
Müller und Beier: zwei ähnliche Spielertypen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Es wird langsam entscheidend für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Es sind nur noch zehn Tage bis zum Start der Heim-Europameisterschaft. Der Härtetest gegen die Ukraine ist atmosphärisch ein Erfolg, spielerisch jedoch nicht so richtig. Vor allem ein DFB-Youngster sorgt für Aufsehen.
Vielleicht gefiel es Maxi Beier, dass er den Bundestrainer nun vor eine knifflige Aufgabe stellt. Julian Nagelsmann darf zur Heim-Europameisterschaft nur 26 Spieler mitnehmen, einer muss also noch den kurzen Heimweg antreten. Doch der Bundestrainer analysierte sein Problem schon nach dem Abpfiff bei der ARD: Derzeit fällt keiner der nominierten Spieler ab. Eigentlich war Beier neben Verteidiger Robin Koch einer der Kandidaten, die sich Sorgen machen mussten, noch von der Kaderliste gestrichen zu werden, schließlich gibt es in der Offensive schon ein Überangebot. Eigentlich. Bis zu diesem 0:0-Remis gegen die Ukraine.
Und so kam es, dass eben jener Beier nach einem langen Abend strahlend in den Katakomben des Nürnberger Max-Morlock-Stadions steht und über die fußballerischen Videospielkünste von Thomas Müller flachst ("Hätte ich auch nicht gedacht, der kann was an der Konsole"). Der vielseitige 21-Jährige, dessen Spielweise sich mit der von Müller vergleichen lässt, hatte schon während der Bundesliga-Saison bei der TSG Hoffenheim für Aufsehen gesorgt, nun also auch mit seinem Debüt in der Nationalmannschaft. Der Bundestrainer hatte ihm in seinem Rollensystem den Auftrag des "Stressmachers" gegeben, verrät Beier. Er sollte nach seiner Einwechslung also für Unruhe in der gegnerischen Defensive sorgen.
Der Plan ging auf: Die Hereinnahme in der 59. Minute belebt die Angriffsbemühungen des DFB-Teams merklich. Beier hat gleich zweimal die Chance, das Publikum die neue Torhymne "Major Tom" auch wirklich im Spiel singen zu lassen. Zuvor hatte es das Publikum nur vor dem Anpfiff schon lautstark geübt. Beiers erster Ballkontakt landet direkt am Innenpfosten des ukrainischen Tors, später scheitert er am glänzend parierenden Anatolij Trubin. Er sei stolz, die Chance bekommen zu haben, sagte Beier später.
Eine La-Ola nach der anderen
Es wäre aus deutscher Sicht die Krönung eines von den Umständen her prächtigen Fußballabends gewesen. Schon auf dem Weg ins Stadion war die Stimmung gelöst. Vor dem Anpfiff wurde erst gesungen, während der Partie konnte einem schwindelig werden, so viele La-Olas schwappten über die Tribünen. Zudem war der vorletzte EM-Härtetest ein Freundschaftsspiel im wörtlichen Sinne. Die ukrainische Mannschaft und ihr Anhang wurden freundlich begrüßt. Rund um das Stadion trugen manche Fans beides: ein Deutschland-Trikot und einen Schal der Ukraine.
Und doch, beim vorletzten EM-Stresstest läuft nicht alles glatt. Das DFB-Team beginnt stark, Kapitän İlkay Gündoğan hätte eigentlich zur Führung treffen müssen, doch sein Kopfball missglückt in der 15. Minute. Das Team von Bundestrainer Nagelsmann dominiert daraufhin das Spiel, schnürt die Gäste am eigenen Sechzehner ein. Die Ukraine spielt dagegen so, wie Mannschaften in den vergangenen Jahren immer spielten, wenn sie dem DFB-Team wehtun wollen - und auch wohl die Gruppengegner Schottland, Ungarn und die Schweiz auftreten werden.
Das Team von Trainer Serhij Rebrow steht tief, wirft sich in viele Zweikämpfe und mindestens genauso viele Torschüsse. Der Plan war, dem DFB-Team in Kontersituationen gefährlich zu werden. Immer wieder nimmt deshalb der Chelsea-Profi Mychajlo Mudryk Fahrt auf. Vor allem in den ersten 20 Minuten ist die deutsche Abwehr dem einen oder anderen kleinerem Stresstest ausgesetzt. Mal rettet Maximilian Mittelstädt, mal grätscht Jonathan Tah hinterher.
