Fußball

Im Westend nichts Neues Hertha BSC reißt modernen Fußball in Fetzen

Im Berliner Olympiastadion ist immer November.

Im Berliner Olympiastadion ist immer November.

(Foto: picture alliance / nordphoto)

Nach zwei chaotischen Jahren ist Hertha BSC zurück im Mittelmaß. Der Verein aus der Hauptstadt ist eine der letzten Bastionen des sagenumwobenen "alten Fußballs". Das klingt auf dem Papier gut, erfordert aber viel Leidensfähigkeit. Und dann ist da noch Investor Lars Windhorst.

Die großen Tage im leeren Olympiastadion fanden an einem kalten Novembertag im Jahr 2015 ihren Höhepunkt. Weit unter 40.000 Zuschauer blickten am 22. November, am ersten Spieltag nach den schrecklichen Pariser Anschlägen, auf den von einer leichten Schneedecke überzogenen Platz, auf dem beim Spiel Hertha BSC gegen TSG Hoffenheim nichts, überhaupt nichts passierte. Einmal wurde der Ball getauscht. Er war jetzt rot und nicht mehr weiß. Und setzte sich prächtig vom Rasen ab. Und einmal köpfte Eugen Polanski den Ball ins eigene Tor. Beinahe verzweifelt. Damit überhaupt was passiert. Hertha blieb ohne eigenen Torabschluss. Aber gewann 1:0.

Pal Dardai hatte Hertha gerade zum ersten Mal übernommen und war inmitten seiner ersten vollen Saison. Ihm gelang etwas, was niemand mehr für möglich gehalten hatte. Er brachte dem Fußball die Romantik zurück. Doch niemand bemerkte es. Der Ungar gab Hertha eine neue Identität. Unter ihm wurde der Verein aus dem Westend zur letzten Bastion des sagenumwobenen "alten Fußballs", von dem alle träumten, den aber niemand jemals öffentlich zurückhaben wollte. Zwar hatte sich längst eine Unzufriedenheit unter den Fans ausgebreitet, denn alles war über die Jahre immer schlimmer geworden. Und dagegen wurde protestiert. Gegen den "modernen Fußball" und wie er sich so darstellte.

Der Kontrollverlust der Fans

Aber bei all den Protesten gegen den modernen Fußball war es eben nie gegen das neue Stadionerlebnis gegangen, sondern vielmehr um ein diffuses Gefühl des Kontrollverlusts. FIFA, Blatter, Infantino, UEFA, DFB und wie sie alle heißen hatten das Spiel aus den Händen der Fans gerissen und in die Hände derer gelegt, die Stadionzuschauer als schmückendes Beiwerk für ihr Produkt betrachteten. Schmückend. Gut fürs Marketing. Und manchmal auch sehr lästig.

Neue technische Möglichkeiten, eine neue Generation von Fans begann derweil mit der Vermessung des Fußballs. Moneyball! Der richtige Blick auf die richtigen Daten machte alles andere unnötig. Die Daten waren überall verfügbar. Fan sein bedeutete nun auch, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Das Sport-Spiel Fußball. Nicht das Gesellschafts-Spiel Fußball. Die Internationalisierung, der Wettstreit mit anderen Ligen, aber auch das Ringen um Aufmerksamkeit in einer zunehmend digitalen Sport-Welt, in Zeiten der Allgemeinverfügbarkeit aller Highlights sämtlicher Fußball-Ligen weltweit hatten der Bundesliga zusätzlich das Regionale geraubt.

In Dortmund wagte man den Spagat zwischen Borsigplatz und Shanghai, in München ließ man die nationale Liga weit hinter sich und stieß in die Riege der wenigen Superklubs auf. Mit Leipzig und Hoffenheim etablierten sich Vereine, die aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeit den Wettbewerb aushebelten und deren Besitzer Dietrich Mateschitz und Dietmar Hopp für große Kontroversen sorgten. Der Österreicher nicht nur aufgrund seines Geldes, sondern auch durch seine am rechten Rand fischenden Medienprojekte in seinem Heimatland. Der Hoffenheimer, weil die Liebe, die er doch verbreiten wollte, nicht überall auch als Liebe ankam.

Die Vereine an der Spitze waren dem Rest enteilt und der Fußball, zumindest in der Wahrnehmung zahlreicher Anhänger, zusätzlich noch zu einem Testfeld für die neuesten Eskalationsstrategien der Sicherheitsbehörden geworden. Eine wilde Gemengelage. Mit nur einem Verlierer: den Bewahrern der Fußball-Kultur, den Fans des "alten Fußballs".

