Tuchels kurioser Karrierestart Als der VfB Lübeck Mainz 05 ins Glück stürzte
18.10.2022, 13:06 Uhr
Thomas Tuchel (l.) und Christian Heidel bejubeln im August 2009 den Sieg über den FC Bayern München.
(Foto: imago sportfotodienst)
2009 wirft Viertligist VfB Lübeck Mainz 05 aus dem Pokal, anschließend fliegt Aufstiegstrainer Jörn Andersen bei den Rheinhessen raus. Als Nachfolger präsentiert der Klub einen unbekannten Mann: Ein 35-Jähriger namens Thomas Tuchel übernimmt. Ein Risiko, das sich auszahlt.
Im Mai 2009 steht ein für norwegische Verhältnisse entfesselter Jörn Andersen auf dem Spielertunnel des Mainzer Bruchwegstadions und lässt sich, durchnässt nach einer Bierdusche feiern: Mit einem 4:0 gegen Rot-Weiß Oberhausen hatten die Rheinhessen schon im Jahr eins nach dem vielbeweinten Abschied des Klubheiligen Jürgen Klopp die Rückkehr in die Bundesliga klargemacht. Und Andersen ist der Mann der Stunde.
Wenige Wochen später ist der Aufstiegstrainer Vergangenheit, noch bevor er seine Mannschaft überhaupt einmal in der Bundesliga betreuen durfte. Nach einem peinlichen 1:2 in der ersten Pokalrunde nach Verlängerung beim Viertligisten VfB Lübeck fliegt der Norweger noch vor dem Start der vierten Bundesligasaison des 1. FSV Mainz 05 raus. Weil "sein Plan mit unserer Philosophie nichts zu tun hatte", erklärte der damalige Manager Christian Heidel der verdutzten Fußball-Öffentlichkeit das Aus, das die früheste Trainerentlassung der Bundesliga-Historie bedeutete. "Wir haben als Mainz 05 ein klares Anforderungsprofil, wie ein Trainer mit der Mannschaft und im Verein arbeiten soll. Unsere Stärken sind Teamwork, die Nähe zur Mannschaft und die interne Kommunikation. Unser Ansatz und der von Jörn Andersen haben nicht mehr übereingestimmt."
"Ich packe die Spieler härter an"
Nach sieben intensiven Jahren unter Jürgen Klopp, der aus dem FSV Mainz 05 binnen weniger Jahre aus einem weitgehend egalen Zweitligisten einen aufregenden Bundesligisten und sich aus einem weitgehend egalen Zweitligaspieler einen aufregenden Trainer gemacht hatte, und einem überaus erfolgreichen Jahr unter Andersen, herrschte wieder Aufregung rund um den Bruchweg.
Doch es war eben eine kühle strategische Entscheidung, die Christian Heidel gemeinsam mit dem Vorstand nach mehreren Krisensitzungen mit und ohne Andersen vollzog. "Die Entscheidung für eine Trennung von Jörn Andersen hatte nichts mit dem Ausgang des Pokalspiels in Lübeck zu tun", blickt Heidel, der nach einem Engagement bei Schalke 04 längst wieder die Dinge bei Mainz 05 lenkt und sortiert, gegenüber ntv.de zurück. Das peinliche Pokalaus verpasste der Auseinanderentwicklung aber doch eine neue Dynamik.
Die Mannschaft, die er zuvor in die Bundesliga geführt hatte, hatte der einstige Torjäger Andersen im Sommer 2009 längst verloren. So berichtete ein Profi von damals, dass Andersen während der Sommerpause eigenmächtig persönliche Bilder der Spieler aus der Mannschaftskabine entfernt und entsorgt hatte. Sowas kam nicht gut an. Die Vorbereitung war ein Desaster, bis zu 14 Spieler fielen aus, ein Testspiel gegen Borussia Dortmund musste mangels Personal abgesagt werden. Dinge, die Andersen angekreidet wurden. "Ich packe die Spieler härter an. Bisher bin ich damit sehr gut gefahren", gab sich der Trainer in einem Interview mit der "Welt" beratungsresistent. Andersen habe binnen weniger Wochen eine komplette Verwandlung durchgemacht. Zum Negativen.
Was damals niemand ahnte: Der VfB Lübeck, bei allem Respekt, als 79. der Ewigen Tabelle der 2. Bundesliga in der deutschen Fußball-Geschichte eher eine Randnotiz, gab mit der Sensation den Startschuss für eine Weltkarriere. Denn in Mainz zauberten sie einen aus dem Hut, den außerhalb des 1. FSV Mainz 05 wirklich niemand auf dem Zettel hatte. Außer ein paar Kennern des Jugendfußballs vielleicht.
Thomas Tuchel hieß der Mann, der in Mainz seine ersten Schritte im Profi-Fußball machen durfte - und inzwischen Borussia Dortmund, Paris Saint-Germain und den FC Chelsea in der Vita stehen hat. Der damals 35-Jährige ist heute Champions-League-Sieger und wurde später zum Welttrainer gekürt. 2009 wurde er als frischgebackener deutscher A-Jugend-Meister befördert, mit dem späteren Weltmeister André Schürrle schlug man im Endspiel Borussia Dortmund mit dem Torschützen Mario Götze.
"Was wird denn das werden?"
"Tuchel ist eine kostengünstige Lösung", schrieb die "Zeit" seinerzeit. "Ist Tuchel auch eine gute Lösung? Zumindest gibt es ein gutes Omen, denn vieles erinnert an das Jahr 2001. Damals wurde Jürgen Klopp vom Verteidiger zum Trainer, Mainz stand kurz vor dem Abstieg in die Drittklassigkeit. Klopp war der Notnagel, denn für einen erfahrenen Mann fehlte wie heute das Geld. Aber mit Klopp ging es bergauf, bis in die Bundesliga."
