
Hans-Joachim Watzke, Matthias Sammer und Sebastian Kehl spielen gewichtige Rollen im nun anstehenden Serien-Finale der Dortmunder.
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Kommt Jadon Sancho zurück zum BVB oder nicht? Gehen den Dortmundern jetzt wirklich die Ideen aus und was wird aus dem Klub, wenn Hans-Joachim Watzke geht? Und was bedeutet das alles überhaupt? Der Verein, sagt einer, treibe ihn in den Wahnsinn - und genau das mache ihn aus.
Die DFL hat einen neuen Plan. Eine Doku muss her. Die Geschichte der Liga muss für neue Fans neu erzählt werden. Ein Jahr, runtergebrochen auf die großen Erzählungen, hautnah an den Protagonisten. Ein Jahr, runtergebrochen auf die Frage: Gänsehaut oder Graugans?
Kann funktionieren, ist aber nicht das, was den deutschen Fußball ausmacht. Es sind die langen, über Jahre aufgebauten Erzählstrukturen, die die Fans in Deutschland an ihre Vereine bindet. Es sind langsame Geschichten, die ganz selten überhaupt an Geschwindigkeit gewinnen, die kaum mit schnellen Schnitten operieren müssen. Es sind die Geschichten, die immer da sind. Es sind Geschichten wie die des aktuell mal wieder an sich selbst verzweifelnden BVB, die Menschen bewegen.
"Borussia Dortmund ist etwas, das uns alle überleben wird, etwas, das größer ist als wir alle und einen doch immer in den Wahnsinn treibt", sagt Marc Quambusch. Er hat vor gut einem Jahrzehnt die Gründungsgeschichte seines Klubs als Film aufgezeichnet. Seitdem wissen die Fans des BVB, woher sie kommen. Wohin es geht, wissen sie nicht. Was logisch ist.
Lieber kein Meister von Bayerns Gnaden
Die meiste Zeit seines Lebens beschäftigt sich ein Fußball-Fan ohnehin mit dem drohenden Niedergang seines Klubs. Er verzweifelt bei Niederlagen, hadert mit langweiligen Unentschieden, nimmt Pflichtsiege zur Kenntnis, ärgert sich über Verletzungen und fiebert bei den üblichen Dramen mit. Die Summe dieser Ereignisse baut die Geschichte über die Jahre zu einer gewaltigen Erzählung auf. Die Triumphe werden glänzender und die Niedergänge brennen sich ein, werden durch die Zeit mit von einer sich über die Ungeheuerlichkeiten legenden Milde überzogen.
Wenn es darum geht, den Fußball als diese langsame Erzählung zu begreifen, lohnt also ein Blick auf den Verein, der die Langsamkeit wie kaum ein anderer zelebriert. Nach dem dramatischen Cliffhanger, dem verlorenen Meisterfinale im Mai 2023, schleppt sich Borussia Dortmund in der aktuellen Spielzeit mühsam durch die Hektik des Alltags. Mal geht das gut, wie in der Champions League, doch meist ist es frustrierend.
Das hängt natürlich auch mit dem 27. Mai 2023 zusammen. Zum ersten Mal seit 10 Jahren ging es nicht ums Verlieren. Zum ersten Mal ging es darum, etwas Triumphales zu gewinnen. Etwas, das natürlich auch in Zukunft als Meisterschaft von Bayerns Gnaden erzählt worden wäre. Wie einst das ominöse Millionendarlehen den BVB für einige zum Klub von Bayerns Gnaden hatte werden lassen, so wäre auch die Meisterschaft 2023 immer über die Münchener erzählt worden.
Die Moderne beginnt mit dem Ende von "Doktor Gott"
Das Darlehen ist Teil des Beginns dieser Erzählung vom sich aufschwingenden Ruhrpottgiganten. Sie beginnt mit der Rettung des Vereins im Jahr 2005. Der Größenwahn von Präsident Gerd "Doktor Gott" Niebaum hatte den Meister der Jahre 1995 und 1996 zerstört. Eine mit dem Börsengang rund um die Jahrtausendwende erkaufte und unter mit gütiger Mithilfe des Schiedsrichters Helmut Fleischer im Spiel gegen den 1. FC Köln letztendlich auch dank einer Schwalbe ergaunerte Meisterschaft 2002 hatte das Sterben nur verlängert. Gestorben wurde dann doch nicht.