Stillstand im Westend

Das also waren die Protest-Auslöser. Die Zuschauer wollten trotzdem natürlich nahe am Spielfeld sitzen, die Spieler fühlen, sie mit ihren Emotionen erdrücken und in der Halbzeit schnell mit Bier und Bratwurst versorgt werden und auf den Toiletten in der Pause nicht ewig in der Schlange stehen. Diesen Teil der Fußball-Moderne akzeptierten die Fans. Die Betonschüsseln der 1980er-Jahre, der kultisch verehrten Hochzeit des "alten Fußballs", hatten ausgedient. Fast überall.

Doch nicht einmal das war im Berliner Westend angekommen. Dort bemühte sich Hertha zwar um ein neues Stadion, aber Berlin warf dem Klub die verbliebenen Mauerstücke der entkernten Stadt in den Weg. Nur kein neues Stadion. Nur keine Entmietung des Olympiastadions. Das geht bis heute so. Irgendwohin muss die aus dem Stadtbild längst verschwunden Mauer ja.

In Dardais erster Amtszeit entwickelte der ergebnisorientierte Abnutzungskampf in der kalten Betonschüssel Olympiastadion seine ganz eigene Magie. In einer kurzen Europa-League-Saison im Jahr 2017 verdichtete sich wieder einmal die Trostlosigkeit. Es war immer kalt, der Fußball war immer unansehnlich und das Stadion leer. Doch denen, die im leeren Unterrang der Ostkurve die Spiele verfolgten, ging das Herz auf. Das hier war Fußball. Das hier war Europapokal. Das hier war authentisch. Lange dunkle Tage voller harter Arbeit lagen zwischen den wenigen Festtagen, zwischen den wenigen ausverkauften Spielen. Das hier war der alte Fußball. Ungeschminkt, unbarmherzig, ungeliebt von den Massen.

Ein Auto auf der Tartanbahn

Parallel dazu startete der Verein einen Modernisierungsprozess. Die Bemühungen des Vereins, in die Stadt zu strahlen, die großspurigen Marketingaktionen der Lead-Agentur Jung von Matt/Sportsund des ehemaligen Twitter-Manns Paul Keuter waren mal überzogen und mal sympathisch. Unvergessen der Claim "We Try. We Fail. We Win". Unvergessen auch der Tag, als das Team auf die Knie ging und sich mit Colin Kaepernick solidarisierte und "Take A Knee" in Europa - und somit lange bevor es 2020 so richtig losging - etablierte.

In jeder Länderspielpause ging es auf eine Sportanlage in der Hauptstadt. Das Kiez-Training sollte die junge Generation an den Verein binden und in die Stadt hineinwirken. Jeder sollte sehen, wie Dardai an der Seitenlinie das nächste Unentschieden ausheckte. Hertha gelang, ohne dass sie es wollten, der Ausbruch aus der Geiselhaft des neuen Konformismus der Fußballmoderne. Sie spielten in einer alten Schüssel, die Fans in der Ostkurve ließen sich nicht vom Verein kontrollieren. Sie legten sich ständig mit der Vereinsführung an, sie clashten mit Sportvorstand Michael Preetz, der längst zum Inventar geworden war.

Und die Fans sangen ihre vom Wind verwehten Lieder in der Ostkurve und mopperten auf, als Frank Zander seine Hymne nicht mehr singen sollte. Sie wollten kein Wandel, sie wollten nicht das "Dicke B" an der Spree sein, sondern viele lieber mit dem Barden schunkeln. Manchmal fuhr ein Auto eines Werbepartners über die Tartanbahn und einmal, es war wieder November in Berlin und die Ultras lagen im Clinch mit der Vereinsführung, sprang jemand einsam rufend über die Tribünen. Leipzig gewann mit 3:0. "Ich habe so etwas noch nie erlebt bei einem Heimspiel", sagte Dardai.

Windhorst bringt das Chaos

Dardai war kein dahergelaufener Taktikfuchs, sondern ein Eigengewächs, einer, der den Verein verstand und einer, dessen Ungarnhaftigkeit hin und wieder verstörte. Der von Männerfußball redete und damit in der sich immer schneller drehenden Welt der ewigen Empörung hin und wieder ein wenig Aufmerksamkeit und Erziehung bekam, der aber auch von Gulasch und Rotwein redete und einen kleinen Sommerpausenbauch aus seinen Sommerurlauben zurück in die Hauptstadt brachte. Das war Hertha.

Dann kam Lars Windhorst. Und mit ihm das Geld. Und mit ihm das Chaos, das den Investor seit jeher umgibt.

Die letzten zwei Jahre. Ein Fiebertraum: Ante Covic, Big City Club, Derby-Pleite, Leuchtspuren fliegen, Mauerfall im Olympiastadion, Jürgen Klinsmann, Windhorst-Jacht im Trainingslager, Underwater Polo, Millionentransfers, Facebook Live und Tagebücher, Gegenbauer ist noch da, Windhorst auf PK, Alexander Nouri, Covid-19, Bruno Labbadia, Kalou dreht Videos, Abstiegskampf, Klassenerhalt. Lehmann da. Luft holen. Pause.

