Grausame Demontage der Patriots Als hätte der FC Bayern das Fußballspielen verlernt
13.11.2023, 06:09 Uhr
Zum zweiten Mal in dieser Saison ist die NFL in Deutschland zu Gast. Dieses Mal tritt der Klub mit der größten deutschen Fangemeinde an. Trotzdem ist vieles weniger glamourös. Im Gegenteil: Sportlich ist das zweite Spiel ein Ritt durch die Geisterbahn.
Rein sportlich muss man sich das so vorstellen: Der deutsche Fußball schickt Union Berlin, den Tabellenletzten der Bundesliga, und den VfL Wolfsburg, eine Mannschaft, deren Tabellenplatz wohl niemand so locker aus dem Ärmel schütteln kann, in die USA, mit dem Auftrag: Macht mal tüchtig Werbung für unseren Sport. Man würde beide Mannschaften mit guten Gebeten verabschieden und ihnen einfach nur das Beste wünschen. So hatte es vermutlich auch die NFL getan, als sich das Mittelmaß-Team Indianapolis Colts und der hart abgestürzte Football-Riese New England Patriots auf den Weg nach Frankfurt gemacht hatten, zum zweiten Germany-Game.
Einziger Unterschied: Beide amerikanischen Teams haben glorreiche Vergangenheiten. Die der Colts liegt indes schon länger zurück, die der Patriots ist dagegen noch in bester Erinnerung. Sie sind, wenn man das vergleichen mag, der FC Bayern der NFL. Einer, der nun berstend aufbricht. Was vieles an diesem Nachmittag ganz besonders schmerzhaft machte. Vor allem für die zahlreichen Fans von New England, die im Stadion von Eintracht Frankfurt glasklar in der Überzahl waren, in den Trikots ihrer alten Helden Tom Brady, Julian Edelman und Rob Gronkowski kamen, und fast zweieinhalb Stunden leiden mussten.
Die Lust an der großen Party ließen sie sich allerdings nicht nehmen. Wann immer das Spiel unterbrochen war, sangen sie die Hymen "Sweet Caroline" oder "Wonderwall", ertrugen den "Vengabus" und engagierten sich tüchtig bei der Knutsch- oder Zeig-mir-deine-Muskel-Cam. Das Spektakel, das sportlich ein Debakel war, hatte geliefert. Der Auftrag war erfüllt: Die NFL ist in Deutschland angekommen.
War's das für Bill Belichick?
Das Spiel, kleiner Spoiler, lieferte eine Woche nach dem mitreißenden Wild-West-Spektakel zwischen den Kansas City Chiefs und den Miami Dolphins, das, was zu befürchten war. Oder noch weniger. Bisweilen ging es grausam zu auf dem Rasen. So unangenehm wie ein tristes Fußball-0:0 im strömenden Regen ohne Tribünendach. Sportlich war man einfach nur froh, als es vorbei war. Mit 10:6, so ein mickriges Ergebnis hatte es in der NFL zuletzt am 16. November 2015 gegeben, besiegten die nicht guten Colts die noch viel schwächeren Patriots, die mit viel Frust und noch mehr Fragen zurück in Heimat fliegen. Und die, die über allem steht, lautet: War's das für Bill Belichick? Überlebt die größte Trainerlegende der besten Football-Liga der Welt dieses Gewürge und den schlechtesten Start seit 23 Jahren tatsächlich nicht? War die längste auch gleichzeitig die letzte Dienstreise des 71-Jährigen?
Bislang war Europa für New England ein Ort der Glückseligkeit, des Spektakels gewesen. Die beiden bisherigen Auftritte in London endeten als gigantische Siege, gegen Tampa Bay 2009 (35:7), gegen die St. Louis Rams 2012 (45:7). Es waren andere Zeiten, die Patriots ein ewiger Meisteranwärter, ein Starteam.
Schon einmal hatte die Trainerlegende, die achtmal den Superbowl gewinnen konnte (sechsmal als Head Coach, zweimal als Assistent) den Houdini gemacht und sich aus sportlichen Fehlstart befreit. In seiner ersten Saison 2000 wies die Franchise ebenfalls eine Bilanz von 2:8 nach zehn Spieltagen auf. Die Fallhöhe war damals eine andere. Sie war gering, Belichick stand ganz am Anfang und das Team war schwach. Nun ist sie gigantisch, die Last der vergangenen Triumphe wiegt brutal schwer.
Noch vor vier Jahren war die Patriots der NFL-Champion. Ein letztes Mal in der genialen Kombination Belichick und Tom Brady. Der Star-Quarterback war die furchteinflößende Überfigur auf dem Feld, der Trainer das geniale Mastermind an der Seitenlinie. Alleine die Aura der Beiden reichte aus, um Gegner zu verängstigten Zwergen zu degradieren. Doch mit Brady ging 2020 der Erfolg. Nach Florida, zu den Tampa Bay Buccaneers. Dort reüssierte der Spielmacher, während sein Ex-Team einen gnadenlosen Absturz erlebte, der bis heute nicht aufzuhalten ist. Und der ist aufs Engste mit dem zurückgetretenen Quarterback und seiner Position verknüpft.
