
Maxi Beiers Sprungkraft überzeugt.
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In weniger als neun Monaten beginnt die EM in Deutschland. Es ist nur noch wenig Zeit für die Spieler der Fußball-Bundesliga, sich ins Blickfeld von Bundestrainer Julian Nagelsmann zu spielen. Einem ist es schon gelungen: Maximilian Beier, 21 Jahre alt. Er ist ein Überflieger der noch jungen Saison.
Im Stadion, das einst Neckarstadion hieß, kommt es am heutigen Samstag im Spiel zweier Überraschungsmannschaften zu einer echten Standortbestimmung. Der unglaubliche VfB Stuttgart empfängt die TSG Hoffenheim. Es ist kein Spiel, von dem Groundhopper Ansichtskarten in ferne Länder schicken werden, aber doch eins, auf das es sich zu blicken lohnt.
Die verletzungsbedingt wunderstürmerlosen Gastgeber mit dem ehemaligen Hoffenheim-Trainer Sebastian Hoeneß vertrauen auf Stürmer Deniz Undav (wie Kollege Emmanuel Schneider im Kasten unten drunterwunderbar aufgeschrieben hat). Die Gäste mit dem ehemaligen Stuttgart-Trainer Pellegrino Matarazzo setzen auf einen, der als einer der Shooting-Stars der Bundesliga bezeichnet werden kann. Sie vertrauen auf den 21-jährigen Maximilian Beier, den Experten wie Dietmar Hamann "ein Schlitzohr im besten Sinne" nennen und der Erinnerungen an den wohl besten deutschen Offensivspieler der letzten Jahrzehnte weckt: Der gebürtige Brandenburger ist einer wie Thomas Müller.
Unter der Woche war wieder über ihn zu lesen. Nach sechs Toren aus den ersten acht Spielen dieser Saison hatte er sich einen neuen Vertrag in Hoffenheim, dem Wolfsburg des Südens, verdient. Bis 2027 steht er nun dort unter Vertrag. Er entschied sich gegen das mal lose, mal starke Interesse aus der englischen Premier League, wo er sich in die Notizbücher von Klubs wie Burnley, Everton, Brentford und aber auch Liverpool gespielt hatte. Er entschied sich auch gegen das Interesse aus der spanischen La Liga und der italienischen Serie A. Seine Ausstiegsklausel macht ihn auch in Zukunft für diese Vereine erschwinglich, in der Bundesliga aber werden ihn sich nur noch drei, vielleicht vier Vereine leisten können. Erst einmal heißt es ohnehin, sich in Hoffenheim, in der Bundesliga, festzubeißen.
Willkommen in Zuzenhausen
Zuzenhausen ist ein beschauliches Nest im Kraichgau. Auf den rollenden Hügeln des Landstrichs stehend blickt man auf das Trainingszentrum der TSG Hoffenheim, die hier in einem alten Schloss mit allerhand Technologie Spieler und Trainer für das große Fußballgeschäft ausbildet. Der aktuelle Bundestrainer Julian Nagelsmann hat es aus dieser Abgeschiedenheit in die große Welt geschafft. Der Brasilianer "Bobby" Firmino holte sich hier seinen letzten Schliff für eine Weltkarriere und Nationalspieler wie Niklas Süle oder David Raum starteten aus dem Schloss zu den Top-Klubs der Bundesliga.
Die TSG Hoffenheim mit Sitz in Zuzenhausen und Stadion in Sinsheim ist trotz aller Anfeindungen eine gute Adresse für Spieler der Kategorie "U-21-Nationalspieler mit Perspektive A-Nationalelf", wie es der "Kicker" in dieser Woche schrieb. Zu denen zählt eben jener Beier, der in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt hat, die viel darüber erzählt, wie es auch gehen kann. Mit Demut und einer gesunden Selbsteinschätzung. Der Weg der neuen deutschen Offensivhoffnung ist einer, der das genaue Gegenteil des Wunderkinds Youssoufa Moukoko darstellt. Während der Dortmunder Moukoko bei einem Top-Klub um Spielzeit ringt, ging Beier für zwei Jahre zu Hannover 96, in die harte Schule Zweite Liga.
