Goretzka-Aus als letzte Warnung Nagelsmann setzt das erste dicke Ausrufezeichen
12.03.2024, 14:50 Uhr
Leon Goretzka ist in der Nationalmannschaft offenbar vorerst außen vor.
(Foto: IMAGO/Nordphoto)
Julian Nagelsmann hat als Bundestrainer nur einen großen Auftrag. Er soll die Heim-EM zu einem Erfolg machen. Was danach kommt, kann dem Coach egal sein, sein Vertrag mit dem DFB endet. Und so frei in den Entscheidungen gibt es vermeintlich erste Überraschungen.
Am Ende des nächsten großen Krisenjahrs der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hat Julian Nagelsmann etwas sehr Bemerkenswertes geschafft. Er hat das Team, für das sich immer weniger Menschen begeistern konnten, aus der Bedeutungslosigkeit gerissen und wieder zum Gesprächsthema gemacht. Im ZDF-"Sportstudio" lieferte der Trainer den besten Cliffhanger für die Zeit nach den herben Enttäuschungen gegen die Türkei und Österreich bis hin zu den nun anstehenden Länderspielen gegen Frankreich und die Niederlande. Er rief ein offenes Duell um die Plätze aus und ebnete den Weg für die Rückkehr von Weltmeister Toni Kroos.
Die Ikone von Real Madrid hat mittlerweile bestätigt, dass sie wieder für die Nationalmannschaft spielen wird. Alles andere ist offen und inszeniert sich seit Wochen zum zweiten großen Spekulationsthema im deutschen Fußball - neben der eifrig diskutierten Sache, wer neuer Trainer des FC Bayern wird. Das wirft allerdings mit Blick zurück auf das DFB-Team die durchaus brisante Frage auf, wer da all die Kader-Informationen durchsteckt, die nun vor der offiziellen Bekanntgabe des Kaders am Donnerstag in den verschiedenen Medien durchsickern. Ist womöglich der Maulwurf zurück, der in München ein ständiger Begleiter von Nagelsmann war?
Wie so oft in diesem Spiel hängt alles mit allem zusammen. Thomas Tuchel, der den Rekordmeister im Sommer verlassen wird, fühlt sich für seine verbleibende Zeit an der Säbener Straße frei und kann Dinge ohne Rücksicht entscheiden. Auch Nagelsmann geht diesen Weg. Stellt sich die Frage nach der Henne und dem Ei. Wer hat die Pfeif-drauf-Mentalität zuerst ausgerufen?
Alle Dortmunder raus, außer Füllkrug?
Im Prinzip egal. Diese Woche steht ganz im Fokus von Nagelsmanns Plänen. Und es ist wie am längst legendären Deadline-Day: Die Timelines überschlagen sich, wilde Meldungen laufen immer schneller zusammen. Am Montag ploppte auf, dass die Stuttgarter Maxi Mittelstädt, Waldemar Anton, Chris Führich und Deniz Undav nominiert werden. Und einen Tag später knallt die Meldung rein, dass Bayern-Star Leon Goretzka außen vor ist. Die "Bild" berichtet darüber, Sky will es auch erfahren haben. Eine Bestätigung vom DFB gibt es nicht, weder für den VfB-Viererpack noch für das angebliche Goretzka-Aus. Später heißt es via "Sport Bild": Bis auf Stürmer Niclas Füllkrug verzichtet der Bundestrainer auf alle weiteren BVB-Profis, also unter anderem auf die drei Innenverteidiger Mats Hummels, Nico Schlotterbeck, Niklas Süle und Offensivspieler Julian Brandt.
An weiteren Gerüchten mangelt es nicht: Kommt es womöglich auch zur Jan-Niklas-Beste-Sensation? Der Linksaußen glänzt bei Aufsteiger 1. FC Heidenheim in seiner ersten Bundesliga-Saison mit herausragenden Leistungen, Standards, Toren und Vorlagen. Für das oft träge Spiel des DFB-Teams wären die Qualitäten ein Gewinn. Ebenso Maximilian Beier, dem Hoffenheimer Talent werden Thomas-Müller-Fähigkeiten nachgesagt.
Nagelsmann hakt drei Dinge auf einmal ab
Doch so ein Kader hat nicht unendlich Platz. Die vielen Gerüchte bedeuten, dass es auch prominente Opfer geben wird - Nagelsmann hatte das ja unlängst angekündigt. Und bei Goretzka macht er nun offenbar ernst. Den Platz des seit Jahren gesetzten Bochumers soll sein aktueller Nebenmann im Verein einnehmen: Aleksandar Pavlovic. Nagelsmann würde mit der Berufung des 19-Jährigen gleich drei Dinge erledigen. Er erhöht den Druck auf Goretzka, seine Leistungen wieder auf Niveau zu stabilisieren, auf dem er seit ein paar Wochen erst wieder spielt. Er signalisiert jeder anderen Stammkraft, dass nur die Leistung zählt, nicht der Name. Und er sticht den serbischen Verband aus, der sich intensiv um die Dienste des Mittelfeldspielers verdient gemacht haben soll.
