Fußball

"Gerne bewerben!" Bei Nagelsmann darf sich niemand mehr sicher sein

Soll die DFB-Elf aus dem Schatten ins Licht führen: Julian Nagelsmann.

Soll die DFB-Elf aus dem Schatten ins Licht führen: Julian Nagelsmann.

(Foto: Thomas Boecker/DFB)

Keine Experimente mehr, keine schlechte Stimmung, dafür Gier und Leidenschaft: Julian Nagelsmann startet sein Bundestrainer-Projekt mit personell gravierenden Weichenstellungen. Eine Rückholaktion ist ein Signal für alle (enttäuschten) EM-Kandidaten.

Julian Nagelsmann hat einen klaren Auftrag. Er soll dafür sorgen, dass Nationalmannschaft und Land im Sommer 2024 eine große gemeinsame Party feiern. Bei der Europameisterschaft zwischen Berlin und München sollen die dunklen Wolken über dem DFB-Team, die seit Jahren nie wirklich verschwinden wollen, endgültig weggepustet werden. Dass das Turnier von Direktor Philipp Lahm auch gleichzeitig noch zum Wiedererstarken von Europas Zusammenhalt und Werten sowie der Demokratie vereinnahmt werden soll, muss den neuen Bundestrainer immerhin nicht interessieren. Er ist nur dafür verantwortlich, dass die Dinge auf dem Rasen stimmen.

Wobei das Wort "nur" die Schwierigkeit des Auftrags massiv verniedlicht. Nagelsmanns prominente Vorgänger waren daran gescheitert, Anspruch der Nationalmannschaft (Weltspitze) und Wirklichkeit (bittere Niederlagen und Peinlichkeiten) zusammenzubringen. "Jeder", betonte der neue Bundestrainer in einem DFB-Interview, "soll top fokussiert sein und mit dem nötigen Spaß, der nötigen Lust und vor allem der nötigen Gier die USA-Reise bestreiten". Nagelsmann trat mit seinem klaren Statement vehement der von Vereinen und Spielern geübten Kritik an der Tour mitten in der Saison entgegen. Aufbruch statt schlechter Stimmung.

Nagelsmann setzt auf Soforthilfen

Davon gab es in den vergangenen Jahren, seit 2018, mehr als genug beim DFB. Nun soll es also der dritte Trainer mit großer Vita richten. Und er tritt dabei nicht als der Visionär auf, den viele in ihm immer gesehen haben. Nagelsmann setzt mit seinem ersten Kader zwar ein paar überraschende Zeichen, unter anderem mit den Debütanten Kevin Behrens (Sturm, Union Berlin), Robert Andrich (Mittelfeld, Bayer Leverkusen) und Chris Führich (Mittelfeld, VfB Stuttgart), nominiert aber das Personal, das ihm in der Gegenwart sofortige Hilfe verspricht. Auftrag und Zeitrahmen sind schließlich klar definiert.

Wenn der DFB-Tross in der kommenden Woche zur umstrittenen Reise in die USA aufbricht, dann endet die Zeit aller Experimente. Vorgänger Flick hat sie so sehr ausgedehnt, dass irgendwann der Glaube fehlte, dass sich dahinter ein erfolgreicher Plan verbergen könnte. Mit der Rückholaktion von Mats Hummels und dem Verbleib von Thomas Müller im Aufgebot setzt der neue Bundestrainer klare hierarchische Zeichen. Die beiden alternden Weltmeister haben nicht nur sportlichen Wert für die Mannschaft, sondern vor allem kommunikativen. Ihnen dürften eine Schlüsselrolle beim Coaching auf dem Platz zufallen. Hummels gar dürfte direkt der Chef der Abwehr werden, die seit Ewigkeiten nicht mehr stabil steht. "Wir brauchen gerade in der Kette Spieler, die viel sprechen und coachen, die von hinten einfach steuern, wie wir pressen und eröffnen", erläuterte Nagelsmann seine Entscheidung, die auch durch den "exzellenten Spielaufbau" von Hummels beeinflusst wurde.