Abseits der Scheinwerfer entwickelte er sein Spiel, nahm es mit den harten Hunden des Unterhauses auf und kehrte zurück. Bei 96 ist der sportliche Erfolg seit Jahren rar gesät, aber die Spielzeit war maximal. Im ersten Jahr sorgte Beier kurz für Aufsehen. Im DFB-Pokal traf er in zwei Spielen gleich doppelt - erst gegen Fortuna Düsseldorf und dann auch gegen Borussia Mönchengladbach. Danach verschwand er wieder, bracht es jedoch auf 68 Pflichtspiele mit insgesamt 15 Treffern und sieben Assists. Die, die sich mit Fußball beschäftigen, hatten ihn schon da auf dem Schirm. So wie der ehemalige Profi Dietmar Hamann, der bei all seiner Lautstärke durch seine Rolle bei Sky, einer der Experten des Landes ist.
Schon in Hannover "herausragend"
"Ich habe Beier dort mal bei einem Spiel gesehen und dachte sofort: Der Junge hat was", sagt Hamann im Gespräch mit ntv.de. "Ich wusste da noch nicht viel über ihn. Ich wusste nicht, dass er ausgeliehen war. Aber ich wusste sofort, dass ich ihn jetzt häufiger sehen werde." Das tat er. Und Beier bewies sich weiter. Hamann sah auch, wie der junge Stürmer Verantwortung übernahm, als es in einem Spiel bei Hansa Rostock darum ging, einen Elfmeter vor den ihm feindlich gesinnten Anhängern der Kogge zu schießen. Er traf an diesem Tag im September 2022 im Ostseestadion, Hannover gewann mit 1:0. Auch deswegen kommt Hamann zu seinem Fazit: "Beier hat das in Hannover schon herausragend gemacht."

Beier überwindet Yann Sommer. Das Pokalspiel gegen Gladbach ist sein Durchbruch.
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"Ich bin ja nach Hannover gegangen, um Spielpraxis zu sammeln. Ich habe meine Schritte da gemacht. Der Schritt nach Hannover war richtig für mich", sagte Beier in diesem Sommer: "Die letzten zwei Jahre waren für mich sehr wichtig. Trainer Stefan Leitl hat mir Vertrauen geschenkt und mich häufig in der Startelf spielen lassen. Er hat mich menschlich und taktisch besser gemacht und weiterentwickelt."
Beier hatte keine Eile, er war immerhin im Profi-Geschäft angekommen und wusste, dass jedes Spiel ihn besser machen würde. Er wusste, dass er die Chance ergreifen könne und vielleicht träumte er schon damals davon, irgendwann einmal in der Nationalmannschaft auflaufen zu können. Noch hat er es nicht geschafft. Aber er klopft laut an. Ungewöhnlich, auch aufgrund seiner Herkunft.
Was vom Osten übrig blieb
Wohl nirgendwo anders ist die immer noch existierende Trennung Deutschlands so sichtbar wie im Fußball. Der Osten des Landes ist auch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht in der Nationalmannschaft angekommen. Seit dem Rücktritt von Toni Kroos, der, so will es die Gnade der rechtzeitigen Geburt, für immer der einzige auf dem Staatsgebiet der DDR geborene Fußball-Weltmeister sein wird, spuckt das System keine Spieler mehr aus. Zuletzt schaffte es mit Robert Andrich nur ein Spieler aus dem alten DDR-Gebiet in den Kader der DFB-Elf. Zuvor zeigte sich immer mal wieder der wie Andrich in Potsdam geborene Kevin Schade im Dunstkreis der Nationalmannschaft. Momentan fehlt der England-Profi jedoch.

Toni Kroos (l.) stammt aus Mecklenburg-Vorpommern. Er hält einen Rekord, den ihm niemand mehr streitig machen wird. Hier sehen Sie ihn bei einem Spiel der Hansa-Jugend im Jahr 2005.
