
Es sind nur noch 92 Tage bis zur EM.
(Foto: picture alliance/dpa/Kessler-Sportfotografie)
Ein Quartett des VfB Stuttgart, die Ausbootung von Leon Goretzka und mehreren BVB-Stars: Mit dem ersten DFB-Kader des Jahres geht Bundestrainer Julian Nagelsmann ins Risiko. Doch es ist auch die Rückkehr von etwas, was in der Nationalelf schon fast verloren schien.
Das bislang letzte erfolgreiche Turnier der deutschen Fußball-Nationalmannschaft liegt mittlerweile schon etwas zurück. Genau genommen sind es sieben Jahre seit dem Confederations Cup in Russland, damals hieß der Bundestrainer noch Joachim Löw. Das Bemerkenswerte war: Es war das letzte Mal, dass es eine grundlegende Veränderung im DFB-Kader gab. Bis jetzt: Bei seiner Kaderverkündung für die Testspiele gegen Frankreich und die Niederlande rief Bundestrainer Julian Nagelsmann eine ähnliche Radikalität aus.
Damals war es so: Sportlich war Löw das Turnier egal, er probierte stattdessen wild Personal aus: Der Confed Cup sei "eine Zwischenstation, ein Warm-up für die Mission WM", sagte er damals. Der "Perspektivkader", der etwa Sandro Wagner zum Nationalspieler machte, holte zwar den Titel, doch nachhaltig brachte es wenig. Die Mission 2018 scheiterte mit dem Aus in der Gruppenphase kläglich, die Geister der Russland-WM konnte die Nationalmannschaft nie richtig abschütteln.
Nun könnte die Lage zu heute kaum unterschiedlicher sein. Denn Bundestrainer Nagelsmann hat ein Problem. Anders als Löw hat er keine Zeit mehr für einen "Perspektivkader". Vor der im Juni beginnenden Heim-EM bleibt ihm nur ein heikler Drahtseilakt: Er muss etwas ändern, es darf aber nicht zu viel sein. Auf der USA-Reise und für die Spiele gegen die Türkei und Österreich ließ Nagelsmann die Kader-Grundstruktur unangetastet und holte sogar Rio-Weltmeister Mats Hummels zurück. Der Erfolg hielt sich in Grenzen: Die Offensive blieb behäbig, die Defensive wacklig. Das sah auch der Bundestrainer so. Der nächste Neuanfang, den er nun verkündete, schien also alternativlos.
Frühjahrsputz im DFB-Kader
Und jetzt? Nagelsmann macht das, was für ihn folgerichtig ist: Er verändert, aber nicht wahllos. Mit jeder Personalie des Kaders wird deutlich, dass der Bundestrainer feste Rollen definiert hat - entweder passt der Spieler oder eben nicht. Anders als Löw oder Vorgänger Hansi Flick kann Nagelsmann an dieser Stelle knallhart sein. Seine Anstellung endet mutmaßlich nach der so wichtigen Heim-Europameisterschaft im Sommer, die im besten Fall den Fußball, das Land und den Kontinent einen soll. Danach wird es wohl den nächsten DFB-Umbruch geben, Nagelsmann wird dann voraussichtlich wieder Klubtrainer sein.
Bei der Kader-Bekanntgabe äußerte er einen spannenden Gedanken: Nicht der Bundestrainer treffe die Entscheidung, sondern die Spieler. Wenn sie gut spielen, sei er nur das ausführende Organ. Natürlich ist das Understatement, zeigt aber den grundlegenden Gedanken hinter dem Aufgebot. Niemand ist bei der Heim-EM dabei, nur weil er vorher lange dabei war. Es geht um Form, Mentalität und Flow, Befindlichkeiten spielen keine Rolle. Damit lässt er auch die Tür für alle offen, die jetzt nicht nominiert sind.
Nagelsmann deutete es schon im ZDF-"Sportstudio" an und erklärte es später im großen "Spiegel"-Interview. "Es wird bestimmt der eine oder andere nicht nominiert werden, von dem viele denken, der sei sicher dabei", sagte er dem Nachrichtenmagazin. Das Ergebnis ist eine Art Frühjahrsputz im Kader der Nationalmannschaft: Bis auf Niclas Füllkrug fliegen die zuletzt wankelmütigen BVB-Profis um Mats Hummels, Julian Brandt oder Emre Can raus. Auch beim FC Bayern wird frisch durchgewischt: Der lange verletzte Serge Gnabry und der wiedererstarkte Leon Goretzka finden aktuell keinen Platz. Thomas Müller bleibt dagegen, weil er sich mit einer Backup-Rolle abfinden kann.
