
Klare Kante.
(Foto: IMAGO/Matthias Koch)
Der dramatische Absturz von Union Berlin geht weiter. Am Samstag unterliegen sie Eintracht Frankfurt mit 0:3, es ist ihre zwölfte Pflichtspielniederlage in Folge. Gegen alle Gesetze des Fußballs halten die Köpenicker jedoch nicht nur an Trainer Urs Fischer fest, sondern errichten eine Wagenburg um ihn.
Wer sich auf den Weg vom S-Bahnhof Köpenick zum Stadion an der Alten Försterei macht, kommt an zwei Musikern vorbei. Sie stehen dort immer und geben alte Schlager zum Besten. "Wunder gescheh'n", singen sie an diesem wunderschönen Spätherbstsamstagnachmittag. Nenas 89er-Hit über die schwere Krankheit ihres Sohnes, der schon bald zum Wendeklassiker umgedichtet wurde, soll nach elf Pflichtspielniederlagen in Folge auch hier die Wende bringen. Ein Wunder muss auch her. Denn Union Berlin liegt am Boden, stolpert seit Wochen von Niederlage zu Niederlage und weiß überhaupt nicht, was mit ihnen passiert.
Später steht auf der Waldseite, der Heimat des harten Kerns der Union-Anhänger, eine Fan-Gruppierung. Sie weiß, wer auch für den Niedergang in dieser Saison verantwortlich ist und den Verein ohnehin nicht verstanden hat. "Es ist uns egal, was die Presseschweine schreiben. Urs Fischer ist Unioner und soll es auch bleiben", ist dort in der ersten Halbzeit auf einem Banner zu lesen.
Auch der Pressetribüne werden Handlungsempfehlungen mitgegeben. "Aber nüschts gegen Urs Fischer schreiben. Sonst kriegste Probleme", sagt einer vielleicht scherzend. "Schreib ma rinn: Urs Fischer lebenslang Union." Hiermit geschehen. Immer, wenn eine Wagenburg gebildet werden muss, braucht es Bedrohungen von außen. Die einfachste und permanente ist da natürlich die Presse. Da sind die Fans der Köpenicker nicht anders als Thomas Tuchel.
Ein Märchen endet, ein neues beginnt
Die Geschichte von Union Berlin im Spätherbst 2023 ist eine, die in der Tat nur über Fischer erzählt werden kann. Der 57-jährige Schweizer hat den Klub aus Köpenick in den vergangenen fünf Jahren in unbekannte Sphären geführt. Der Aufstieg aus den Niederungen der Zweiten Liga bis hin zur Champions League war das "surrealste Märchen" der jüngeren Bundesliga-Geschichte. Dieses Märchen ist jetzt auserzählt. Es ist vorbei und jetzt beginnt es neues. Es handelt davon, wie ein Fußballverein, zudem einer, der immer schon alles anders gemacht hat, damit umgeht. Das Ende ist noch vollkommen offen, es könnte verstören.
"Wir wären schlecht beraten, einen der besten Trainer der Liga nach Hause zu schicken", sagt Präsident Dirk Zingler vor dem Spiel auf Sky: "Er hat den Job, er behält den Job. Der Erfolg hat viele Väter und auch der Misserfolg hat viele Väter." Hatte der Erfolg märchenhafte Ausmaße, kommt der Misserfolg über den Verein wie die zehn Plagen Gottes über Ägypten. Zwölf Niederlagen in Folge müssen die Köpenicker nach diesem 0:3 (0:2) gegen Eintracht Frankfurt jetzt aushalten. Seit dem 20. August 2023 ist ihnen kein Tor mehr im heimischen Stadion gelungen. Acht ihrer bislang elf Saisontreffer erzielten sie an den ersten beiden Spieltagen.
Deswegen geht es eben nicht mehr nur um das Überthema Urs Fischer, sondern um den schnöden Klassenerhalt, darum das Fundament der letzten Jahre nicht sofort wieder einzureißen. Noch ist das nicht zu allen durchgedrungen und noch wird nicht all denen, die es wissen, die Dringlichkeit dieser Aufgabe klar. Präsident Zingler gibt die Richtung vor. Für ihn ist die Lage bedrohlich. "Wir müssen den Klub als Bundesliga-Standort erhalten", sagt er und fügt etwas Entscheidendes hinzu: "Mit Urs Fischer."
Gegen Frankfurt geht's erneut die Wuhle runter
Stadionsprecher Christian Arbeit legt vor dem Spiel eine Pause ein. Gerade noch hat er die Fußballgötter von Union Berlin einzeln ausgerufen, jetzt ist der Trainer dran. Er schweigt. Das Stadion an der Alten Försterei erhebt sich. Applaudiert. Lauter. Immer lauter. Bis Arbeit den Namen doch noch ausspricht. Urs Fischer. "Fußballgott", hallt es ihm entgegen.
"Großartig, es beschreibt auch diesen Zusammenhalt von Union. Der wird nicht nur erzählt, sondern auch gelebt", sagt Fischer nach dem Spiel, in der ARD nimmt er Spekulationen über seinen möglichen Rücktritt den Wind aus den Segeln. "Ich bin bereit, zu kämpfen", sagt er. Nach einem letztendlich verhunzten Transfersommer, in dem in den letzten Tagen der Transferperiode mit Leonardo Bonucci, Kevin Volland und Robin Gosens gleich drei Stars verpflichtet wurden, ist dies nun die letzte Chance. Das Trio ist noch lange nicht in Köpenick angekommen, es bleibt fraglich, ob es ihnen überhaupt wirklich gelingen wird.
