Assads Sturz mischt Karten neu Triumph für Erdogan, Schmach für Putin, Debakel für den Iran
08.12.2024, 18:05 Uhr Artikel anhören
Auch in Istanbul jubeln Syrer über das Ende Assads. Der türkische Präsident Erdogan gehört zu den großen Gewinnern des Machtwechsels in Syrien.
(Foto: AP)
Assad ist gestürzt. Das Regime, das über Jahrzehnte das syrische Volk unterdrückte, ist am Ende. Die Menschen feiern das. Doch auch geopolitisch hat der Machtwechsel Auswirkungen. Die Karten im Nahen Osten werden neu gemischt. Es gibt Gewinner und Verlierer.
Die Menschen jubeln. Sie feiern den Sturz von Baschar al-Assad. Statuen von ihm und seinem Vater werden gestürzt - es ist die pure Freude über das Ende eines über Jahrzehnte dauernden brutalen Regimes. Die Syrer jubeln - und wollen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen.
Doch der Durchmarch der Islamisten verändert nicht nur die politischen Verhältnisse im Land - dessen Zukunft bisher noch nicht abzusehen ist. Der gesamte Nahe Osten steht vor einer neuen Ordnung. Vor allem werden die Einflusssphären neu aufgeteilt.
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Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist der Sieg der Islamisten der Hajat Tahrir al-Scham (HTS) nichts anderes als ein Triumph. Zwar ist die Miliz, eine Abspaltung von Al-Kaida, anders als die Syrische Nationale Armee (SNA) nicht direkt mit der Türkei verbündet. Doch das Land ist ein wichtiges Versorgungsgebiet. Nur Erdogans grünes Licht erlaubte ihnen, ab dem 27. November in die Offensive zu gehen und Assads Truppen geradezu zu überrennen.
Was genau HTS und ihr Anführer Abu Mohammed al-Dschulani mit ihrer neu gewonnenen Macht planen, ist unklar. Einst war der Rebellen-Chef ein Radikaler, inzwischen tritt er gemäßigt auf, wird von Experten aber weiterhin als Terrorist eingestuft. Fakt jedoch ist: Ohne Erdogan geht jetzt nichts in Syrien.
Was Erdogan gewinnt, verliert der Iran
Die von türkischen Truppen und verbündeten Milizen im Norden des Landes gehaltenen Gebiete wird der türkische Präsident nicht aufgeben. Er braucht sie, um die kurdischen Truppen der YPG einzudämmen. Mehr noch: Erdogan schafft sich mit Syrien an der südlichen Grenze zur Türkei ein Einflussgebiet, das seinen Machtanspruch im Nahen Osten untermauert. Nie zuvor hatte der Staatschef so viel weltpolitischen Einfluss.
Erdogan wird seinen Einfluss nutzen, um sich und sein Land gestärkt zwischen den Blöcken zu positionieren. Als NATO-Mitglied einerseits, als Verbündeter Russlands andererseits, mit (vorerst gescheiterten) Ambitionen auf eine BRICS-Mitgliedschaft, hat Erdogan jetzt eine zentrale Machtstellung im Nahen Osten inne. Zudem kann er sich als Schutzherr der Muslime in der Region gerieren. Und er kann Millionen Syrer, die in sein Land geflohen waren, zurückschicken, und sich damit innenpolitisch einen großen Erfolg auf die Fahnen schreiben.
Was Erdogan an Einfluss hinzugewinnt, verliert der Iran. Mit Assad fällt ein strategischer Verbündeter der Mullahs. Sie hatten ihn früh mit Truppen unterstützt, um seine Macht zu sichern. Assad war Teil der "Achse des Widerstands", zu der die schiitischen Milizen im Irak und die Huthis im Jemen zählen. Vor allem aber die Hisbollah im Libanon, die sich ebenfalls am Kampf gegen die Rebellen in Syrien beteiligte. Über Assad und die Hisbollah sicherte sich Teheran seinen Einfluss auf den Libanon. Von hier konnte das Regime den Erzfeind Israel direkt angreifen und die USA herausfordern.
Die Nachschubroute bricht weg
Noch sind die künftigen Machtstrukturen in Syrien unklar. Doch die Eroberungen der vergangenen Tage weisen darauf hin, dass der Iran in Syrien nicht nur einen Verbündeten verliert. Auch die zentrale Nachschubroute, über die die Hisbollah und andere verbündete Milizen versorgt wurden, ist blockiert. Teheran verliert damit auch einen Teil seines Einflusses auf den Libanon.
Die Hisbollah wurde seit Beginn des Krieges gegen Israel ohnehin bereits stark geschwächt: Die Führungsfiguren wurden durch gezielte Schläge und eine langwierig geplante Attacke auf die Pager der Terroristen getötet. Der Verlust der direkten Route über Land in den Iran bedeutet eine weitere Schwächung für beide Seiten. Nicht ausgeschlossen, dass Israel den Moment für sich nutzt.
Neben der Türkei und dem Iran war ein drittes Land Teil der sogenannten Astana-Konstellation, die regelmäßig über eine Lösung des syrischen Bürgerkriegs verhandelte: Russland. Machthaber Putin war Assads engster Verbündeter, er rettete ihn vor nahezu zehn Jahren vor dem Sturz. Syrien wurde zu Putins Fuß im Nahen Osten. Die ihm zur Verfügung gestellten Militärbasen im Land dienten als wichtige Stützpunkte für Aktivitäten in Afrika.
Assads Ende ist für Putin vor allem eine Schmach. Russland hat als Schutzmacht des Regimes versagt, weil es ihm nicht mehr zu Hilfe kommen konnte. Zu viele Truppen und Ressourcen sind in der Ukraine gebunden, der Kreml konnte den Vormarsch der Islamisten trotz mehrerer Luftschläge nicht mehr entscheidend beeinflussen. Die Ukraine dagegen soll die Islamisten unterstützt haben. Das wäre eine gehörige Ohrfeige für den Machthaber in Moskau.
Der Westen hat nichts beizutragen
Allerdings ist noch nicht abzusehen, ob Russland sich aus Syrien zurückziehen muss. Die neuen Machthaber in Damaskus müssen erst noch ihren Einfluss etablieren und sich mit allen anderen Milizen im Land auf eine neue Ordnung einigen. Dabei könnte Russland eine Hilfe sein - und sich im Gegenzug einen gewissen Einfluss und die bestehenden Militärbasen sichern.
Türkei, Iran, Russland: Für die drei entscheidenden Akteure in Syrien sind die Karten neu gemischt. Erdogan hält jetzt vier Asse in der Hand. Und der Westen? Der hat zu all dem nichts beizutragen. Zwar halten die USA ebenfalls noch Militärbasen im Süden des Landes. Und aktuelle Äußerungen weisen darauf hin, dass sie diese nicht aufgeben wollen. Doch unklar ist, was der gewählte Präsident Donald Trump will. Schon fordert er angesichts von Assads Sturz und Russlands Schwächung einen Waffenstillstand in der Ukraine. Er könnte aber auch die US-Truppen nach Hause holen, wie einst aus Afghanistan.
Europäische Länder könnten die Folgen dennoch zu spüren bekommen: Wie für Erdogan eröffnet sich die Möglichkeit, dass Tausende Syrer in ihr Land zurückkehren. Denn Assads Schreckensherrschaft mit einem omnipräsenten Geheimdienst ist zu Ende. Feinde des Regimes müssen bei ihrer Rückkehr keine Folter mehr fürchten. Die Syrer jubeln zu Recht.
Quelle: ntv.de