Personell hatte Nagelsmann umstellen müssen. Unter der Woche hatte eine "Zeit"-Erhebung ergeben, dass Toni Kroos der meistgegoogelte deutsche Nationalspieler der vergangenen Wochen war. Und auch in der Aufstellung suchte man ihn - jedoch vergeblich. Er und Antonio Rüdiger durften sich noch vom Champions-League-Triumph mit Real Madrid erholen. Nagelsmann setzt stattdessen auf die Stellvertreter der beiden: Innenverteidiger Waldemar Anton und Allrounder Pascal Groß. Anders als Kroos lässt er sich nicht auf die Höhe der Innenverteidiger fallen, sondern agiert zusammen mit Mittelfeldpartner Robert Andrich davor.
Alte und neue Sorgen
Auch das Fehlen von BVB-Mittelstürmer Niclas Füllkrug macht sich bemerkbar. Auf dessen angestammten Position macht sich eine alte Sorge der Nationalelf wieder breit: der Chancenwucher, der schon beim WM-Vorrundenaus in Katar ein großes Problem gewesen war. Das DFB-Team vergibt Möglichkeit, um Möglichkeit, um Möglichkeit, um Möglichkeit, um Möglichkeit.
Am Ende sind es 27 Torschüsse, keiner davon landet im Kasten. Egal, wie die Chancen herausgespielt werden: In der ersten Hälfte sind es blitzschnelle Kombinationen im ukrainischen Sechzehner, in der zweiten dann eher mit Flanken. Zugleich ist es auch ein Beweis, dass die EM-Euphorie möglicherweise doch nachhaltiger ist als gedacht: Das Publikum bleibt überraschend geduldig. Einzig Maskottchen Paule verzweifelt irgendwann und steht gegen Spielende mit fragend geöffneten Flügeln hinter den Trainerbänken.
Und, auch wenn es eine Fußball-Binse ist, irgendwann rächt sich der Chancenwunder beinahe. Kurz vor Schluss ist es ausgerechnet Manuel Neuer, der nicht nur für die Rückkehr seines Reklamierarmes sorgt, sondern auch für viele verdutzte Gesichter. Einen zu kurz geratenen Rückpass will er lässig auf Linksverteidiger Mittelstädt chippen, doch der Ball landet auf dem Kopf von Roman Yaremchuk. Weil Neuer aber fast an der Mittellinie steht, landet der Pass des Ukrainers im Abseits. Neuers Arm schnellt zum Reklamieren nach oben, nach dem Abpfiff erklärt er, den Ukrainer nicht gesehen zu haben.
Nun wirft die Aktion wieder neue Fragen auf: Zuletzt war über Neuer diskutiert worden, angesichts einiger Aussetzer, die er sich in den vergangenen Wochen beim FC Bayern geleistet hatte. Der kurze Schreckmoment, auch wenn er folgenlos blieb, wird nicht dafür sorgen, dass die Debatten aufhören. Dabei hatte Neuer zunächst gezeigt, weshalb er in den vergangenen anderthalb Jahren schmerzlich vermisst wurde. Gegen Roman Yaremchuk hält er stark, und - vielleicht sogar noch wichtiger - immer wieder dirigiert er die deutsche Innenverteidigung in Rücksprache mit dem Bundestrainer.
Nur, wie lässt sich das Ergebnis einordnen? Ist es ein Mutmacher für die EM? Oder doch ein Dämpfer, der noch pünktlich kommt? "Wir haben grundsätzlich überzeugt", schätzt Neuer die Lage ein. "Defensiv haben wir gut gestanden, man kann schon sagen, dass das stabil gewesen ist." Auch der überzeugende Debütant Beier sagt, es sei enttäuschend gewesen, das Spiel nicht zu gewinnen. Und doch, der Bundestrainer ist irgendwie zufrieden: "Der wichtigste Indikator ist, dass ich eine Mannschaft sehen will, die gewinnen möchte. Heute wollten wir gewinnen. Das haben wir gezeigt. Wir haben in beiden Halbzeiten sehr gute 20 Minuten gezeigt. Wenn wir das 1:0 machen, dann fällt auch noch das zweite oder dritte Tor." Bei der EM muss nur einer das Tor machen, vielleicht ist es ja dann Beier.
Quelle: ntv.de