Verstöße und Angst im Khalifa In diesem Stadion der Schande kickt der DFB

Das Khalifa International Stadium wurde mit viel Leid erbaut.

Das Khalifa International Stadium wurde mit viel Leid erbaut.

(Foto: IMAGO/Kyodo News)

Am Nachmittag startet die deutsche Nationalmannschaft ins WM-Turnier. Ihr erstes Spiel findet im Khalifa International Stadium statt, einem Stadion der Schande. Beim Bau kam es zu vielen Menschenrechtsverstößen - und einem Todesfall. Was Arbeiter berichten, ist erschreckend.

Wieder werden Flammen um den überdimensionalen Weltmeisterpokal auf dem Rasen emporgeschossen werden, wieder wird die Lichtshow verrücktspielen. So wie vor jedem WM-Spiel in Katar. Wieder wird auch die westliche Popmusik so ohrenbetäubend, so laut sein, dass - dies scheint der Plan von Katar und FIFA zu sein - die Fans das Leid und die Schreie derer, die für dieses Mega-Event gelitten und den Ort, in dem sich die Spieler gegenüberstehen, aufgebaut haben, nicht mehr hören.

Doch wenn um 14 Uhr (ARD und im Liveticker auf ntv.de) die deutsche Nationalmannschaft im Khalifa International Stadium ins Turnier startet, spielt sie in einem Stadion der Schande und des Blutes. "Arbeitnehmer, die im Khalifa International Stadion beschäftigt waren, berichteten über ähnliche Rechtsverletzungen wie die Arbeitnehmer in den sieben anderen Stadien", sagt Namrata Raju, der Indien-Direktor und Arbeitsexperte der Menschen- und Arbeitsrechtsorganisation Equidem gegenüber ntv.de.

Die Menschen- und Arbeitsrechtsorganisation setzt sich für die Rechte marginalisierter Gemeinschaften ein und deckt Ungerechtigkeiten mit Teams von Experten und Ermittlern vor Ort auf. So auch in Katar, wo Equidem zusammen mit Arbeitern eine 18-monatige Untersuchung in den acht WM-Stadien durchführte. Inder stellen die größte Anzahl an Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Katar.

"Wenn wir uns beschweren, werden wir gefeuert"

Das Untersuchungsteam fand, dass beim Bau des Khalifa-Stadions "Diskriminierung aufgrund der Nationalität, Lohndiebstahl - insbesondere unbezahlte Überstunden, Nichtzahlung von Abfindungen - und Überarbeitung" die häufigsten Verstöße waren, so Raju. Zusätzlich zu diesen Problemen behaupteten Arbeitnehmer aus dem Khalifa, "dass sie illegale Anwerbegebühren gezahlt hätten, die normalerweise vom Arbeitgeber bezahlt werden müssten". Außerdem seien die Arbeitnehmer dort "im Allgemeinen von einer Kultur der Angst am Arbeitsplatz betroffen" gewesen.

Die "beunruhigendsten Beobachtungen" der Untersuchung sei laut des Arbeitsexperten aber "die überwältigende Angst der Arbeitnehmer vor Repressalien" gewesen. Diese befürchteten sie vor allem, "wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen". Dementsprechend lautet der Name der Untersuchung: "If we complain, we are fired", "Wenn wir uns beschweren, werden wir gefeuert".

Darin werden folgende weitere Verstöße für das Khalifa-Stadion aufgelistet: Psychische Schäden, wie etwa Drohungen, Stress und Angstkulturen; Hindernisse für den beruflichen Aufstieg; Gesundheits- und Sicherheitsrisiken; Gefährdung durch Covid-19; Vergeltungsmaßnahmen für die Meldung von Rechtsverletzungen; keine Möglichkeit, den Arbeitgeber zu wechseln.