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Schade und Beier haben eins gemeinsam: Beide vertrauen bei ihrer Karriereplanung auf den Berater Maik Barthel. Der schrieb besonders in den frühen 2010er-Jahren Schlagzeilen. Gemeinsam mit Cezary Kucharski hatte er die Karriere des polnischen Superstars Robert Lewandowski bis ins kleinste Detail geplant. Erst ging es für diesen 2010 zu Borussia Dortmund und nach vier Jahren dann weiter zum FC Bayern München. Es war ein lauter Wechsel - und einer der besten Transfers der Ligageschichte. Lewandowski raste bei den Bayern zu Rekorden, wurde zum bestbezahlten Spieler. Irgendwann trennten sich die Wege.
Kucharski und Lewandowski liefern sich in Polen bis heute eine dreckige Schlacht vor Gericht, Barthel hingegen kümmerte sich um die neue Generation der Spieler aus dem Osten. "Ich kenne Spieler wie Matthias Sammer, Michael Ballack und Alexander Zickler. Der Osten ist immer noch voll von diesen Talenten. Das Scouting der anderen ist jedoch dort bei Weitem nicht so intensiv. Dazu habe ich vielleicht ein anderes Auge, besonders für Offensivspieler", sagt Barthel im Gespräch mit ntv.de. Viele Spieler von dort hätten ein verstecktes Potenzial. Barthel sagt: "Ihre fußballerische Entwicklung entspricht nicht immer ihrem Alter. Sie können noch viel lernen. Dazu brauchen sie auch Spielpraxis. Sie müssen sich zeigen, um sich zu entwickeln."
Tor-Hühne Behrens in die USA, Beier nach Bulgarien
Wie Beier, der die U17 von Energie Cottbus im Jahre 2018 ablösefrei in Richtung Hoffenheim verließ und dort Anfang Februar 2020 bei den Profis sein Debüt feierte. Nach 18 weiteren Monaten und zwei Treffern in der Europa League bei einem 4:1 gegen KAA Gent im Dezember 2020 ging es dann für die Spielpraxis nach Hannover.
Zurück in Hoffenheim wurde Beier in diesem Sommer eine schwere bis unmögliche Saison vorausgesagt. Mit Andrej Kramaric, Wout Weghorst, Ihlas Bebou, Mergim Berisha und Marius Bülter tummelt sich im Kader der Kraichgauer allerhand Konkurrenz, doch Beier war da und traf, nachdem er gegen Heidenheim eingewechselt worden war. Seitdem steht er in der Startformation und ist nach nur wenigen Auftritten in dieser ersten wirklichen Bundesliga-Saison ins Blickfeld der Nationalmannschaft geraten.
Dort steht mit Julian Nagelsmann bekanntlich ein alter Hoffenheimer an der Seitenlinie. Noch verzichtet er auf ihn, doch als es um die Nominierung für die USA-Reise ging, hatte er Beier auf dem Schirm. Der neue Bundestrainer bevorzugte Kevin Behrens, den Hünen von Union Berlin.
Für Beier ging es zu U21, die er beim 3:2 in Bulgarien als Kapitän und in ungewohnter Rolle auf der Achter-Position auf den Platz führte. Abseits seiner Idealposition in der Offensive blieb er hinter den Erwartungen zurück. Und traf dann zurück in Hoffenheim erneut beim 1:3 gegen Eintracht Frankfurt. Beier griff einen langen Ball von Keeper Oliver Baumann auf, brachte sein Tempo auf den Platz, legte sich den Ball auf den schwachen Fuß, verwirrte damit die Abwehr und schob überlegt aus der Distanz ein.
Der Raumfinder
"Wie er an den Frankfurtern vorbeigeht oder auch das Tor gegen Union Berlin, bei dem er schneller als Leonardo Bonucci ist und natürlich auch ein wenig Glück hat, dass er da mit der Fußspitze drankommt", schwärmt Hamann: "Er sieht Räume, die andere nicht sehen." Nicht nur deswegen, sondern auch, weil er variabel ist, weil Beier das Spiel, wie sein Berater Barthel sagt, "lesen kann, wie ich es selten gesehen habe in meiner Karriere" wird ihm eine große Karriere zugetraut. Er ist, das deutet der Berater an, ein Raumfinder. "Er ist unglaublich spielintelligent. Er hat einen unglaublichen Instinkt, immer am richtigen Ort zu sein", sagt Barthel.