Die Borussia rettet sich ins Vorzimmer der Pathologie - und bleibt dort. Vielleicht auch, weil mit der WM 2006 das große Turnier ansteht. Wie würde das denn aussehen? Mit dem Sauerländer Hans-Joachim Watzke steht ein frischer Held parat. Er ist die Hauptfigur der neuen Borussia, über die Jahre neben dem Stadion und den Fans die einzige Konstante. Gemeinsam mit der Klub-Ikone Reinhard Rauball retten sie den Verein nach einer dramatischen Gläubigerversammlung am Düsseldorfer Flughafen. Irgendwann tritt der FC Bayern München als Retter auf. Die Rolle des windigen Investors Florian Homm bleibt unergründlich.
Florian Homm gerät in Caracas in Lebensgefahr

Florian Homm (r.) spielte eine Rolle bei der Rettung der Borussia im Jahr 2005. Reinhard Rauball (l.) rettete den Klub mehrfach.
Aber auch Homm, der in einem Spin-off im November 2006 in Caracas auf der Flucht angeblich angeschossen wird, spielt eine Rolle. Sein kaltes, zynisches Handeln hilft dem BVB. Aber er wird in der nächsten Staffel nicht zurückkehren. Seine Ideen, den Verein in FC Dortmund umzubenennen und in der Beate-Uhse-Arena spielen zu lassen, finden wenig Anklang. Ohnehin hat er andere Probleme. Das FBI jagt ihn. Irgendwann wird er in der Schweiz geschnappt, lebt nun wieder in Deutschland.
In den nächsten Episoden verfolgen wir den Aufstieg zum heißesten Klub Europas. Am 19. Dezember 2009 ist das Westfalenstadion bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Verein wird 100 Jahre alt. Es ist kälter als jemals zuvor. Die, die dabei waren, reden noch heute ehrfürchtig von diesem Tag. Das Bier flockt in den Bechern, der Kaffee gefriert. Ein Kälteausbruch historischen Ausmaßes hat die Temperaturen tagsüber auf minus 13 Grad gedrückt. Hilft nichts. Geburtstag. Alle hin. Lucas Barrios trifft in der 19. Minute, der SC Freiburg ist besiegt, die Laserkanonen eingefroren.
Der 100. Geburtstag der Borussia kann bis heute als der Startschuss in ein immer noch unwirklich anmutendes zweites Jahrhundert der Borussia gewertet werden. Rauschhafte Jahre unter Jürgen Klopp katapultieren den BVB erst bis zu den letzten Metern zur absoluten Weltspitze und bringen ihn stabil auf ein Niveau, von dem an diesem 19. Dezember 2009 niemand träumen konnte. Seit Jahren sind sie Dauergast in der Champions League, und gerade das raubt ihnen und vor allen Dingen jenen, die hinzugekommen sind, den Verstand. Denn es bewegt sich nichts. Sie stecken fest.
BVB wird ein sicherer Hafen für Rückkehrer
Schon in den ersten Meisterjahren werden Risse sichtbar. So unglaublich die Heldengeschichte auch ist, einige Protagonisten springen ab, werden Teil anderer Erzählungen. Es beginnt im Frühjahr 2011. Sportdirektor Michael Zorc sieht erschüttert aus, als er den Abgang von Nuri Şahin nicht verhindern kann. Der ist so gut geworden, dass er bei Real Madrid der neue Zinédine Zidane werden soll. Schafft er nicht, ist nach einem kurzen Abstecher nach England zum FC Liverpool wieder da, wird als verlorener Sohn empfangen und knüpft nie wieder an seine herausragenden Leistungen an.
Şahin ist der erste von einigen verlorenen Söhnen, die nach Hause kommen. Shinji Kagawa wird befreit, über Mario Götze würden sich einige Leute wundern und Mats Hummels sammelt beim FC Bayern Meisterschaften, aber irgendwie kein Glück. Sie alle kommen zurück. Dann versiegt die Quelle. Die, die gehen, sind zu gut und zu teuer. Immer wieder träumen sie von İlkay Gündoğan und über allem steht Jürgen Klopp, der 2016 nur noch einmal als Trainer im Westfalenstadion auftaucht und eine Woche später Thomas Tuchel in Anfield entzaubert.