Welche Rolle Müller zufällt, das dürfte eine der interessantesten Entscheidungen von Nagelsmann werden. Beim FC Bayern galt ihre Zusammenarbeit nicht immer frei von Konflikten. Aktuell füllt er im Verein die Rolle des "Gold"-Jungen bestens aus, kommt von der Bank und gibt wichtige Impulse. Auch im DFB-Team scheint das denkbar. Zumal die zentralen Rollen im Mittelfeld von anderen Spielern besetzt werden dürften. İlkay Gündoğan bleibt der Kapitän, das war die erste große Personalentscheidung von Nagelsmann. Er wird also (vorerst) einen Stammplatz innehaben. Auf der Sechs? Auf der Acht? Auf der Zehn? Bislang hat noch kein Bundestrainer eine so gute Rolle für den Mann vom FC Barcelona gefunden, dass er nachhaltig unverzichtbar war. Erstaunlich, denn bei Manchester City, der vielleicht besten Vereinsmannschaft der Welt, war er das nämlich.

Müller als Sturmspitze?

Bleiben die Fragen, wohin mit Joshua Kimmich und Leon Goretzka, seinen großen Vertrauten aus der Zeit beim FC Bayern, und Jamal Musiala? Die Ewigkeitsdebatte um Kimmich, wertvoller im Zentrum oder auf der rechten Abwehrseite, wird vorerst nicht verstummen. Und an dem immer dominanteren Musiala wird kein Weg mehr vorbeiführen. Müller muss sich in der Mittelfeldhierarchie mutmaßlich hinten anstellen. Oder Nagelsmann plant, den Raumdeuter als vorderste Spitze aufzubieten. Der 34-Jährige hat diese Rolle immer wieder ausgefüllt, seine stärksten Spiele hat er auf dieser Position aber nicht gemacht.

Was dagegen sprechen würde: Mit Niclas Füllkrug und Debütant Behrens hat Nagelsmann zwei klassische Neuner nominiert. Bullige und kopfballstarke Stürmer. Ein Indiz, dass die Zeiten eines Kai Havertz ganz vorne vorbei sein könnten. Der Offensivspieler des FC Arsenal konnte nie nachweisen, dass er die beste Lösung für die grassierenden Sturmprobleme ist. Möglich wäre auch ein Maximilian Beier gewesen, die Saisonentdeckung der TSG Hoffenheim. Aber der 20-Jährige, um den es Gerüchte einer Nominierung gegeben hatte, bleibt erst mal außen vor. Auch ein Signal von Nagelsmann, dass er nicht an die Zukunft denkt, denken muss (sein Vertrag endet nach der Europameisterschaft), sondern nur an kurzfristigen Erfolg im kommenden Jahr.

Dabei scheut er sich auch nicht, Spieler zu enttäuschen. Etwa die beiden Dortmunder Emre Can und Nico Schlotterbeck. Auch die Leipziger Timo Werner und Lukas Klostermann, die der Bundestrainer im Klub selbst noch trainiert hat. Aber es gilt eben das Leistungsprinzip. Can ist längst nicht in der Form der vergangenen Rückrunde und auch die drei anderen Spieler sind im Moment nicht auf dem Niveau, um mit dem deutschen Fußball die Kurve zu einer besseren Zukunft zu kratzen. Aber die Lage ist eben auch so: "Wir sind im Oktober und noch weit genug weg von dem großen Event im Sommer. Für alle Spieler, die jetzt nicht mitfahren dürfen, ist die Tür niemals zu." Über Leistung könne "sich jeder präsentieren." Schließlich würde er "niemals die besten Spieler zu Hause lassen im Sommer - gerne bewerben!" Die ersten 26 Vorstellungsgespräche sind nun vereinbart.

Quelle: ntv.de

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