Pfiffe und politische Brisanz Die türkische Partynacht kann niemand stoppen
19.11.2023, 07:47 Uhr
Türkische Fans waren in Berlin ganz klar in der Mehrheit.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die türkische Nationalmannschaft und ihre Fans in Berlin feiern eine historische Partynacht. Dabei muss die DFB-Elf ein heftiges Pfeifkonzert ertragen, weil sie nicht so emotional spielt wie der Gegner. Hinzu kommt ein Mittelfinger an die AfD.
Irgendwie musste es so kommen. Die erste Niederlage unter Julian Nagelsmann für die deutsche Nationalmannschaft und dann ausgerechnet beim Heimdebüt, das zu einer Art Auswärtsspiel verkommt. Gegen die Türkei. In Berlin. Das ist kein normales Fußballspiel. Schon gar kein einfaches "Freundschaftsspiel". Es geht um viel mehr, dafür sorgt die eng verwobene Geschichte der beiden Länder seit mehr als einem halben Jahrhundert. Es geht um Stolz, Identität, Heimat. Und am Ende steht eine lange, historische, türkische Partynacht.
Vor 72.592 frenetischen Zuschauern im Berliner Olympiastadion, die allermeisten gekleidet in Rot und Weiß, bejubelt eine junge und euphorische türkische Nationalmannschaft den ersten Sieg in Deutschland nach 72 Jahren, seit dem 2:1-Erfolg im Juni 1951. Hand in Hand mit den Fans verdienen sich die Männer von Trainer Vincenzo Montello, der nun seine ersten drei Partien allesamt gewann, den Triumph mit mehr Herzblut, Leidenschaft und Kampf.
"Die Emotionalität hatten wir nicht auf allen Positionen", sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann dementsprechend nach der Partie bei RTL. "Ein paar haben es sehr gut gemacht, aber einige haben nicht das Emotionalitätsniveau erreicht, um an ihre Grenzen zu gehen." Die Türken, sie schafften das auf dem Platz und auf den Rängen. Und das zeigt Wirkung. Stürmer Niclas Füllkrug erkannte später an: "Man muss sagen, dass wir bei uns in der Hauptstadt ein Auswärtsspiel hatten. Die Türken haben sehr viel Emotionen aufgebaut. Wir kommen dann ins Schwimmen."
Pfiffe für Gündoğan und Graue Wölfe
Bevor die DFB-Elf schwimmt, laufen im Olympiastadion türkische Popsongs und Summer Cem aus Mönchengladbach rappt: "Easy easy, tamam tamam". "Als ob wir zu Hause spielen", prophezeite Montello am Freitag hinsichtlich der Besetzung der Ränge. Schon vor der Partie feiern Tausende seine Mannschaft auf den Straßen Berlins. Sie kommen aus Berlin, Dortmund, Frankfurt oder Kiel. Sie alle freuen sich, dass sie endlich mal wieder ihre Nationalelf in Berlin spielen sehen können. Sind völlig aus dem Häuschen. Im scharfen Kontrast zu den DFB-Fans seit vielen Jahren, die ihre Elf kritisch beäugen.
Das letzte Aufeinandertreffen vor Publikum gibt es 2010. Ein gewisser Mesut Özil trifft zu 2:0. Er jubelt damals verhalten und wird von den türkischen Anhängern ausgepfiffen. Diesmal bekommt DFB-Kapitän İlkay Gündoğan, in seinem ersten Spiel gegen die Türkei, die Schmähungen ab. Für viele Türken sind die Spieler, die sich für die DFB-Elf entscheiden, aber türkische Wurzeln haben, eine Art Verräter. Unschön.
Die türkische Partynacht beginnt bereits tagsüber. Nachdem sich die Fans am Nachmittag in den Restaurants in Kreuzberg gestärkt haben, gibt es am frühen Abend ein Marsch zum Stadion mit knapp 2000 Fans, bei dem ordentlich getrommelt und gesungen wird. Allerdings wird hier und da auch gezündelt und Videos in den sozialen Medien zeigen, dass Symbole der vom Verfassungsschutz als rechtsextreme Vereinigung eingestuften "Grauen Wölfe" zur Schau getragen wurden.
"Heuss-Türken" und "Auswärtssieg"
Der Marsch beginnt ausgerechnet am Theodor-Heuss-Platz. Der ehemalige Bundespräsident war es, der 1958 etwa 150 türkische Berufsschulabsolventen nach Deutschland lotste. In Deutschland taufte man sie "Heuss-Türken". Damit begann die Einwanderung der sogenannten "Gastarbeiter", Jahre bevor Deutschland mit der Türkei 1961 das Anwerbeabkommen schloss. Genau vor 50 Jahren folgte schließlich ein Anwerbestopp.
Historie und Brisanz - und doch werden die wenigsten Fans mit türkischer Migrationsgeschichte, genauso wenig wohl Gündoğan oder der in Köln geborene und auf türkischer Seite eingewechselte Salih Özcan vom BVB, an Theodor Heuss oder den Stopp 1973 denken, wenn sie an die Geschichte der Anfänge ihrer Eltern und Großeltern, ihrer Familien in Deutschland denken. Trugen sie zwar enorm zum deutschen Wirtschaftswunder bei, fühlten sich aber viele von ihnen von der deutschen Gesellschaft kaum als gleichwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger akzeptiert. Dafür sorgte schon der Begriff "Gastarbeiter", der Bedeutungen transportiert, die Ausgrenzung und Diskriminierung ermöglichen.
