Zerstörte Bundesliga-Romantik Der Hinrunden-Albtraum der Unentlassbaren
12.12.2023, 19:17 Uhr
Edin Terzić (l.) und Urs Fischer unterhalten sich. Wohl nicht über das, was ihnen widerfahren wird.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Mit großen Hoffnungen gehen drei Bundesliga-Klubs in die Saison 2023/2024. Sie haben im Vorjahr den irrwitzigen letzten Spieltag am 27. Mai 2023 geprägt. An der Seitenlinie stehen Trainer, die für mehr stehen, als nur die Tabelle. Im Laufe der Hinrunde zerbrechen sie.
Als es vorbei war, flossen die Tränen und nicht das Bier. Edin Terzić klopfte an die Stelle, an der sein Herz schlägt und trat vor die Südtribüne. Dann zerbrach er wieder. Später saß er verloren im Pressekonferenzraum. "Dieser Spieltag wird uns sehr lange weh tun", sagte er. "Wir haben der Stadt den Glauben geschenkt. Wir versuchen es nächste Saison nochmal." Etwas mehr als sechs Monate nach dem 27. Mai 2023 glaubt in Dortmund niemand mehr. Etwas mehr als sechs Monate nach der dem 2:2 gegen Mainz ist der Versuch, wieder um die Meisterschaft zu kämpfen, als gescheitert zu betrachten. Etwas mehr als sechs Monate nach der weggeschmissenen Meisterschaft schmerzt der 34. Spieltag der Saison 2022/2023 noch immer.
Aus dem direkten, unmittelbaren Schmerz ist ein chronischer geworden. Der Vizemeister irrlichtert geplagt von allerhand Sorgen durch die Saison. Das Westfalenstadion ist längst keine uneinnehmbare Festung mehr, die Niederlagen häufen sich, aus der Unwetterwarnung ist längst ein tosender Orkan geworden. Borussia Dortmund überzeugt in diesen letzten Tagen des Jahres nur noch als das, was sie nicht sein wollten.
Die Dortmunder überzeugen als der klappernde Riese, der sich immer auf die Schnauze legt und nicht mehr hochkommt. Sie sind der Butler James, der "the same procedure as last year?" fragt und dann wieder über das Tigerfell stolpert. Hatte nun im vergangenen Jahr kaum jemand verstanden, wie der BVB sich nach der katastrophalen Vor-WM-Phase der vergangenen Saison in Richtung Meisterschaft geschlichen hatten. Sportlich hatten sie selten überzeugt, gegen die Bayern sogar krachend verloren und trotzdem waren sie da.
Terzić-Kredit fast aufgebraucht
Jetzt sind sie wieder weg. Borussia Dortmund ist mal wieder das deutsche Gegenstück zum englischen Krisengiganten Manchester United. Sie sind der Verein, der überhaupt nichts mehr auf die Reihe bekommt und vor den Augen einer höhnisch applaudierenden Nation ein Krisentheater sondergleichen aufführt. Es ist eines, das in fast jedem anderen Klub den Trainer längst aus dem Amt getrieben hätte. Denn die Dortmunder Krise ist vieles und eben auch eine von Terzić.
Der Sauerländer trägt Borussia Dortmund im Herzen. Er hat sie beim historischen Double 2012 mit all den anderen Anhängern von der Tribüne des Olympiastadions zum 5:2 im Pokalfinale über Bayern München geschrien und er sie an gleicher Stätte inmitten der Pandemie 2021 zum DFB-Pokalsieg geführt. Terzic verkörpert Dortmund. Verkörpert Verein und verkörpert Stadt. Doch was Terzić stark macht, zieht ihn auf die Erde. All das Herzblut taugt denen, die Borussia Dortmund von außen betrachten, zu nichts mehr als großem Spott. Der Kredit scheint aufgebraucht, das vor der Süd geschlossene Bündnis am 27. Mai ist längst aufgekündigt. Nach 14 Spieltagen steht der 41-Jährige stärker in der Kritik als je zuvor. Sein Abgang noch in diesem Jahr kann längst nicht mehr ausgeschlossen werden.
Eine der Fragen, die der BVB dabei beantworten muss, ist kaum zu beantworten: Wie geht ein Klub damit um, einen von ihnen zu entlassen und ist das überhaupt möglich? Wie moderiert ein Verein so einen Abschied? Der BVB war schon einmal in dieser Lage. Damals, als Jürgen Klopp ging und Fußstapfen hinterließ, die nie jemand ausfüllen konnte. Klopp war ein Unentlassbarer. Er konnte sich seinen Abschied aussuchen. Das wird Terzic, sollte die Champions League weiter außer Sichtweite geraten, nicht können.
Als Dortmund weinte, lachte ganz Köpenick
Deswegen richtet sich der Blick dieser Tage am Ende dieser Halbserie der Albträume auf zwei andere Klubs, die diesen schmerzhaften Prozess bereits hinter sich haben. Die das kalte Geschäft der Romantik überordnen mussten. Die sich so schwertaten mit ihren Entscheidungen und doch nicht anders konnten. Sie alle verbindet der 27. Mai 2023, dem Tag, der alles veränderte, in dem er an der Ligaspitze nichts änderte.