Doch über die Jahre, durch die Staffeln entschwindet der Übervater immer mehr. Mittlerweile hat er länger in Liverpool gearbeitet als in Dortmund. In all den Spielzeiten wechseln die Protagonisten. Sie werden älter, wechseln, beenden ihre Karriere oder werden vom Hof gejagt. Sie sind bald nur noch ein Erinnerungsfetzen in den Köpfen der Fans, die ebenfalls nicht mehr wissen, in welche Richtung es gehen soll. Auch ihre Siege erscheinen größer und ihre Schwächephasen werden zu Anekdoten.
Auch Jadon Sancho, der nun wohl ebenfalls zum BVB zurückkehren könnte, hatte diese im Dress der Dortmunder, doch die meiste Zeit war er gut, so richtig gut. Doch das endete in dem Moment, in dem er das Westfalenstadion verließ. Das macht ihn vergleichbar mit Sahin, mit Kagawa und vielleicht auch Götze, dessen grandioser Treffer im WM-Finale 2014 seinen langsamen Abstieg beim FC Bayern überstrahlt.
Als Jörg Heinrich auf der Bank saß
Jadon Sancho hatte nach seinem Wechsel zu Manchester United das Unglück nahezu magisch angezogen. Beim Finale der ins Jahr 2021 verlegten Europameisterschaft 2020 im Londoner Wembleystadion war er in der 120. Minute für Kyle Walker beim Stand von 1:1 aufs Feld gekommen. Er sollte im Elfmeterschießen gegen Italien den Fußball nach Hause holen. Er scheiterte am Keeper Gianluigi Donnarumma, England verlor. Es folgte eine Nacht der rassistischen Schande, in der der Mob sich auf ihn und die ebenfalls im Elfmeterschießen gescheiterten Bukayo Saka und Marcus Rashford stürzte.
Sancho kam nicht mehr auf die Beine. In seiner ersten Saison bei den Red Devils brachte er es auf 38 Einsätze in allen Wettbewerben, er wartete monatelang auf seinen ersten Treffer und war am Ende der Saison gerade einmal an acht Toren überhaupt beteiligt. Seinen Platz in der Nationalmannschaft hatte er da längst verloren. Gegen Mitte seiner zweiten Saison bei Manchester United zog er sich für Wochen raus. Der Druck für den 85-Millionen-Euro-Mann war zu groß geworden. Als er zurückkam, war er auf dem Platz meist unsichtbar.
Sancho stand in seiner ersten Zeit für den sportlichen Aufschwung nach dem perfiden Anschlag auf die Leben der BVB-Spieler im Mannschaftsbus vor dem Spiel gegen AS Monaco. Die umherfliegenden Nägel der von dem Deutsch-Russen Sergej W. gebastelten Bombe hatten gottlob kaum äußere Spuren hinterlassen. Doch der Anschlag hat sich tief in die Köpfe der Spieler und auch Funktionäre gesetzt.

Peter Stöger (l.) und Jörg Heinrich waren von Dezember 2017 an die unwahrscheinlichen Trainer bis Mai 2018.
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In der Folgesaison kämpfte der Klub auf dem Platz um die Qualifikation für die Champions League. Auf der Trainerbank saß erst Peter Bosz und schon bald nahm der Österreicher Peter Stöger dort Platz. Neben Stöger: Jörg Heinrich, der 1997 mit dem BVB die Champions League gewonnen hatte und dann bald verschwunden und dem Verein doch verfallen war. Abseits des Platzes nahm der Prozess gegen Sergej W. viel Raum an.
Sancho, Haaland und Bellingham
Alle Spieler bis auf der aufgrund seines Wechsels und allgemeinen Desinteresses unpässliche Pierre-Emerick Aubameyang saßen im Landgericht Dortmund und mussten den 11. April 2017 noch einmal durchleben. Einige von ihnen sprachen so leise, dass sie kaum zu verstehen waren. Meisterkeeper Roman Weidenfeller sagte: "Wir sind Menschen, keine Maschinen". Irgendwann trat auch Thomas Tuchel auf, Ende 2018 wurde Sergej W. zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Bellingham, Haaland und Sancho haben tatsächlich mal gemeinsam in einem Team gespielt.
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Sancho hatte davon nichts mitbekommen, er übernahm das Kommando in der Offensive. Als er ging, hatte er es auf 50 Tore und 64 Vorlagen in 134 Pflichtspielen gebracht. Da war er 21 Jahre alt. Der BVB stellte ihm mit erst Erling Haaland und dann Jude Bellingham zwei kommende Weltstars an die Seite. Gemeinsam gewannen sie mitten in der Pandemie im menschenleeren Olympiastadion 2021 den DFB-Pokal.
