
Julian Köster würde ungern ausscheiden.
(Foto: picture alliance/dpa/Kessler-Sportfotografie)
Weiter in Richtung Halbfinale oder das Ende der Party? Die deutsche Handball-Nationalmannschaft steht bei der Heim-EM unter Druck, die Stunde Null ist schon ausgerufen. Gegen Ungarn muss dem DHB-Team ein Neustart gelingen.
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft hat sich mit ihrem schwachen Auftritt gegen Außenseiter Österreich was Schönes eingebrockt: Sagenhafte 23 Fehlwürfe produzierte man, ein am Ende immerhin mit großer Moral erkämpftes, aber völlig unnötiges 22:22 sorgte dafür, dass bei der Heim-EM nun die "scheiß Rechnerei" losgeht, wie es Rechtsaußen Timo Kastening nannte. "Die wollten wir vermeiden." Den Einzug ins Halbfinale hat das DHB-Team noch vor Augen, aber nicht mehr in der eigenen Hand.
Die Sache mit der Rechnerei ließe sich allerdings schnell klären: Deutschland muss seine beiden noch ausstehenden Hauptrundenspiele am Abend gegen Ungarn (20.30 Uhr/ ZDF und im Liveticker auf ntv.de) und am Mittwoch gegen Kroatien gewinnen. Gleichzeitig darf Überraschungsteam Österreich gegen Frankreich und Island nicht weitere Wunder wirken: Gewinnt Österreich beide Spiele, wären auch zwei deutsche Siege wertlos. Insgesamt gibt es zehn Konstellationen, die Deutschland ins Halbfinale bringen würden. Viele davon sind kurios, manche absurd.
"Es kommt auf uns an"
Die Hoffnung ist groß, dass die deutschen Handballer ihr Schicksal schon heute wieder in die eigenen Hände bekommen: Der seit dem Wackler gegen die Schweiz (26:26) in der Vorrunde durchgehend überzeugende Rekord-Weltmeister Frankreich ist im Vorspiel zum deutschen Duell gegen Ungarn gegen Österreich klarer Favorit. Wirkt die Wintersportnation, die gerade eine Handball-"Explosion" erlebt, nach den Remis gegen die jeweils übermächtig erscheinenden Großmächte Kroatien (28:28), Spanien (33:33) und Deutschland ein weiteres "Wunder", wie die heimische Presse alleine den Hauptrundeneinzug gefeiert hatte, hat das DHB-Team ein noch viel größeres Problem.
Bundestrainer Alfred Gislason hatte seinen französischen Kollegen Guillaume Gille nach dem gemeinsamen Aufeinandertreffen in der Vorrunde eingeschworen, doch bitte alle Hauptrundengegner zu schlagen. Bisher wackelte Frankreich in der Hauptrunde keine Minute. Dem Olympiasieger fehlt selbst noch ein Punkt zur sicheren Qualifikation fürs Halbfinale. Heiner Brand ist sich sicher: "Sie werden ihren Part erfüllen. Es kommt also auf uns an", sagte Deutschlands Weltmeistertrainer von 2007 im Interview mit "Sportbuzzer".
Die Verabredung in Sachen Halbfinaleinzug könnte also eher am deutschen Beitrag scheitern: Nach den fehlerreichen Hauptrundenvorstellungen gegen Island (26:24) und eben Österreich ist Skepsis angebracht. "Das war unglaublich schlecht von uns und bringt uns womöglich um unsere Ziele", schimpfte Kapitän Johannes Golla nach der Enttäuschung von Köln, die beinahe in der "Schmach von Köln" geendet wäre. "Die zweite Halbzeit war eine komplette Katastrophe. Wir haben heute alle Scheiße gemacht", sagte der schwache Kai Häfner. "Wir müssen unsere Hausaufgaben machen und die zwei Spiele gewinnen. Aber es wird schwer, wenn wir so spielen."
"Dann werden wir nicht gewinnen"
Sie gingen hart mit sich selbst ins Gericht nach dem Österreich-Spiel. Bei der turnusmäßigen Medienrunde am Vormittag nach dem Spiel waren erstmals keine Spieler dabei, das für den Abend angesetzte Training wurde abgesagt. "Die Nacharbeitung bei den Jungs war sehr lang gestern. Keiner hat so richtig ins Bett finden können, weil die Dinge nicht so gelaufen sind wie erhofft", erklärte DHB-Sportvorstand Axel Kromer. Video-Analysen, taktische Besprechungen und ganz viel Regeneration seien wichtiger gewesen für die Mannschaft. Kastening, der gegen Österreich mit unterging und sich vier Fehlwürfe (darunter ein Siebenmeter) leistete, hatte gefordert: "Wir müssen uns in der Kabine die Meinung geigen. Wir dürfen jetzt nicht auf dem Zimmer sitzen und rumheulen."