Urs Fischer war auch einer dieser Unentlassbaren. Er ging trotzdem. Der Schweizer hatte mit Union Berlin die größte Erfolgsgeschichte des deutschen Fußballs geschrieben, zumindest der vergangenen Jahre. Mit dem kauzigen Trainer kannte der Klub aus Köpenick nur ein Programm - das des niemals enden wollenden Aufstiegs in Sphären, die niemand je für diesen Traditionsverein vorgesehen hatte.
An diesem schicksalshaften 27. Mai, an dem Dortmund weinte, lachte ganz Köpenick. Fischer stand er auf dem Balkon der Alten Försterei und konnte es nicht glauben. Mit einem 1:0 gegen den SV Werder Bremen war den "Eisernen" der Einzug in die Champions League gelungen. Aus dem Urlaub in der ersten Liga, wie es im Umfeld der Köpenicker nach dem Aufstieg im Sommer 2019 hieß, war längst ein Urlaub in Europa geworden. Dafür verantwortlich: eben jener Fischer, der aus der erratischen Transferpolitik des Managers Oliver Ruhnert in jeder Saison eine noch bessere Mannschaft formte.
"Terrorfußball" pflastert Fischers Weg
Kein Spieler, kein Funktionär prägte die Außendarstellung des Vereins so, wie es Fischer mit seiner ruhigen, beschwichtigenden Art tat. Ohne nur einen einzigen Anflug von Arroganz moderierte er den Aufstieg zum nationalen Top-Klub, nie schaute er in eine andere Richtung. Es gab keine Gerüchte um ein Engagement bei anderen Klubs. Fischer war Union und Union war Terrorfußball. Innig geliebt von denen, die sich zu den Fans der Köpenicker zählten und respektiert von denen, die keine Fans waren. Fischer hatte das organisiert.
Das Prinzip war einfach: Jeder schmiss sich für jeden in der Defensive rein. Dort sollten Fehler ausgeschlossen werden, dort sollten die Durchbrüche über die Außen von der defensivsten Fünferkette der Liga verhindert werden und dort sollte die Mitte schon durch ein Stoppschild im defensiven Mittelfeld geschlossen werden. So weiter das Spiel nach vorne rückte, so höher war das Risiko. Irgendwie ging ein Ball rein und dann war es auch okay. Das Rampenlicht überließ er seinen Defensivmonstern.
Am Ende bleibt immer nur die Erinnerung
Dann aber wurde aus dem Traum ein Albtraum und niemand konnte sagen, warum. Vielleicht ging es mit einer Roten Karte für Kevin Volland im Spiel gegen RB Leipzig los. Vielleicht schon mit der Transfers im Sommer, die die Statik der Defensive veränderten oder vielleicht auch erst mit Jude Bellinghams 1:0 bei Unions Debüt in der Champions League. Der ehemalige Dortmunder traf tief in der Nachspielzeit für Real Madrid und aus dem Punkt im Bernabeu wurde nur eine achtbare Niederlage. Es war eine, die Fischer die Beine wegriss.
Als er Anfang November im Spiel gegen Eintracht Frankfurt zum letzten Mal als Trainer in die Alte Försterei schritt, brüllte das Stadion seinen Namen lauter als jemals zuvor. Es reichte nicht. Zu schnell drehte sich die Negativspirale. Eine Woche später war alles vorbei.
Jetzt blieb nur noch die Erinnerungen an den großen Traum, den sie gelebt hatten. Der Fußball lebt dadurch. Er schafft Momente, die für immer bleiben werden. Der Fußball ist eine große Erinnerungsmaschine. Die meiste Zeit zehren die Fans davon, sich daran zu erinnern, was einmal war und nur ganz selten befinden sie sich einer Zeit, die später einmal gewesen und bedeutend sein wird. Nur in wenigen Jahren leben Fans und Vereine den Traum.
Das Wunder von Mainz
Wie sie ihn auch in Mainz gelebt hatten und wie sie auch dort erleben mussten, wie alles umschlägt. Wie alles, was gut war dann zerbricht. Die Vorweihnachtszeit 2020 war beim 1. FSV Mainz 05 alles andere als besinnlich: Sieben Punkte hatte der Klub in einer bitteren Hinserie gesammelt, der Klub rang um seine Identität, Menschen und Verein hatten sich voneinander entfremdet. Das Team hatte unter Trainer Sandro Schwarz und Vorgänger Achim Baierlorzer oft gelangweilt, zu oft frustriert und zu selten begeistert. Oder wenigstens Punkte ergaunert. Der Trainer musste gehen. Als Präsident Stefan Hofmann zur außerordentlichen Pressekonferenz lud, hoffte das Volk auf einen emotionalen Befreiungsschlag.

