Fußball

Nagelsmann fehlen klare Worte "Toxische" Krisen lasten tonnenschwer auf DFB-Elf

Er hat noch viel Arbeit vor sich: Bundestrainer Julian Nagelsmann.

Er hat noch viel Arbeit vor sich: Bundestrainer Julian Nagelsmann.

(Foto: picture alliance/dpa)

So schnell kann es gehen. Im dritten Spiel unter Bundestrainer Julian Nagelsmann verfällt die DFB-Elf wieder in den alten Trott. Präsident Bernd Neuendorf ruft trotzdem das EM-Finale 2024 als Ziel aus. Wie das jedoch gelingen soll, bleibt vorerst rätselhaft.

Ach, Deutschland. Drei Spiele sind unter dem neuen Bundestrainer Julian Nagelsmann bestritten und schon liegt alles wieder in Schutt und Asche. Der manisch-depressive Patient Nationalmannschaft ist wieder einmal zusammengebrochen. Die Aussichten auf eine kurzfristige Linderung der Symptome sind nicht gut. Das 2:3 (1:2) im Derby gegen die Türkei verstärkt die depressive Phase. Nur ein Sieg im Jahresabschlussspiel in Österreich am Dienstag (20.45 Uhr/ZDF und im Liveticker bei ntv.de) kann der DFB-Elf nun vor einem monatelangen Tief vor der Heim-EM 2024 bewahren.

Dabei ist doch eigentlich alles gut, sagt zumindest der Top-Funktionär des Landes, der DFB-Präsident Bernd Neuendorf. "Ich glaube, dieser Kader ist erstklassig besetzt. Wir müssen uns da international überhaupt nicht verstecken", ruft er am Morgen nach der Niederlage dem Land aus den TV-Studios der "Bild" zu und gibt sodann das Ziel für das kommende Jahr aus. Das EM-Finale müsse es schon sein. Eine Debatte um den neuen Bundestrainer dürfe es nicht geben. Doch so wild ist nicht einmal die von der Nationalmannschaft so oft enttäuschte Öffentlichkeit.

Zum Spiel gegen die Türkei hat Neuendorf dann natürlich auch eine Meinung: "Wir gefallen uns oft darin, in eine toxische Situation zu kommen, alles schlechtzureden, und das war es nicht. Wir müssen jetzt unsere Stärken stärken", schimpft er am Morgen nach einem Spiel, das in der Tat nicht schlecht, sondern vielmehr von der nicht mehr ganz so neuen Mittelmäßigkeit der Nationalmannschaft geprägt war.

Die kann an guten Tagen immer noch mit der Weltspitze mithalten, doch diese guten Tage werden immer weniger. Das Länderspieljahr 2023 wird am kommenden Dienstag in Wien beim Spiel gegen den Trainer-Übervater Ralf Rangnick und seine Österreicher ein Ende finden. Die Bilanz wird in jedem Fall eine negative sein. Den drei Siegen gegen Peru, Frankreich und die USA stehen zwei Unentschieden und gleich fünf Niederlagen gegenüber. Das Torverhältnis liest sich mit 17:20 wie eine Bilanz des Grauens. Nur im ersten Spiel nach der verpatzten WM in Katar, einem 2:0 gegen Peru, bleibt die DFB-Elf ohne Gegentor, im Schnitt kassiert sie zwei Tore pro Spiel. Viel zu viel.

Nagelsmann fehlen die klaren Worte

Auch deswegen löst das Nagelsmann-Experiment mit Kai Havertz als Linksverteidiger so viel Verwunderung aus. Die schon unter Joachim Löw und Hansi Flick existierende Schwachstelle der DFB-Elf soll erneut mit einem an der gegnerischen Eckfahne festklebenden Außenverteidiger gelöst werden. Mit einem "offensiven Joker", der eigentlich eine verkappte linke Nummer 10 spielt, wie der Bundestrainer nach dem Spiel vom Podium der Pressekonferenz predigt und dabei für ein wenig Verwunderung sorgt. Defensive Stabilität durch die Schwächung der Defensive. Das klingt erst einmal nach dem Gegenteil der von Neuendorf so deutlich eingeforderten Stärkung der Stärken.

Es ist nicht die einzige erstaunliche Aussage an diesem Abend. "Die Taktik ist zweitrangig, es ist immer erst die Emotion. Wenn du da auf 100 Prozent bist, kannst du taktisch auch deutlich schlechter sein. Wenn die Emotionen nicht so sind, musst du taktisch brillant sein, um das Spiel trotzdem positiv zu gestalten", sagt er und gesteht damit immerhin einen Fehler ein. Nur taktische Brillanz hätte das DFB-Team retten können, den einigen seiner Spieler attestiert er ein schlechtes "Emotionsniveau". Wen er damit meint, bleibt jedoch offen. Nagelsmann, das wird an diesem Samstag klar, ist kein Bundestrainer klarer Worte. Er denkt um viele Ecken und er denkt komplex, überfordert damit seine Umwelt.