Dann wechselten sie: Sancho 2021 zu Manchester United, Haaland 2022 zu Manchester City und Bellingham 2023 zu Real Madrid. Die Stars waren ihrer Rolle in der Dortmunder Produktion längst entwachsen. Haaland und Bellingham werden nie wieder für Borussia spielen.
Hans-Joachim Watzke auf der Zielgeraden
Wie auch Şahin nach seinem zweiten Abgang als damals nicht mehr strahlender Held nie wieder für Dortmund spielte, doch jetzt gemeinsam mit Jadon Sancho einer der Hoffnungsträger der Dortmunder ist. Der Sauerländer ist der neue Schattentrainer des BVB, der dem ehemaligen Schattentrainer Edin Terzić assistieren soll und für den Fall seines Scheiterns eine Alternative auf der Bank darstellt. Er soll, so wird es berichtet, für die "taktische Finesse" sorgen und Sven Bender, der in den Klopp-Jahren der Abräume der Liga war, soll das "Wir-Gefühl" stärken.
Das ist dem BVB in den vergangenen Monaten mal wieder abhandengekommen. Immer wird die Geschichte vom Putschversuch des ehemaligen Kapitäns Marco Reus erzählt, der sich von Terzić nicht mehr angesprochen fühlt.

Gerd Niebaum (l.) gratuliert 1996 dem damals besten Fußballer Deutschlands: Matthias Sammer. Kicker-Boss Rainer Holzschuh (2.v.l.) und DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder schauen auch vorbei.
(Foto: picture alliance / Pressefoto Rudel)
Die in der Erzählung der letzten Dortmunder Jahre üblichen Krisen gegen Ende der ersten Halbserie haben den Verein reagieren lassen. Dabei ist dieser Tage überhaupt nicht einmal mehr klar, wer dieser Verein wirklich ist. Nahezu 20 Jahre nach der Rettung sind die Tage von Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke gezählt. Im kommenden Jahr läuft sein Vertrag aus. Schon Anfang 2024 wolle er über seine Zukunft ins Gespräch gehen, erzählte er im vergangenen November. Die Zeit ist jetzt. Ein Nachfolger nicht in Sicht.
Mit Bender, Sahin und Sportdirektor Sebastian Kehl, dem ein ausgesprochen schlechtes Verhältnis zu Trainer Terzić nachgesagt wird, hat der Klub nun drei Protagonisten der erfolgreichsten Jahre der Vereinsgeschichte nahe am Profiteam. Mit Lars Ricken und Matthias Sammer arbeiten die Helden der 97er-Mannschaft, die unter Ottmar Hitzfeld die Champions League gewann, im Hintergrund.
Wohin führt der Weg, Borussia?
Sammer ist ebenfalls einer dieser Rückkehrer. War in Stuttgart, beim DFB und bei Bayern München. Die Dortmunder haben ihn nie losgelassen. Er, der in der existenziellen Krise ein Freund des ehemaligen Präsidenten Gerd Niebaum war, ist jetzt Berater von Watzke. Niemand weiß wirklich, was er macht. Es käme einer Sensation gleich, wenn sich das bald ändern würde.
Die nächsten Monate in Dortmund versprechen unheimlich viel. Der BVB ist ein Verein, der um das Überleben auf Champions-League-Niveau zittert. Er ist ein Verein, der viel zu verlieren hat und überhaupt nichts zu gewinnen. Er ist ein Verein, der darum ringt, endlich wieder eine Zukunft zu haben und der ganz oben in den Führungsetagen neue Protagonisten braucht. Diese neuen Protagonisten werden von der gewaltigen Aufgaben stehen. Sie müssen einen Platz für Borussia Dortmund finden. Einen, der endlich wieder eine Zukunft verspricht. Denn die aktuelle Geschichte ist längst auserzählt.
"Der BVB", sagt Phil Dahmen, der seinen Klub seit über drei Jahrzehnten durch die Zeit begleitet und immer etwas weiß, "ist der Ort, der mich nach Hause führt. Die Meisterschaften, der Gewinn der Champions League - habe ich alles genossen. Doch viel wichtiger ist die innere Heimat, die ich dort am Lagerfeuer BVB finde." Das unterscheidet Dahmen nicht von all den Fans aller anderen Vereine. Das Problem mit Lagerfeuern ist aber: Sie lassen sich kaum als Doku aufziehen.
Quelle: ntv.de