"Mut ist das Anagramm von Glück"
Die Grundlage für seinen neuen Kader bildet die Rückkehr von Toni Kroos. Und auch der Weltmeister von 2014, das unterstreicht Nagelsmann, ist wegen seiner Leistungen, nicht wegen seines Namens dabei. Der 34-jährige Stratege von Real Madrid kann ein Spiel zwar wie Ex-NFL-Gigant Tom Brady steuern, ist aber, was das Tempo angeht, ähnlich verwundbar. Deshalb braucht er einen Arbeiter an seiner Seite. Das wird Leverkusens Robert Andrich oder Brightons Pascal Groß, vielleicht auch Stuttgarts Waldemar Anton. Aber die Hilfe kommt nicht vom FC Bayern. Goretzka verfolgt die Länderspiele vor dem Fernseher, Joshua Kimmich rückt auf die Rechtsverteidigerposition. Auch beim BVB drängt sich niemand für die Rolle auf.
Das radikale Leistungsprinzip bedeutet auch, dass gleich sechs Neulinge den Weg in das DFB-Team finden. Der junge Maximilian Beier begeistert derzeit in der Offensive von Hoffenheim, der 19-jährige Aleksander Pavlovic im Mittelfeld des FC Bayern. Jan-Niklas Beste sammelte bei dem vermeintlichen Abstiegskandidaten Heidenheim eine beachtliche Zahl an Scorerpunkten. Und: Er könnte mit seinen gefährlichen Ecken und Freistößen als Spezialist (so wie David Odonkor 2006) mitreisen. Dazu kommen die Stuttgarter Anton, Maximilian Mittelstädt (laut Nagelsmann derzeit statistisch einer der vier besten Linksverteidiger der Welt) sowie der robuste und treffsichere Stürmer Deniz Undav.
Doch das ist nicht alles, auch bei dem Leverkusener Erfolgsteam bedient sich Nagelsmann. Jonathan Tah wird wohl neben Real Madrids Antonio Rüdiger die Innenverteidigung bilden, Andrichs Rolle ist klar definiert und Florian Wirtz könnte ein Teil des spannendsten Puzzles der DFB-Elf sein. Auf seiner Zehnerposition gibt es drei Plätze, einer wird vermutlich an İlkay Gündoğan vergeben sein, den Nagelsmann trotz der Rückkehr von Manuel Neuer als Kapitän bestätigte. Es bleiben also nur noch zwei - und die Frage, wer sie bekommen wird? Wirtz, Jamal Musiala, Leroy Sané oder doch Stuttgarts Chris Führich? Eine schwierige Frage.
All das birgt auch große Risiken. Der Bundestrainer ist getrieben von einem Problem: Er hat keine Zeit mehr. Bis zum Eröffnungsspiel gegen Schottland sind es nur noch 92 Tage. Bis dahin muss sich eine neue Hierarchie in der Mannschaft entwickeln. Und auch der Poker, vor allem auf die Form zu setzen, könnte gefährlich sein: Was passiert, wenn Leverkusen oder Stuttgart in den nächsten Monaten heftig einbrechen? Dann muss Nagelsmann wieder von vorn beginnen, dafür reicht die Zeit sicher nicht.
Der radikale Umbruch muss funktionieren. Sein Vorgänger Flick hatte sich an den Experimenten die Finger verbrannt. Das darf Nagelsmann nicht passieren, der aktuelle Neuanfang ist schon ein Eingeständnis, dass das Bisherige nicht funktioniert hat. Doch eine Sache stimmt beim Vorgehen des Bundestrainers zuversichtlich: Nagelsmann hat offenbar eine klare Vorstellung, klare Rollen im Kopf. Er sagte es zwar zu den Trikots, aber es gilt auch für den Kader: "Mut ist das Anagramm von Glück." Man kann nur hoffen, dass das stimmt.
Quelle: ntv.de