Dabei bedarf es jetzt klarer Worte. In den Monaten vor der Europameisterschaft wird Nagelsmann noch etliche Krisen moderieren müssen. Die ungelöste Situation im Tor türmt sich haushoch vor ihm auf. Erst in dieser abgelaufenen Woche meldet Manuel Neuer erneut Ansprüche auf seinen Platz an. Er träume davon, das EM-Finale im Berliner Olympiastadion zu spielen, sagte er, mit dem EM-Spielball vor seinem Sehnsuchtsort stehend. Die Diskussionen um die Rückkehr Neuers werden nicht abreißen, bevor Nagelsmann eine Entscheidung trifft. Das Verhältnis der beiden darf nach dem Clash bei den Bayern Anfang des Jahres als belastend bezeichnet werden.

Immer wieder Joshua Kimmich

Ebenso wird die Krise in der defensive Zentrale des DFB-Teams weiterköcheln. Zu oft scheiterte der Versuch mit Joshua Kimmich und İlkay Gündoğan, die sich ihrer Stärken ohne ein Stoppschild hinter ihnen gegenseitig berauben. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hatte sich Nagelsmann auf Gündoğan als Kapitän festgelegt, in einer Phase sich dann auf Kimmich als defensiven Mittelfeldspieler festgelegt. Es war nichts weiter als das Zementieren eines Problemzustands. Wie das Spiel in Berlin erneut beweist.

Schon vermeldet der Boulevard, dass es nun eng für Kimmich werde. Der aber könnte auf der rechten Seite quasi den Havertz geben und als verkappte rechte Nummer 8 das Spiel von der Seite orchestrieren. Der Mittelfeldspieler wirkt nach langen Jahren der Kritik an ihm zunehmend emotional belastet, weil an ihm immer wieder die ganz großen Diskussionen aufgehängt werden. Weil für ihn keine Position mehr existiert. Weil er immer unter besonderer Beobachtung steht und ein Symbol für das bisherige Scheitern seiner Generation im DFB-Team ist.

Wie es in der Abwehr weitergeht, bleibt weiter völlig rätselhaft. Die beiden Innenverteidiger-Positionen sind noch lange nicht vergeben. Es fehlt dort an echten Spitzenspielern. Noch viel mehr auf außen, wo David Raum und Robin Gosens nach dem Havertz-Experiment zumindest angezählt sind. Nagelsmann hat ihnen das Vertrauen vorerst entzogen.

Neben diesen zentralen Problemen, den "toxischen" Krisen der Nationalmannschaft, wirkt derweil die Personalfülle in der Offensive wenig belastend. Mit Leroy Sané, Serge Gnabry, Jamal Musiala und Florian Wirtz, der Zukunft des deutschen Fußballs, ist die perfekt aufgestellt. Dahinter lauert Thomas Müller auf eine letzte Chance, ebenso ist der fleißige Julian Brandt nicht abzuschreiben und auch Havertz könnte, wenn Nagelsmann ihn nicht weiter als Star-Linksverteidiger der EM 2024 aus der Offensive weglobt, noch eine Rolle spielen. Wer weiß das schon?

Am Ende entscheidet der 14. Juni 2024

Denn all die Analysen, all die gesprochenen und geschriebenen Worte werden am 14. Juni 2024 um 21 Uhr ohnehin hinfällig werden. Dann wird das Eröffnungsspiel der EM 2024 im Stadion in München angepfiffen. Große Turniere, zumal im eigenen Land, entwickeln ihre ganz eigene Dynamik. Sie scheren sich nicht um das, was war und sie bedeuten nichts für das, was danach sein wird. Für einen Monat wird das Land in einen Tunnel abtauchen.

Alles Handeln von Nagelsmann ist auf diesen Moment ausgelegt. Der 36-Jährige wird an diesem Frühsommerabend an der Seitenlinie stehen und erst in diesem Moment wird sich zeigen, ob es ihm gelungen ist, der Mannschaft Halt zu verschaffen, so wie er es zu seinem Amtsantritt versprochen hat.

Der bedenkliche Zustand der Nationalmannschaft lässt daran aktuell gewiss zweifeln, die Experementiersucht beim Spiel gegen die Türkei wird er bis dahin abgelegt haben müssen. Die Brandherde werden gelöscht sein müssen. Mit Beginn der EM-Vorbereitung wird er seinen 23 Spielern einen klaren Plan an die Hand geben müssen. Personaldebatte darf es dann nicht mehr geben. Es gibt genug zu tun.

Quelle: ntv.de

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