa ist das Gesicht des belarussischen Widerstands gegen die Diktatur. Wenige Wochen nach einer Not-OP hinter Gittern verschwand sie im Februar 2023 spurlos. Ihre Schwester erzählt im Interview von der bisher erfolglosen Suche nach Kolesnikowa - und von Foltern, denen politische Gefangene ausgesetzt werden.

Maria Kolesnikowa ist das Gesicht des belarussischen Widerstands gegen die Diktatur des Kreml-Vertrauten Alexander Lukaschenko. Zusammen mit Swetlana Tichanowskaja und Weronika Tsepkalo, deren Männer nicht zur Präsidentschaftswahl 2020 zugelassen wurden, bildete sie ein Trio und forderte den Diktator heraus. Als sie im September 2020 vom Geheimdienst verschleppt wurde und gewaltsam ins Ausland abgeschoben werden sollte, zerriss sie ihren Pass und verhinderte so die Ausreise. Sie wurde zu elf Jahren Haft verurteilt. Wenige Wochen nach einer Not-OP hinter Gittern verschwand sie im Februar 2023 spurlos.

Im Interview mit ntv.de erzählt ihre Schwester Tatsiana Khomich von der bisher erfolglosen Suche nach Kolesnikowa. Seit mehr als einem Jahr fehlt von ihr jede Spur. Khomich, die sich für die Freilassung aller politischen Gefangenen in Belarus einsetzt, schildert Folter und Misshandlungen, denen die Menschen ausgesetzt sind. Sie spricht auch über Fallen, die ihnen Mithäftlinge stellen und warum sie der Tod von Alexej Nawalny sehr hart getroffen hat.

ntv.de: Wann haben Sie Ihre Schwester Maria zum letzten Mal gesehen?

Tatsiana Khomich: Im Juli 2022, damals waren noch kurze Videoanrufe erlaubt, wenn auch nur sehr selten. Im August erzählte sie ihren Anwälten, dass ihr gesagt wurde, sie werde nicht mehr mit ihrer Schwester sprechen. Danach gab es nur noch Telefonate ohne Video mit unserem Vater. Briefe durfte sie nur noch von nahen Verwandten bekommen. Den letzten Brief von ihr bekamen wir am 15. Februar 2023. Schon davor wurden immer mehr Briefe zensiert und es kamen immer weniger an. Sie schrieb auch immer kürzere Briefe, um die Zensur zu durchbrechen. Manche bestanden aus einem einzigen Satz: "Alles wird gut" oder "Mir geht es gut". Doch dann hörte die Korrespondenz ganz auf. Anrufe sind nicht mehr möglich. Anwälte dürfen sie auch nicht mehr besuchen.

Tatsiana Khomich ist Schwester der inhaftierten belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa.

Tatsiana Khomich ist Schwester der inhaftierten belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa.

(Foto: REUTERS)

Wie erklären die Behörden ihr Verschwinden?

Die Verwaltung der Strafkolonie sagt, es gebe keine Beschränkungen. Unser Papa war in der Kolonie und sie haben ihm gesagt, Maria wolle nicht mehr schreiben, deswegen gebe es keine Briefe. Sie wolle nicht mit uns sprechen, deswegen gebe es keine Telefonate. Und ihren Anwalt will sie angeblich auch nicht sehen.

Aber das glauben Sie nicht?

Natürlich nicht. Natürlich ist es eine Lüge. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Maria seit einem Jahr mit niemandem kommunizieren will. Es ist klar, dass diese Einschränkung der Kommunikation mit der Außenwelt eine absichtliche Folter ist. Davon haben wir auch schon von vielen Verwandten anderer politischer Gefangener gehört.

Seit mehr als einem Jahr haben Sie nichts von ihrer Schwester gehört?

Wir haben bei allen zuständigen Behörden gefragt - bekamen aber überall nur abweisende Antworten. Sie sagen nicht einmal, wo sie ist und unter welchen Bedingungen sie gefangen gehalten wird. Wir wissen nicht, wie es ihr geht und ob sie überhaupt noch lebt. Im vergangenen Sommer bekamen wir von einer anonymen Quelle die Information, dass sie in eine Einzelzelle verlegt worden sei. Dort sitze sie in voller Isolation, ohne Kontakt zu anderen Häftlingen. Sie dürfe 30 Minuten pro Tag im Hof spazieren gehen und einmal pro Woche die Dusche benutzen. Die Bedingungen sind also nicht so schlimm wie in einer typischen Strafisolationszelle. Aber sie hat demnach eben keine Möglichkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Ob die Infos stimmen, wissen wird aber nicht.

Im November 2022 kam Maria mit einem aufgebrochenen Magengeschwür ins Krankenhaus und wurde notoperiert. Danach durfte ihr Vater sie einmal für zehn Minuten sehen. Wenige Wochen später brach der Kontakt ab. Glauben Sie, dass Marias Verschwinden mit ihrem Gesundheitszustand zusammenhängt?

Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass es sich eher um ein systematisches Vorgehen handelt. Denn auch über andere prominente Oppositionelle wie Wiktor Babariko, Sergej Tichanowski, Mikola Statkewitsch oder Maxim Snak gibt es genauso lange keinerlei Informationen mehr.

Und woran könnte das liegen? Warum gibt es ausgerechnet seit Januar/Februar 2023 diese neue "Taktik"?

Ich glaube, dass das Regime damit gerechnet hat, dass die politischen Gefangenen vergessen werden. Aber das ist nicht passiert: Viel zu viele Menschen haben das selbst durchgemacht, viel zu viele sitzen immer noch hinter Gittern, viel zu viele werden auch weiterhin täglich festgenommen. Dass die politischen Gefangenen nicht vergessen werden, zeigen auch Umfragen. Im August 2021, mehr als ein Jahr nach seiner Festnahme, war Wiktor Babariko immer noch der beliebteste Politiker des Landes.

