
Urs Fischer hat sich in Köpenick unsterblich gemacht.
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Bis zuletzt stärkt Union Berlin dem Schweizer Trainer Urs Fischer den Rücken. Der ist nicht ohne Grund der aktuelle "Trainer des Jahres" in der Bundesliga. Aber aus einem Märchen erwächst ein gigantischer Albtraum. Dem bereiten Klub und Coach jetzt ein Ende und beugen sich dabei den Naturgesetzen.
Der Traum ist aus. Für fünf Jahre trotzte Union Berlin den Gesetzen des Fußballs. Jetzt müssen sich auch die Köpenicker den bitteren Wahrheiten des Spiels beugen. Mit dem Aus von Trainer-Ikone Urs Fischer endet das schönste Bundesliga-Märchen der jüngeren Vergangenheit damit, dass das "Böse" doch über das "Gute" siegt. Der 57-jährige Schweizer hatte Union Berlin "surreale" Jahre beschert und in rauschhafte Zustände versetzt, von denen niemand vorher gewusst hatte, dass sie überhaupt existieren.
Jahr für Jahr hatten sich die Anhänger von Union Berlin am letzten Spieltag einer Saison an der Alten Försterei versammelt und wilde Feste gefeiert. Da war der überraschende Aufstieg in die Bundesliga im Sommer 2019, der mit einer mehrtägigen Feier begangen wurde und mit dem Versprechen endete, dass nun ein "Urlaub" in der Bundesliga beginnen würde. Es wurde der schönste Urlaub aller Zeiten. Denn da war der Klassenerhalt im Jahr 2020 und da war natürlich die Qualifikation für die unterklassigen europäischen Wettbewerbe Conference League (2021) und Europa League (2022). Und dann war da die Qualifikation für die Champions League in diesem Sommer. Einer der Hauptverantwortlichen dafür? Urs Fischer, der noch im Sommer 2023 in Deutschland zum Trainer des Jahres gekürt wird.
Es war ja auch kaum zu glauben, was Trainer Urs Fischer dort mit klarem Defensivfußball bewerkstelligt hatte. Doch wer auch immer nach Köpenick in die Alte Försterei reiste, ließ Punkte dort und musste sich einem Stadion außer Rand und Band geschlagen geben. Die Bayern, RB Leipzig und Borussia Dortmund spürten das schmerzhaft. Sie alle konnten dort nicht gewinnen und wenn es ihnen doch einmal gelang, feierten die Zuschauer im Stadion trotzdem. Denn so steht es in den ungeschriebenen Regeln des Vereins. Und immer stand Urs Fischer an der Seitenlinie, immer mahnte Fischer nach den Spielen und immer konnte auch er sein Glück nicht fassen.
Fans errichteten Wagenburg um angeschlagenen Trainer
Das Spiel von Union Berlin war so simpel wie erfolgreich. Aus einer gut organisierten Fünferkette, die den Gegner in die Verzweiflung trieb, entwickelte die Fischer-Elf mit schnellen Umschaltsituationen und sensationellen Standards genug Torgefahr, um es der Offensive zu ermöglichen, genau das eine Tor mehr zu schießen als der Gegner. Sie punkteten und kletterten. Es gab nur einen Weg: nach oben! Und dann gab es nur noch einen Weg: nach unten! Und das machte was mit Fischer und das machte was mit dem Verein.
Denn so schnell geht es dann eben doch im Fußball. Auch in Berlin. Noch vor dem 0:3 gegen Eintracht Frankfurt, der zwölften Niederlage in Folge, hatte sich Präsident Dirk Zingler ohne Wenn und Aber hinter Fischer gestellt. Man müsse überprüfen, wem die anspruchsvolle Aufgabe der Krisenbewältigung beim FC Union Berlin anzuvertrauen sein, schrieb er im Stadionmagazin und ergänzte: "Die Antwort auf die Frage, wer das tun soll, lautet: Urs Fischer."
Es waren Worte, die auch von den Fans auf den Tribünen des Stadions an der Alten Försterei mitgetragen wurden. Diese verbündeten sich während des Spiels gegen die Presse, die Zweifel an der Zukunft des Trainers geäußert hatten. Auf einem großen Banner sprachen sie Fischer ihr Vertrauen aus "Urs Fischer lebenslang", hieß es dort. Weil sie ihn wirklich liebten, weil sie ihm vertrauten, weil sie wirklich daran glaubten, auch diesmal den Fußball-Gesetzen zu trotzen. Sie errichteten eine letzte Wagenburg rund um ihren schwer angeschlagenen Trainer.
Die dardaischen Fußball-Gesetze
Diese Gesetze kennt jeder, der sich irgendwann einmal mit Fußball beschäftigt hat. Definiert hatte sie unter anderem Pal Dardai, der ewige Trainer von Hertha BSC. "Als Trainer läuft deine Zeit immer ab. Ich weiß genau: Nach jedem Sieg, den ich hole, habe ich noch sechs Wochen Zeit", hatte er während seiner ersten Amtszeit im Oktober 2015 gesagt. Der Ungar ist aktuell zum dritten Mal Trainer beim Stadtrivalen von Union Berlin. Zweimal schon war seine Zeit abgelaufen.
Das Dardai-Zitat wurde in den vergangenen Woche immer wieder bemüht. Es wurde zum Sinnbild dafür, dass die Uhren im Berliner Osten tatsächlich anders ticken, dass der Verein auch hier die Naturgesetze aushebeln kann. So wie es ihm eben in diesen fünf rauschhaften Jahren gelungen war. Union Berlin war eben nicht nur in Deutschland, sondern spätestens mit der Qualifikation für die Champions League auch international ein Symbol für einen anderen Fußball geworden.