Doppelter-Quarterback-Blackout
Erst übernahm Cam Newton, dann Mac Jones. Doch dessen Zeit als Starter lief an diesem Sonntag womöglich endgültig ab. Das Spiel der Patriots war einzig darauf ausgelegt, das Ei möglichst schnell aus seinen Händen zu bekommen. In murmeltierhafter Monotonie übergab der Quarterback an die Runningbacks Ezekiel Elliot und Rhamondre Stevenson. Das funktionierte irgendwie, zu Beginn im ersten Viertel und ganz am Ende ganz okay, aber nie nachhaltig. Zwei erfolgreiche Field Goals waren am Ende die mickrige Ausbeute. Weil aber auch die Colts kaum was zustande brachten, außer zwei Big Plays nach Pässen des sich immer wieder klug aus der Bedrängnis windenden Quarterbacks Garner Minshaw zu Alec Pierce und Michael Pitman jr., und einem frühen Touchdown durch gute Laufspielzüge des sehr auffälligen Runningbacks Jonathan Taylor, blieb der Sieg für Patriots immer nah, aber durch die eigene Unzulänglichkeit doch immer fern.
Zum dritten Mal in dieser Saison blieb das Team nun ohne Touchdown. Sogar ein stark abgefangener Pass von Myles Bryant kurz nach der Halbzeitpause konnte das Momentum nicht auf die Seite von New England ziehen. Die offensive Leistung, sie war erbärmlich. Und Jones, der auch noch fünfmal zu Boden geworfen wurde, bekam die Quittung. Mit einer absurden Interception, seiner bereits zehnten in dieser Saison (bei ebenfalls lediglich zehn Touchdown-Pässen), kurz vor der Endzone starben alle Hoffnungen auf ein Happy End in diesem Gegurke.
Jones warf vier Minuten vor dem Ende den Ball in die Arme von Julian Blackmon. Die Colts, auch jederzeit ganz weit weg davon, die offensiven Leistungen der vergangenen Wochen zu wiederholen, spielten sich fortan mühsam und einmal massiv unter Druck und spektakulär mit einem überragenden Catch von Josh Downs nach vorne, brachten jedoch abermals nichts zusammen. Ihnen reichte nach zwei punktlosen Vierteln am Ende ein starkes 51-Yard-Field Goal von Matt Gay, um das Spiel zuzumachen. Aber einmal waren die Patriots noch am Zug, aber ohne Jones. Zum vierten Mal in dieser Spielzeit wurde er von Belichick "gebenched". "Das Trainerteam sagte mir nur, dass ich raus bin. Ich war nicht gut", erklärte der 25-Jährige zu seiner Auswechslung: "Es ist eine harte Entscheidung, aber am Ende des Tages möchte ich, dass mein Team gewinnt. Aber ich weiß, dass ich besser spielen muss".
Für ihm übernahm Bailey Zappe. Vermutlich nicht nur an diesem Sonntag, sondern wohl für den Rest der Saison. Auch wenn sich der kauzige Belichick nach einem kurzen Höflichkeits-Intermezzo vor dem Spieltag nun wieder gewohnt wortkarg und mürrisch nuschelnd um eine Antwort wand. "Wir werden nächste Woche sehen, wie es mit ihm weitergeht." Wobei auch Jones' Ersatzmann Zappe nicht wirklich für sich werben konnte. Ihm gelangen erst zwei schnelle First Downs, dann aber ebenfalls ein bittere Interception. Mit dem nächsten unerklärlichen Blackout war das Schicksal der Patriots besiegelt.
Aus dem Trainer-Gott ist ein Mensch geworden
Und das von Belichick? Ein Bericht des "Boston Globe" hatte die Zukunftsfrage um die Trainerlegende zugespitzt. Bis zu einem Schicksalsspiel war das Duell in Frankfurt hochgejazzt worden. Jedes Wort wog plötzlich unendlich viel. Auch das von Klubbesitzer Robert Kraft, der sich eine ganz andere Saison erhofft hatte und schon vor dem Spiel "sehr enttäuscht war". Fragen zu seiner Zukunft parierte der 71-Jährige in klassischer Belichick-Manier. "Nun, ich gebe einfach jeden Tag mein Bestes." Seinen besten Tag, ohne jeden Zweifel, hatte er nicht. Der Quarterback-Plan ging nicht auf und bei einem Punt der Colts stand plötzlich kein Punt-Returner auf dem Feld. Ob das gewollt war? "Nicht ganz", sagte der Trainer. Ein paar Journalisten lachten, Belichick nicht.
Gute Gründe dafür hat er auch nicht. Die Magie, die ihm einst umfing, ist verflogen. Aus dem Trainer-Gott ist ein 71 Jahre alter Mann an der Seitenlinie geworden. Was ihm früher gelang, aus billigen Kräften Schlüsselspieler zu machen, gelingt ihm nicht mehr. Ohne Brady ist wie Asterix ohne Obelix, wie Batman ohne Robin.
Und dennoch wird es wohl nicht zu einer Entlassung kommen. Nicht mitten in einer Saison, die ohnehin nicht mehr zu retten ist. So heißt es aus der lokalen Medienlandschaft, wie unser US-Korrespondent Heiko Oldörp berichtet. "Das werden sie ihm ersparen, dafür hat er einfach viel zu viel für das Team getan." Denkbar sei ein anderes Szenario nach der Saison. "Womöglich wird ihm angeboten, die beiden Ämter des General Managers und des Trainers aufzusplitten. Ich kann mir gut vorstellen, dass Patriots mit dem Trainer Belichick weitermachen wollen würden, nicht aber mit dem General Manager Belichick." In dieser Funktion ist er für die Kaderplanung zuständig. Und abermals ging sie krachend schief. New England ist mittlerweile eines der schlechtesten Teams der NFL und auf kaum einer Position konkurrenzfähig. Was für eine Demontage.
Quelle: ntv.de