Wenige Tage nach der Pleite von Lübeck stand Tuchel dann also erstmals vor einer Profi-Mannschaft - und lieferte schnell ab. "Mein erster Gedanke war: 'Okay, der U19-Trainer, was wird denn das werden?' Ich konnte mir naiverweise nicht richtig vorstellen, dass da jetzt jemand vor uns steht, der direkt eine Bundesliga-Mannschaft auf den Platz führen kann", erinnert sich Niko Bungert dieser Tage auf der Homepage des Klubs. Bungert, der spätere Kapitän der Mannschaft, hatte gegen Lübeck erst getroffen und dann mit einem Fehler selbst die vereinshistorisch folgenschwere Wende eingeleitet. "Alle Zweifel waren jedoch komplett weggewischt, als Thomas Tuchel zum ersten Mal unsere Kabine betrat und einen solchen Optimismus, eine solche positive Energie mitbrachte, mit der ersten Ansprache die ganze Mannschaft sofort mitgerissen hat."
Und Tuchel, der zuvor nur im Jugendbereich gearbeitet hatte, kam schnell an: Nach zwei Unentschieden zum Auftakt schlug seine Mannschaft am 3. Spieltag auch den FC Bayern München. "Ich bin ein kommunikativer, akribischer Trainer, der nahe an der Mannschaft arbeitet. Meine Philosophie lautet: nach vorne gerichtete Verteidigung, Zweikampfstärke, schnelles Spiel in die Spitze", hatte Tuchel noch zuvor in einem Interview für die Homepage der Gäste erklärt. "Das deckt sich offenbar mit den Erwartungen des Vereins an die Arbeit des Trainers und das Spiel unserer Mannschaft."
Den FC Bayern unter Louis van Gaal überrumpelte man mit dem schnellen, intensiven Fußball, und wieder staunte die Fußball-Öffentlichkeit. Diesmal über den neuen Trainer und die schlaue Kühnheit der Mainzer Macher. Andersen, die Pokalpleite und die anschließenden Turbulenzen waren schnell vergessen. Am Ende der ersten Saison unter dem neuen Trainer stand ein starker 9. Platz, im Jahr darauf führte Tuchel seine Mannschaft mit sieben Siegen in Serie zum damaligen Startrekord in der Geschichte der Bundesliga.
"Mainz 05 ist ihm dankbar"
Für Thomas Tuchel begann mit Andersens Ende ein rasanter Aufstieg: Den FSV Mainz 05 führte er zweimal ins internationale Geschäft, ehe er den Klub 2014 wieder verließ. Mit Borussia Dortmund holte er den DFB-Pokal, Paris Saint-Germain führte er zu diversen nationalen Titeln und 2020 ins Champions-League-Finale, das er 2021 mit dem FC Chelsea gewann. Das machte ihn zum Welttrainer des Jahres 2021. Derzeit befindet sich Tuchel nach seiner überraschenden Entlassung beim FC Chelsea im September im Wartestand.
Der VfB Lübeck schied damals durch ein 1:3 gegen den VfB Stuttgart in der 2. Pokalrunde aus, der Klub spielt seitdem - nur unterbrochen durch ein einjähriges Intermezzo in der 3. Liga - viertklassig. Beim 1. FSV Mainz 05 wurde durch die Pokalsensation aus dem August 2009 "etwas losgestoßen", wie Niko Bungert heute sagt. "Der Verein ist ihm dankbar, weil er es geschafft hat, Mainz so zu etablieren in der Phase nach Kloppo, mit einem Fußball, der Hand und Fuß hatte." Mainz 05 spielt seit 2009 ununterbrochen in der Bundesliga.
Am Abend (18 Uhr/ Sky und im Liveticker auf ntv.de) empfängt der VfB Lübeck nun mal wieder den 1. FSV Mainz 05 zum Pokalduell. Die Voraussetzungen sind ähnlich: Hier der Bundesligist, dort der Regionalligist. Und bei den Mainzern sitzt Bo Svensson wieder auf der Bank: Damals als Spieler, heute als Trainer. Svensson ist erfolgreich, beliebt und sportlich und menschlich über jeden Zweifel erhaben.
Svensson ist auch Teil von Heidels Mainz-Comeback: Der einstige Macher kehrte zu Neujahr 2021 zu "seinem" Klub zurück, als der emotional am Boden lag: "Ich hatte entschieden, dass ich es mache, wenn ich die Leute bekomme. Bedingung war für mich, dass Bo ja sagt und dass Martin Schmidt ja sagt. Da hatte ich das Gefühl, dass es eine Mannschaft ist, die ich gut kenne, der ich vertraue und mit der wir vielleicht nochmal eine kleine Chance haben."
Neben Bo Svensson, dem Trainer, sagte auch Martin Schmidt ja, der Ex-Trainer und künftige Sportdirektor, mit dem Heidel noch an Heiligabend vier Stunden lang die gemeinsame Rettungsmission ausgelotet hatte. Anschließend drehte das Trio erst die Stimmung, dann kletterte die Mannschaft locker von den Abstiegsrängen. Das Schlimmste, was Bo Svensson in Lübeck passieren kann, ist ein Ausscheiden. Das Beste, was dem Verein diesmal passieren kann, ist das Weiterkommen.
Quelle: ntv.de