Schon weitaus früher waren lesenswerte Bücher über den Aufstieg des Vereins verfasst worden. Auf Englisch und auf Deutsch. Sie fanden ihre Abnehmer und im Mittelpunkt des Geschriebenen stand auch immer Urs Fischer, der jedoch nie größer als der Verein war. Ein Verein, der seine Spuren in der Gemeinschaft hinterlässt, der über das Stadion hinaus ein Lebensgefühl vermittelt. Eines, das sich aus dem Widerstand gegen das Establishment speist.
Plötzlich werden aus Stars Truthähne
Wie es oft so ist, kamen mit dem großen Erfolg die großen Probleme. Dabei hatte sich mit dem Abstieg von Hertha BSC ein historisches Fenster in der Hauptstadt aufgetan. Union Berlin war nicht nur der aktuell sportlich erfolgreichste Klub in Berlin, die Köpenicker standen konkurrenzlos davor, diese Vormachtstellung auszubauen. Dazu soll auch das Stadion an der Alten Försterei ausgebaut werden. Die Kapazität auf beinahe 40.000 Plätze verdoppelt werden. Die Pläne dazu liegen noch in der Schublade. Weil Berlin Berlin ist, dauert alles länger. Momentan ist der Baubeginn im Jahr 2025 vorgesehen.
Doch nicht nur in Steine soll investiert werden, sondern eben auch in Beine. Nach der am letzten Spieltag der Saison 2022/2023 geglückten Qualifikation konnte der einst von der Knappenschmiede nach Köpenick gelangte Geschäftsführer Oliver Ruhnert in anderen Regalen einkaufen. Der Sauerländer hatte sich in den Jahren zuvor einen nahezu mythischen Ruf erarbeitet. Er könne sogar Truthähne verpflichten, hieß es. Auch die würden sich in Köpenick zu wichtigen Stützen des Teams entwickeln.
Erstmals aber verzögerten sich die wichtigsten Transfers bis in die letzten Wochen des Transferfensters. Hatte Union in den vergangenen Jahren Wert auf ein frühzeitiges Ende der Transferaktivitäten gelegt, kamen nun mit Nationalspieler Robin Gosens, Kevin Volland oder Europameister Leonardo Bonucci namhafte und teure Spieler erst ganz zum Schluss. Ihre Integration ist bis heute nicht abgeschlossen. Sie veränderten jedoch die Kaderstruktur. Auch die anderen Neuzugänge schlugen bislang noch nicht ein. Aus Stars wurden, um im Bild zu bleiben, Truthähne.
Gegen Leipzig beginnt der Absturz
Bezeichnend dafür sicher der Auftakt der Unglücksserie, ein 0:3 gegen RB Leipzig Ende August. Damals kippte das Spiel endgültig nach dem Platzverweis für den überforderten Volland. Es folgten teils unglückliche Niederlagen, besonders in der Champions League. Dort gingen die ersten beiden Spiele in der Königsklasse überhaupt erst in der Nachspielzeit verloren. Gegen Real Madrid (0:1) brach der Widerstand durch einen Treffer von Jude Bellingham, gegen Braga (2:3) nach einer eigenen Ecke und einer 2:0-Führung.

Der Anfang vom Ende: Kevin Volland fliegt gegen Leipzig runter.
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Das Selbstvertrauen verschwand und der Blick von außen offenbart schon früh einen normalen Verein, der von der wild um sich greifenden Krise wie gelähmt erschien. Ewig gleiche Interviews nach immer neuen Niederlagen zeugten davon, dass das Ausmaß der Krise in Köpenick noch nicht angekommen war, trotz der großen Unruhe, die teils von außen, manchmal jedoch auch aus Spielerkreisen in den Verein getragen wurde.
Auch von der einst so klaren Handschrift von Urs Fischer war da schon lange nichts mehr zu erkennen. Hektisch wechselte er hin- und her. Die Dreifachbelastung mit dem Leuchtturm Königsklasse tat ihr Übriges. In keinem der bislang vier ausgetragenen Spiele waren sie dort hoffnungslos unterlegen, doch sie ergatterten nur einen Punkt und sind bereits ausgeschieden.
Urs Fischer wird sein Denkmal bekommen
Als das Aus bereits mehr oder weniger absehbar war, vermutete der deutsche Autor und Podcaster Max-Jacob Ost in einer bemerkenswerten Ausgabe des "Rasenfunks", dass es in der Natur der Deutschen liege, diesen Absturz des Vereins mit Häme zu begleiten. Wenn auch die Anhänger anderer Vereine sich am dramatischen Schicksal jenes Klubs labten, der sich durch seine Andersartigkeit nicht überall Freunde gemacht hatte, so hatten sie in all der Zeit nichts als Respekt für den nun scheidenden Trainer. Der agierte auch in seinen Interviews nach den Niederlagen zunehmend niedergeschlagen. Aus Kampfansagen wurden Durchhalteparolen.
Das Märchen von Urs Fischer und Union Berlin ist jetzt auserzählt. Egal, in welche Richtung es jetzt für die Köpenicker geht, dieses Märchen war eines der schönsten der Ligageschichte. Der Schweizer Trainer hat für immerhin fünf Jahre die Gesetze des Fußballs außer Kraft gesetzt und zahlreichen Fans unvergessliche Erinnerungen beschert. Am Ende hatte er keine Kraft mehr. Mit Urs Fischer verabschiedet sich ein Stück Bundesliga-Geschichte. Der Schweizer hat sich im Osten der Hauptstadt unsterblich gemacht. Er hat eine Geschichte erzählt, die es in dieser Form noch nie gegeben hatte. In einigen Jahren wird man ihm in Köpenick ein Denkmal bauen, jetzt aber geht es erst einmal ums sportliche Überleben.
Quelle: ntv.de