Der Bundestrainer hatte es schon direkt nach dem Spiel auf den Punkt gebracht: "Wenn wir im Angriff so weiterspielen und unsere Chancen vergeben, werden wir weder gegen Ungarn noch gegen Kroatien gewinnen", prognostizierte Gislason. Der Isländer, der jüngst seine Spieler ungewohnt offen und persönlich kritisiert hatte, habe die Enttäuschung sachlich aufgearbeitet. "Aber bei seinen Ansprachen spricht er klar an, dass er einige Wurfentscheidungen, die rational nicht logisch sind, nicht nachvollziehen kann", berichtete Kromer aus dem Innenleben des Teams.
Gegen Österreich fehlte es dem deutschen Angriff aber an vielem: Die deutschen Spieler trafen reihenweise schlechte Wurfentscheidungen. Und wenn die Entscheidung richtig war, entschieden sie sich zu oft für die falschen Varianten. Es fehlte an Präzision, Durchschlagskraft, Geschwindigkeit. "Es ist sicherlich ein großes Manko, dass wir seit zwei Spielen auf unser Tempospiel verzichten müssen. Das sind die vermeintlich einfachen Tore", äußerte Kromer. "Wir wirken verunsichert vor dem gegnerischen Tor, und irgendwann ist es eine Kopfsache. Wir müssen den Kopf wieder hochbekommen", forderte Anführer Golla.
Personell arg eingeschränkt
Personell - das hat der Turnierverlauf gezeigt - muss es das Stammpersonal richten. Der zweiten Reihe schenkt Gislason wenig Vertrauen. Und wenn doch, wurde er zuletzt enttäuscht, als er gegen Österreich zunächst Philipp Weber die Verantwortung fürs deutsche Spiel übertrug. "Da kommt Weber rein und macht vier Fehler in den ersten zehn Minuten", schimpfte Gislason. Nach zwölf Minuten übernahm der angeschlagene Juri Knorr wieder. Auch Sebastian Heymann und Newcomer Martin Hanne empfahlen sich nicht nachhaltig als Alternative zu Julian Köster im linken Rückraum. Im rechten Rückraum durfte - oder musste - ein völlig enttäuschender Kai Häfner 34 Minuten spielen. "Unsere rechte Seite war, ehrlich gesagt, unter dem, was wir haben wollen, da war gar keine Gefahr", monierte Gislason. Und änderte doch wenig.
Ex-Bundestrainer Brand sieht "das zentrale Problem" in der grundsätzlichen Ausrichtung des deutschen Angriffs ohnehin struktureller: "Keine Dynamik, keine schnellen Pässe, keine Bewegung ohne Ball. Das sind Dinge, die automatisiert sein müssten. Zumindest in der Vorbereitungsphase des Angriffs. Davon habe ich nichts gesehen", sagte Brand, der als Spieler und Trainer Weltmeister geworden war.
Deutschlands Angriff liegt auf den Schultern von Spielmacher Juri Knorr, von den Halbpositionen im Rückraum geht zu oft zu wenig Gefahr aus. Regisseur Knorr war bislang in jedem der fünf deutschen EM-Auftritte der erfolgreichste Torschütze seines Teams. Der deutschen Mannschaft fehlen bekanntlich die gefährlichen Shooter, die eine Abwehr schon weit vor dem Tor stressen. Das macht es gegnerischen Abwehrreihen einfach, den eigenen Kreis zu verteidigen, wo sich Weltklassekreisläufer Johannes Golla gegen eine defensive Deckungsreihe auf Weltklasseniveau aufreibt.
"... und wir sind besser"
Das DHB-Team muss seine Tore anders organisieren, umso wichtiger sind Dynamik und Effizienz, wenn nicht im Tempogegenstoß auf dem direkten Weg zum Tor, dann mindestens in der zweiten Welle. Gegen Österreich krankte es schon am Spielvortrag vom eigenen Tor aus. "Wir haben ab und zu Schwierigkeiten, den Ball nach vorne zu bringen", sagte Gislason, "weil nur einer anspielbar war." Das hat auch Torwart Andreas Wolff beobachtet: "Wir müssen schneller aus der zweiten Welle raus und da mehr Tore werfen." Elf Ballverluste gegen Österreich belegen die Nervosität im deutschen Spiel. Soll der Traum vom Halbfinaleinzug nicht schon am Abend sterben, müssen die Fehler raus aus dem deutschen Spiel und die Dynamik, die Selbstverständlichkeit und vor allem die Effizienz zurückkehren.
Rune Dahmke hatte noch auf dem Spielfeld die Stunde Null für seine Mannschaft ausgerufen: "Jetzt alles auf null setzen, du hast nicht lange Zeit, dich einzubuddeln", rief der Europameister von 2016 ins Mikrofon des Hallensprechers. 19.750 Menschen waren wieder in der seit Monaten ausverkauften Kölner Lanxess-Arena, knapp acht Millionen sahen von zu Hause aus zu. Die Euphorie, die mit dem Weltrekordspiel von Düsseldorf und starken Vorrundenauftritten befeuert wurde, hat einen Dämpfer erhalten - aber sie glimmt noch. Rune Dahmke versprach dem Handballvolk, das die deutsche Mannschaft zuvor trotz der völligen Entgeisterung bis zum Schluss unterstützt hatte: "Nächstes Mal seid ihr, die Fans, genauso gut, und wir besser." Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Sonst ist die Party vorbei.
Quelle: ntv.de