Was Berater so erzählen, weil es ihr Job ist. Was Beier aber durch seine Leistung bestätigt. Soll der Berater noch was erzählen: "Vom Spielertypen könnte man ihn am ehesten mit Thomas Müller vergleichen, weil er ein ebenso brillanter Nischenspieler ist. Er ist überall in der Offensive einsetzbar." Doch am wohlsten fühlt er sich in einem System, das es so selten gibt, in einem mit zwei Stürmern. "Er ist stark mit dem Ball am Fuß, er ist sicher am besten, wenn er um eine echte Kante im Sturm herumspielen kann", sagt Hamann: "Er ist ein unheimlich cleverer, spielender Mittelstürmer. Er ist smart und ein echtes Schlitzohr im positiven Sinne."
Müller bleibt in Deutschland unerreicht, sagt der Datenmann

Thomas Müller war schon bei der WM 2010 ein unglaublich wichtiger Faktor - und unbekümmert.
(Foto: imago images/Horstmüller)
Der ehemalige Lewandowski-Berater, der in seinem neuen Spieler das Potenzial eines Thomas Müllers sieht. Der Experte, der Beier ein "Schlitzohr" nennt und damit seine Spielweise meint, jetzt muss sich jemand finden, der ihm Humor attestiert. Anruf bei Patrick May. Vielleicht nicht die richtige Wahl, aber die bessere. May ist ein Mensch, der anhand seiner Daten die Zukunft zumindest ein Stück voraussagen kann. Er arbeitet für Goalimpact, einem Unternehmen, das einzelnen Spielern einen Wert zuteilt, der die Auswirkungen auf das Spiel bemisst. Robert Lewandowski, sagt May und bestätigt damit die These des ehemaligen Lewandowski-Beraters Barthel, sei ein Spätzünder gewesen. Einer, der Spielpraxis brauchte und in Dortmund bekam.
Mit 21 Jahren war Lewandowskis Wert in der Goalimpact-Statistik am unteren Ende der Wahrnehmung, ganz anders jedoch Thomas Müller, der eigentliche Grund des Anrufs beim Datenmann. Müller hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine WM auf dem Buckel und war in die Weltklasse durchgebrochen. "Das Niveau von Müller kommt in Deutschland vielleicht alle 50 Jahre vor", sagt May, "aber Beiers Goalimpact wird wahrscheinlich bald in die internationale Klasse durchbrechen."
Nominierung bereits im November?
Das jedoch zumindest sportlich vorerst nur auf Bundesliga-Niveau. Bei Hoffenheim gibt es keinen Europapokal. Beiers einzige Möglichkeit auf internationalem Level seinen Namen zu hinterlassen, bleibt somit vorerst die U21 oder vielleicht sogar die DFB-Elf von Julian Nagelsmann. Dietmar Hamann sieht große Chancen dafür, die fehlende Erfahrung ist ihm egal. "Ganz im Gegenteil", sagt er, "das ist vielleicht doch nicht schlecht. Diese Unbekümmertheit kann einer Mannschaft gerade nach den vielen schlechten Turnieren auch guttun. Niclas Füllkrug, Kevin Behrens - das sind andere Spielertypen. Einer wie Beier würde der Nationalmannschaft etwas anderes hinzufügen."
Ob das schon bald passieren wird, zeigt sich, wenn Julian Nagelsmann Mitte November seinen Kader für die letzten Länderspiele des Jahres berufen wird. Doch erst einmal geht es für Beier am heutigen Samstag in dem Stadion, das einst Neckarstadion hieß, darum, seine aktuell starke Form zu untermauern. Viele sind schon hochgeflogen und später im Oktobernebel verschwunden. Auch, wenn da kurz vorher noch Sonne war.
Quelle: ntv.de