Aber zuallererst belohnt der Bundestrainer das Talent für starke Leistungen im Verein. In den trüben Monaten, die die Münchner hinter sich haben, war Pavlovic der große Gewinner. Wie wichtig er für Tuchel ist, zeigt sich an der Personalie Joshua Kimmich. Der Antreiber des FC Bayern spielt nun rechts. Im Zentrum agiert der Youngster an der Seite von Goretzka und überzeugt mit seiner Ruhe - und in einer chronisch verkrampften DFB-Elf fast noch wichtiger: seiner Unbekümmertheit.
"Es ist schön zu sehen, dass er es mit dem gleichen Selbstbewusstsein, mit der gleichen Mentalität und mit der gleichen Qualität auch im Spiel umsetzen kann, egal, wer auf der anderen Seite steht, und egal, was der Rahmen ist, ob es ein Pokalspiel, ein Champions-League-Spiel oder ein Bundesligaspiel ist. Dafür gebührt ihm das größte Kompliment", lobte Tuchel zuletzt. "Du merkst ihm einfach die kindliche Freude an, auf dem Platz zu stehen", sagte Tuchel: "Sein Selbstvertrauen kommt durch sein Spiel. Er hat immer so trainiert, wie er spielt."
Goretzkas Problem: Er kann's nur im Zentrum
Pavlovic gelingt es in seiner ersten Bundesliga-Saison immer mehr, den lastenden Schwermut aus dem Mittelfeld des Rekordmeisters zu vertreiben. Für diesen standen in den vergangenen Monaten vor allem die beiden Namen Goretzka und Kimmich. Einst das gefeierte und unangreifbare Power House im Mittelfeld, wandelten sie sich immer mehr zu den Gesichtern der Verzweiflung. Erst im DFB-Team, kurz danach im Klub.
Für Kimmich gibt es auch in der Nationalmannschaft den Ausweg nach rechts. Die Position ist seit Jahren eine ganz große Baustelle. Und Kimmich für viele die beste Lösung seit Langem. Weil er aber im Zentrum als gesetzt galt, wurde experimentiert, jedoch ohne Erfolg. Für Goretzka bietet sich indes kein Ausweg, das Zentrum ist sein natürliches Habitat - mitunter kann er noch Lücken in der Innenverteidigung stopfen. An seinen besten Tagen ist er ein hervorragender Antreiber zwischen den Strafräumen, hat ein mutiges Passspiel, eine beeindruckende Dynamik und strahlt Torgefahr aus. Von diesen Tagen, zumindest in der Konstanz, ist der 29-Jährige aber noch ein Stück entfernt, auch wenn der Weg zu stimmen scheint. Dass er nun ausgerechnet nach seiner besten Saisonleistung gegen den FSV Mainz 05 (8:1) das Nachsehen hat, ist eine besonders bittere Pointe des neuen Nagelsmann-Kurses. Geschlossen ist die EM-Tür allerdings nicht, noch hat er 94 Tage Zeit.
Die Suche nach dem Malocher
Aber Goretzka kann sich keine kreativen Schaffenspausen mehr gönnen. Gerade im Mittelfeld ist das Gedränge um die Plätze immens, nochmal verschärft durch die Rückkehr von Kroos. Der kommt nicht als Herausforderer, sondern als Platzhirsch. Zudem wird İlkay Gündoğan als Kapitän weiter gesetzt sein. Hinzu kommen Thomas Müller, der ewig siegeshungrige Schleicher und Chefkommunikator, sowie die herausragend guten Talente Florian Wirtz und Jamal Musiala.
Für Goretzka (und Pavlovic übrigens auch) gibt es ein weiteres Problem: Nagelsmann sucht noch einen robusten, kampfstarken Abräumer neben Kroos. Jemanden vom Typ Pascal Groß oder Robert Andrich. Im großen "Spiegel"-Interview hatte Nagelsmann zuletzt angekündigt, vor allem auch die Mentalität der Mannschaft in den Blick zu nehmen und mit entsprechenden Nominierungen zu beeinflussen. "Wir werden mehr Spieler im Kader haben wie Pascal Groß, die sich auch mal für andere reinwerfen und denen es weniger darum geht, mit einem tollen Pass zu glänzen." Und er hatte angekündigt: "Es wird bestimmt der eine oder andere nicht nominiert werden, von dem viele denken, der sei sicher dabei." Weil Goretzka die Polyvalenz (!) abgeht, muss er sich unverzichtbar in München machen, will er bei der EM eine Rolle spielen - oder überhaupt eine Einladung bekommen.
Quelle: ntv.de