Die Mainzer Architekten Christian Heidel, Bo Svensson und Martin Schmidt (v.l.n.r.) .
(Foto: imago images/Martin Hoffmann)
Emotionen lieben sie in Mainz, auch gute Geschichten. Die größte hatte Jürgen Klopp geschrieben, der vom durchschnittlichen Zweitligakampfschwein zum Welttrainer aufstieg und erst Mainz, dann ganz Fußball-Deutschland und später der Welt Märchen nach Märchen schenkte. Doch Hofmann hatte keine Versprechen auf eine große, mindestens aufregende Zukunft im Gepäck. Er trat mit leeren Händen vors Volk und hatte nur zu verkünden, dass er keine Ahnung habe, wie es weitergeht. Es gab die Idee, Christian Heidel zurückzuholen, den Mann, der Klopp zum Trainer befördert hatte. Heidel, der Architekt des kleinen Mainzer Fußballwunders war, das den Klub bis in den Europapokal brachte und mit Thomas Tuchel wie nebenbei aus einem A-Jugendtrainer den nächsten Welttrainer in Ausbildung machte.
Doch zwischen den Jahren passierte dann eben das, was sie sich erträumt hatten. Wäre es nicht viel zu kitschig für einen Hollywoodfilm, man dürfte es nicht glauben. Heidel ließ sich breitschlagen, noch einmal Verantwortung in Mainz zu übernehmen - unter der Bedingung, dass Bo Svensson sein Trainer werden solle. Svensson, der viele Jahre für Mainz 05 in der ersten und zweiten Liga verteidigt hatte, zog mit. Das Wunder nahm seinen Lauf. Der Däne schlug ein, nach drei Niederlagen zum Auftakt spielte Mainz 05 beinahe eine Champions-League-Rückrunde, packte auf die kläglichen sieben Hinrundenpunkte noch 29 Punkte drauf, schlug den FC Bayern, Leipzig. Der Klassenerhalt gelang souverän. Svensson nahm die Menschen mit, die auf den Rängen und die auf dem Rasen. Wie Klopp einst, dem Übervater von Mainz 05 und Borussia Dortmund.
Das letzte Hurra am 27. Mai
Svensson brachte die Intensität zurück, die Lust, das letzte Hemd gegen einen eroberten Ball zu tauschen. Er führte eine Fußball-Stadt aus der Depression zurück zum Optimismus. Svensson schickte sich an, der neue Klopp zu werden. Der ehemalige Verteidiger, limitiert, aber kampfstark bis zur Selbstzerstörung, brachte den aufregenden Fußball zurück, die Emotionen, die Ergebnisse. Die Geschichte war perfekt.
Auf das Wunder ließ Svensson eine solide, in besonderen Momenten aufregende nächste Saison folgen, doch irgendwann schien es, als habe man den Stecker gezogen: Nichts wollte mehr gelingen, die Mannschaft entwickelte sich zurück anstatt nach vorne. Ein 3:1 gegen Bayern München am 22. April 2023 sollte sein letzter Ligasieg werden. Es war einer, der Borussia Dortmund von der Meisterschaft träumen ließ. Ein Traum, den Svenssons Mainzer durch ihren couragierten Auftritt gegen die ängstlichen Borussen an jenem 27. Mai zerstörten. Es war das letzte Lebenszeichen der Karnevalshochburg, die fortan bröckelte.
Das Ende der Unentlassbaren
Nach einem desaströsen Pokalaus beim Zweitligisten Hertha BSC, zog Svensson, den man "nie entlassen hätte", wie Heidel sagte, die Reißleine - und verkündete seinen Rücktritt. Die Entscheidung fiel mitten in der Nacht. Am Ende stand das Scheitern, wie immer im Fußball - auch wie einst bei Jürgen Klopp. Der stieg mit "seinem" Klub erst ab, nach dem verpassten Wiederaufstieg zog er unter Tränen raus in die Welt. Svensson verabschiedete sich mit einem Video. Niemand hatte sich diesen Abschied gewünscht, auch nicht nach 14 Spielen ohne Sieg, inklusive eines peinlichen Pokalaus. Sie liebten ihn und als er ging, flossen wieder Tränen, auf allen Seiten.
Terzic, Fischer und Svensson zählten zu den Unentlassbaren dieser Liga. Natürlich nicht die einzigen. Der SC Freiburg ist ohne Christian Streich nicht denkbar, der wundersame Aufstieg des FC Heidenheim ohne Frank Schmidt nicht vorstellbar. In diesem schmerzhaften Halbjahr haben zwei Klubs ihre Identifikationsfiguren verloren, mit Terzic steht der nächste bereits in der Tür. Noch kann er umkehren. Doch die Vorstellungskraft schwindet mit jedem Spiel. Wenn es vorbei ist, dann fließen noch einmal Tränen. Weil es bedeutend war. Wie der 27. Mai - für Edin, Urs und Bo. Es war der Tag, der alles veränderte.
Quelle: ntv.de