Es geht auch darum, sie psychologisch zu brechen. Incommunicado, der völlige Entzug jeglicher Kommunikationsmöglichkeit, ist eine der grausamsten Foltermethoden. Es geht zudem um die Einschüchterung von Menschen, die in Belarus geblieben sind und jene, die geflohen sind. Die Menschen sollen die Hoffnung verlieren.

Am 16. Februar starb der berühmteste russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hinter Gittern. Wie haben Sie auf seinen Tod reagiert?

Es ist sehr schmerzhaft für mich, denn es zeigt, wie autoritäre Regime die Menschen behandeln. Menschliches Leben ist für sie nichts wert. Und ich habe Angst: um Maria und all die anderen (aktuell gibt es in Belarus mehr als 1400 politische Gefangene, Anm. d. Red.). Als es vor seiner Verlegung in das Gefängnis in der Polarregion im Dezember wochenlang keine Informationen über Nawalny gab, herrschte Panik. Wir sind jetzt seit einem Jahr in dieser Situation. Das ist sehr beängstigend und beunruhigend. Ich denke, das Regime zielt darauf ab, die Angehörigen zu lähmen, sie einzuschüchtern.

Sie sind Mitglied des Koordinierungsrates der Exil-Regierung von Swetlana Tichanowskaja und Leiterin der Arbeitsgruppe, die sich mit der Freilassung von politischen Gefangenen befasst. Das heißt, Sie engagieren sich nicht nur für Ihre Schwester, sondern auch für andere Gefangene?

Die Grundidee besteht darin, die Freilassung der politischen Gefangenen zum Hauptziel der demokratischen Kräfte zu machen. Vor wenigen Wochen starb der Oppositionelle Ihar Lednik hinter Gittern, Mitte Januar der Aktivist Wadim Chrasko, im vergangenen Sommer der Künstler Ales Puschkin und zwei Monate zuvor ein weiterer politischer Gefangener, Nikolai Klimowitsch. Ich glaube, wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, selbst Verhandlungen mit dem Regime, um die Menschen zu befreien oder zumindest die Haftbedingungen zu verbessern. Wir wissen aktuell von über 100 Menschen, die schwerkrank sind und sie werden entweder gar nicht oder nicht ausreichend behandelt. Viele werden ihre eigene Freilassung leider nicht mehr erleben.

Was wissen Sie darüber, wie politische Gefangene behandelt werden?

Durch Berichte von ehemaligen Gefangenen wissen wir, dass viele geschlagen, misshandelt, mit Elektroschocks gefoltert werden. In Nawapolazk, wo unter anderem Wiktor Babariko gefangen gehalten wird, beteiligte sich der Leiter der Kolonie an der Folter. Die Gefangenen arbeiten zudem unter miserablen Bedingungen, unter anderem mit gesundheitsschädlichen Stoffen oder draußen bei eisiger Kälte. Politische Gefangene werden mit gelben Aufnähern markiert, sie werden häufiger als andere Häftlinge kontrolliert und oft wegen kleinster Verstöße in die Strafzelle geworfen.

Wie sehen diese Strafzellen aus?

Es sind sehr kleine Betonräume von drei Quadratmetern. Im Winter ist es dort sehr kalt, man muss sich die ganze Zeit bewegen, um nicht zu frieren. Es gibt keine Sitzgelegenheiten. Das Bett ist an der Wand angebracht und wird von den Wärtern nur nachts runtergelassen.

Wie sieht die Verpflegung aus?

Kürzlich wurde bekannt, dass ein politischer Gefangener an Skorbut erkrankt ist. Was muss man mit Menschen machen, wie schlecht müssen sie behandelt werden, dass man im 21. Jahrhundert an Skorbut erkrankt? Alle Gefangenen haben wegen Vitaminmangel und mangelhafter Hygiene Zahnprobleme. Ein Mann verlor im Gefängnis fast alle Zähne und musste sich nach der Freilassung eine Zahnprothese anfertigen lassen. Die Häftlinge erhalten kaum oder keine Hygieneartikel und sind auf Pakete von Verwandten angewiesen, die sie aber nur eingeschränkt erhalten. Menschen tragen zum Teil monatelang die Kleidung, die sie bei der Festnahme anhatten. Oft teilen sich mehrere Menschen eine Zahnbürste. Es geht so weit, dass freigelassene Frauen mitunter ihre Unterwäsche für die Mitinsassinnen zurücklassen. Seit April ist es verboten, Medikamente in die Untersuchungshaft zu schicken. Für kranke Menschen geht es dort um Leben und Tod.

Sie sprachen von gelben Markierungen für politische Gefangene. Werden sie auch von "normalen" Häftlingen schikaniert?

Um Druck auszuüben, werden sie oft mit Schwerverbrechern in eine Zelle gesperrt. Sie müssen mit Fallen der anderen Häftlinge im Auftrag der Gefängnisverwaltung rechnen.

Was können das für Fallen sein?

Maria erzählte mir von einer, als wir noch Kontakt hatten: Eine Mitinsassin bat sie, ihr die Armbanduhr auszuleihen. Als Maria ihr die Uhr gab, ging sie zu den Wärtern und verpetzte sie. In Strafkolonien dürfen die Häftlinge untereinander nichts teilen. Sogar das Teilen von Zigaretten und Zucker ist verboten. Klar, die meisten politischen Gefangenen tun das trotzdem. Aber im Allgemeinen herrscht ein Klima des Misstrauens.

Mit Tatsiana Khomich sprach Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

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