Carsten Schmidt, Fahnenmeer, Ordnungsamt, Sichtachsen und Herthakneipen, baut in Tegel, Derbysieg und Abstiegskampf, Bruno weg, Pal zurück, Preetz weg, Friedrich Boss, Männerfußball, Abstiegskampf, Lehmann weg, Cunha fällt und Lukebakio pennt, Bobic kommt, Abstiegskampf, Team-Quarantäne, Bremen runter und Selke da. Luft holen. Pause.

Der Prince is back, zahlt Windhorst jetzt, ohne Windhorst schon längst pleite, nur 22 Prozent am Deadline Day, Bayern-Klatsche, Pal will gehen, Bobic bremst, schon wieder Abstiegslieder, Fans jetzt weg, Schmidt ist raus, Windhorst pleite, Sieg in Frankfurt, Pal kommt klar. Neuer Stoff. Für die Unterhaltungsmaschine Bundesliga.

Hertha ist wie Berlin

Es ist wieder November in Berlin. Der Autor Klaus Ungerer sitzt auf einer Bank am Arkonaplatz, dem Geburtsort der Hertha, damals am 25. Juli 1892. Es ist kalt. Seit Tagen hat die Hauptstadt keine Sonne mehr gesehen. Von der nahegelegen Bernauer Straße schleichen die Geräusche der Tram. Auf einer Bank sitzen ein paar einsame Trinker. Berlin-Mitte. Kein Glamour. Ungerer, der auf Twitter den Account "Masochisten für Hertha" betreibt, holt weit aus. "Bei Hertha geht es nicht um Erfolg", sagt er: "Wir haben seit 1931 nichts mehr gewonnen. Hertha ist eben wie Berlin: eigentlich ein Dorf jottwedeh. Ganz weit weg von allem gebaut, da gibt es kein Meer und keinen richtigen Fluss und eigentlich keinen Grund, eine Stadt hinzubauen. Alle wollen hier nur ihre Ruhe haben und Schulle in ihrer Eckkneipe schlürfen. Die wollen keinen Autokorso. Keine Hysterie."

Der Verein, erzählt Ungerer, sei in den letzten Jahren in eine seltsame Ecke gedrückt worden. "Hertha handelt nicht vom Gewinnen. Gewinnen ist auch viel zu anstrengend. Hertha handelt vom Da-Sein, vom Chillen, vom Monatsende-Erreichen", sagt er. "Dieses Triumphierende, Aufgeregte kommt immer nur von außen rein. So wie Napoleon von außen reinkam. Und Hitler. Und die Bombenflieger. Und die Russen. Und die Regierung. Von außen kommt immer nur Stress." Er blickt hoch, schaut scharf und fährt eine charmante Attacke: "Heute sind es Sportjournalisten, die von außen kommen und Hertha nicht verzeihen können, dass sie ein Mauerblümchen ist. Den Hertha-Fans ist das egal."

Windhorst-Millionen folgenlos verdaut

Es ist November in Berlin. Pal Dardai hat seine eigenen Rücktrittsdrohungen überstanden. Nicht einmal Fredi Bobic wollte ihn rauswerfen. Er steuert den Verein nach den Abstiegskämpfen der Vorjahre zurück ins Mittelfeld. Hertha-Fußball ist wieder ein Abnutzungskampf. Sogar der Prince ist zurück. In den Eckkneipen, die von den Fans durch die Lockdowns der Pandemie gebracht wurden, versammeln sich die Fans. Einige von ihnen trauen sich sogar wieder ins Stadion. Hertha BSC zählt weiterhin zu den ungeliebten Vereinen der Liga. Lars Windhorst kämpft an allen Fronten gegen die drohende Insolvenz seines Unternehmens.

Ungerer sagt: "Hertha ist nicht kaputtzukriegen. Sie ist von keinem Bundesligaskandal kaputtzukriegen, von keinem Abstieg, keinem Lizenzentzug, nicht mal Andreas Ottl hat sie kaputtgekriegt. Hertha kommt immer wieder. Auch Windhorsts 374 Millionen Euro werden sie nicht kaputtkriegen. Die werden verdaut, völlig folgenlos."

Eine zugige, alte Betonschüssel, ein Sonnenkönig als Investor, ein Sportvorstand von erschütternder Offenheit, ein Trainer, dem der Verein alles und seine Position wenig bedeutet, eine im Mittelfeld der Tabelle dümpelnde Mannschaft, ein Haufen Fans, die all das mit ihrer Leidenschaft füllen. Der alte Fußball ist nicht tot, er erfindet sich im Berliner Westend seit langer Zeit neu.

Quelle: ntv.de

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