Die Partie gegen Frankfurt hat in der ersten Halbzeit eine Dynamik, die dazu geeignet ist, Fischer trotz aller zutiefst glaubwürdigen Treuebekundungen aus dem Amt zu spülen. Nach zwei Minuten flippert eine Freistoßflanke kurz im Union-Strafraum hin und her, bevor Omar Marmoush unbedrängt vom blockierten Flipperfinger Alex Kral aus elf Metern einschiebt. Im Anschluss offenbaren sich die altbekannten Fehler dieser Saison. Immer wieder brechen die Gäste über die Außen durch, Union steht mit acht Mann im Strafraum und versucht, das Unglück noch einmal zurückzudrängen.
Der Ball will nicht ins Tor
Es gelingt ihnen nicht. Ein einfacher langer Ball auf Hugo Larsson hebelt in der 14. Minute die komplette Abwehr der Berliner aus. Robin Gosens orientiert sich nach vorne, Diogo Leite kann den 19-jährigen Schweden nur unzureichend stören. In der Mitte ist Marmoush allen enteilt und komplettiert vollkommen unbedrängt seinen Doppelpack. Dabei ist Union nur Momente vor dem 0:2 nach einer Balleroberung tief in der Frankfurter Hälfte in den Strafraum der Gäste eingedrungen. Benedict Hollerbach jedoch weiß nicht, wohin mit dem Ball und verliert ihn.
Es ist eine Hilflosigkeit, die sich durch die Saison Unions zieht. Es ist nicht so, dass sie nicht in gefährliche Situationen kommen. Sie spielen sie nur unzureichend aus. Kommt doch einmal ein Ball durch, wie an diesem Samstag in der 19. Minute von David Fofana, landet er an der Latte. Auch wenn Fischer nach dem Spiel eine Mannschaft gesehen haben will, die sich mit dem neuen Saisonziel "Abstieg vermeiden" identifiziert hat, ist davon lange nichts zu sehen. Erst mit der Einwechslung von Nationalspieler Kevin Behrens in der 56. Minute flammt so etwas wie Widerstand auf. In kurzer Abfolge verpassen erst Behrens (57.) dann Fofana per Drehschuss (59.) und wieder Behrens nach Laidouni-Flanke (68.) den Anschlusstreffer. Der Ball fällt nicht rein. Egal, was sie auch probieren. Frankfurt beschränkt sich auf die Defensive, braucht keine Entlastungsmomente.
Zu gering ist meist der Druck, zu weit entfernt von den gefährlichen Zonen der Ballbesitz der Berliner. Das Spiel schreit nach dem 3:0 der Frankfurter und bekommt es auch bei einem der raren Angriffe der Adler. Gosens fahrige Kopfballrückgabe auf Robin Knoche wird von Ignacio Ferri Julia erlaufen. Der kurz zuvor eingewechselte 19-jährige Spanier zeigt, dass seine acht Tore in elf Regionalliga-Spielen für die zweite Mannschaft kaum Zufall sind. Er kombiniert mit dem ebenfalls frischen Mario Götze und schiebt den Ball an Frederik Rönnow vorbei ins linke untere Eck (82.).
In Köpenick geht es nicht um Sieger
Als das Spiel sich langsam in Richtung Abpfiff bewegt, pfeffern die Frankfurter Anhänger ihren Gastgebern ein "Absteiger, Absteiger" entgegen, die ihre trotzigen Dauergesänge für einen Moment noch lauter und noch inbrünstiger, so wie Stoßgebete, in den mittlerweile nachtdunklen Nachmittagshimmel schreien. Sie singen von den Höhen und den Tiefen ihres Fanlebens. "Wer in Fußball mehr sieht als ein Gezeter um Siege und Millionen, wird gar nicht auf die Idee kommen können, Fußballuniongott Urs Fischer auszuwechseln", schrieb der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk dieser Tage in der "taz" in einer Liebeserklärung an seinen Verein. Er erzählte die Geschichte jener, die ihr Leben mit dem Verein aus dem tiefen Osten der einst geteilten Stadt verbracht haben.
Allein in den Jahren nach der Deutschen Einheit haben die Köpenicker fast alles gesehen, was es im Fußball zu sehen gibt. Diese Generation war dabei, als ein 0:1 vor 700 Zuschauern bei Anker Wismar am 3. Mai 2006 den Aufstieg aus der viertklassigen NOFV-Oberliga Nord in Gefahr brachte und sie war dabei, als ziemlich genau 17 Jahre später mit einem 1:0 gegen Werder Bremen in der Alten Försterei die sensationelle Qualifikation für die Champions League gelang. Ihre Erzählung also ist nicht die jener, die Fußball seit jeher als ein Spiel der Sieger begreifen. Auch den dramatischen Absturz begreifen sie beinahe als einen historischen Moment.
Ihre Gesänge und ihre Worte zeigen den Trotz und Stolz darüber, dass sie mit Fischer mal wieder die Gesetze des Fußballs außer Kraft setzen. Egal, was in den kommenden Auswärtsspielen in Neapel und Leverkusen passiert. An ein Ende der unfassbaren Serie ist kaum zu denken. Das vor dem Stadion besungene Wunder ist doch folgendes: Mit dem Schweizer ging es hoch und mit ihm wird es, wenn es so sein muss, wieder runtergehen. Egal, was die "Presseschweine" schreiben - und so lange Urs Fischer noch will.
Quelle: ntv.de