Die Aussage eines Arbeiters aus Bangladesch von der Khalifa-Baustelle liest sich wie folgt: "Ich habe nur im ersten Jahr Überstunden bekommen. Danach weigerten sie sich, Überstunden zu zahlen, und zogen sie aus verschiedenen Gründen von unserem Lohn ab. Am Ende bekamen wir weniger, als in unseren Verträgen stand. Als unabhängige Prüfer kamen, zeigten sie ihnen Gehaltsbücher, aus denen hervorging, dass sie uns für Überstunden und andere Extras ordnungsgemäß bezahlten."

Engländer stirbt im Khalifa

Indien-Direktor Raju erkennt an, dass Katar eine Reihe von Arbeitsreformen eingeführt hat, "die ein positives Ergebnis darstellen". Die Equidem-Untersuchung zeige jedoch, "dass die Realität vor Ort eine andere ist und die Arbeitnehmer wirklich keine Stimme haben". Das deckt sich mit den Recherchen anderer Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International. Gewerkschaften etwa sind in Katar verboten.

Mindestens ein Arbeiter starb bei den Arbeiten im Khalifa Stadium. Sein Name war Zac Cox, ein Engländer. Im Januar 2017 stürzte er bei der Installation eines Laufstegs aus 40 Metern Höhe von einem Seil. Die Gerichtsmedizinerin sagte damals bei der Untersuchung in Großbritannien, dass "viele Manager wussten", dass sie "von einer Gruppe ihrer Arbeiter verlangten, sich auf eine potenziell tödliche Ausrüstung zu verlassen" und Änderungen vorgenommen worden seien, um die Arbeit zu beschleunigen, damit das Stadion rechtzeitig vor der WM fertig würde, die "chaotisch, unprofessionell, unüberlegt und schlichtweg gefährlich" gewesen seien.

Cox ist einer von nur drei toten Arbeitern, die Katar offiziell in Bezug auf die Weltmeisterschaft als arbeitsbedingten Todesfall anerkennt. Insgesamt gibt der Oberste Ausschuss laut Equidem nur 37 Todesfälle unter den Arbeitsmigrantinnen und -migranten an. Menschenrechtsorganisationen widersprechen diesen Angaben aufs Schärfste, sie zählen Tausende Tote.

Grundrecht auf Leben nicht respektiert

Die größeren Bedenken der Menschenrechtsgemeinschaft beziehen sich laut Raju aber "auf die Tatsache, dass es keine wirkliche Transparenz in Bezug auf das Wohlergehen der Arbeitnehmer gibt und die Arbeitnehmer immer noch unter Bedingungen wie extremer Hitze arbeiten, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken und sogar zum Tod führen können." Diese Gesamtsituation, in der Reformen nur auf dem Papier stehen, "die Unternehmen aber in der Praxis das Grundrecht der Arbeitnehmer auf Leben nicht respektieren", sei laut des Experten "unhaltbar".

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Wenn das DFB-Team am Nachmittag den Rasen betritt und den Kampf um den Weltmeistertitel beginnt, möchte Raju die Nationalelf "daran erinnern, dass ihre Stimme zählt". Der DFB solle die FIFA immer wieder auffordern, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer "zu entschädigen", denn viele von ihnen hätten immer noch "ausstehende Beiträge von ihren Unternehmen" und würden "in Armut leben". Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bräuchten auch eine "Plattform, um sich ohne Angst vor Repressalien zu Wort zu melden". Die DFB-Elf solle also auch Druck machen für "ein Zentrum für Wanderarbeitnehmer, damit die Arbeitnehmer einen Raum haben, in dem sie über ihre Erfahrungen sprechen können, ohne diese überwältigende Angst zu haben".

"One Love" wird es im Khalifa-Stadion nicht nur am Arm Manuel Neuers nicht geben. Die Armbinde des Kapitäns hätte das Leid der Arbeiter, die die Arena errichteten, auch nicht wiedergutgemacht. Das ist nicht möglich, aber die FIFA und Katar können zusätzliches Leid vermeiden, wenn sie endlich handeln. Auch wenn dafür die Musik wohl wieder viel zu laut sein wird.

Quelle: ntv.de

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