Auch heute wird leider noch oft in "wir" und "die" geteilt, dabei sollte sowohl in Deutschland als auch in der Türkei klar sein, dass Menschen durchaus zwei Identitäten, sowohl eine türkische als auch eine deutsche, in sich vereint tragen können. Das wäre auch ein Zeichen gegen Gruppen wie die Grauen Wölfe. Doch zurück zum Fußball. Zurück zur türkischen Partynacht. Die am Anfang auf dem Rasen eigentlich gar keine ist.
Die Türkei beginnt aggressiv, Fans feuern frenetisch an und pfeifen deutschen Ballbesitz konsequent aus. Doch es folgt die kalte Dusche nach fünf Minuten: Linksverteidiger-Versuchskaninchen Kai Havertz stellt auf 1:0. Deutsche Fans beweisen Humor und skandieren "Auswärtssieg", die türkischen Buhs und Pfiffe ebben immer mehr ab. So lautstark sich die türkischen Fans anfangs gezeigt haben, so zahm zeigt sich ihre Mannschaft auf dem Platz. Teilweise wird es im kalten Berliner Rund so still, wie es an diesem ereignisreichen Samstag selten war in der Hauptstadt. Çüş.
Keine politische Bühne für Erdoğan
Doch bei jeder Mini-Chance der Türken, von denen es bald einige gibt, die allerdings noch nicht wirklich für Gefahr sorgen, schreien sich die Fans von Herzen gerne wieder warm. Bald erleuchten die Zuschauerinnen und Zuschauer das Stadion mit ihren Handylichtern. Ein bisschen Kitsch darf bei einer türkischen Feier nie fehlen. Aber nun zurücklehnen und Çay trinken? Nix da.
Kurz darauf fällt das verdiente 1:1 durch Ferdi Kadıoğlu (37.). Maşallah. Die Ränge explodieren, für diesen Moment sind sie alle gekommen. Türkischer Freudentaumel - inklusive ein wenig politischer Brisanz. Im Unterrang werden neben den türkischen auch zwei Palästina-Flaggen geschwenkt.
Am Freitag noch hatte der türkische, autokratische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Berlin in einen Ausnahmezustand versetzt, Kanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht und wieder einmal mit Pro-Hamas-Äußerungen für Ärger gesorgt. Vereinzelt kam es zu kleinen Gegendemonstrationen. "Der türkische Präsident ist ein islamistischer Hassprediger. Auf sein Geheiß begeht die türkische Armee täglich Kriegsverbrechen an ethnischen und religiösen Minderheiten", kritisierte etwa Nahostexperte Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). "Es ist unbegreiflich, dass unser Staatsoberhaupt und unser Regierungschef sich beeilen, diesem Mann die Hand zu schütteln."
Ins Berliner Olympiastadion wollte Erdoğan ursprünglich auch kommen, dann flog er aber doch zurück in die Türkei. Und so verkommt das spannende Spiel zum Glück nicht zur politischen Bühne. Weitere politische Aktionen neben den paar Flaggen gibt es nicht. Hier wollen die Menschen Fußball sehen. Und leben. Hier ist türkische Party.
"Türkische Nacht in Berlin"
Endlich mal wieder richtig was los bei einem DFB-Spiel. Nach dem Ausgleich wird jede noch so kleine Situation wieder frenetisch bejubelt - bis ein geologisches Ereignis für endgültige Furore sorgt. Der letzte Vulkanausbruch in der Türkei fand zwar 1881 im Nemrut Dağı statt, aber mit dem 2:1 kurz vor der Pause kommt es in Berlin zum nächsten.
Einen fulminanten Kracher haut Kenan Yıldız in seinem erst zweiten Länderspiel humorlos über Keeper Kevin Trapp in den Kasten (45+2). Latte, Pfosten, Tor. Die komplette türkische Bank springt auf und rastet aus. Emotionen, wie sie Nagelsmann fordert. Völlige Ekstase, Pausenführung gegen das große Fußballland, das Trainer Montello unter der Woche noch zu einem EM-Favoriten ausgerufen hatte. Easy, easy, tamam, tamam.
Nach toller Vorarbeit von Florian Wirtz crasht Füllkrug die Party wie ein ungebetener Gast mit dem nächsten deutschen Blitztor, diesmal kurz nach der Pause (48.). Immer öfter geht es nun wild hin und her, das Spiel bereitet Freude. In der 71. Minute gibt es einen Handelfmeter (Havertz) nach Videobeweis. Yusuf Sarı sagt teşekkürler und trifft in seinem dritten Länderspiel zum 3:2.
Die Party lebt wieder, niemand kann sie an diesem Abend stoppen. Der DJ hat den nächsten Song aufgelegt, es darf wieder getanzt werden. Bis spät in die "türkische Nacht in Berlin", wie die türkische Zeitung "Hürriyet" schreibt. Denn dann ist Schluss. Der historische Sieg für die Türkei ist perfekt, die rot-weißen Fans sichten stolz in der U-Bahn die besten Videos aus dem Stadion auf dem Handy. Treffen sich zum Autokorso auf dem Ku'damm und zum Feiern am Kottbusser Tor.
"Gesundheit für die Füße", lieber DFB
Und irgendwie gewinnt im Sinne der Völkerverständigung damit auch Deutschland. Denn die Partynacht ist ein Mittelfinger an die AfDler und rechten Populisten, die nach dem Spiel in den sozialen Medien von der aus rechtsextremen Kreisen stammenden Verschwörungserzählung "Bevölkerungsaustausch" schwadronieren und wegen Pfiffen gegen die Nationalelf behaupten, Deutschland "habe fertig". Ausgepfiffen wurde die deutsche Mannschaft zuletzt wegen schlechten Ergebnissen ohnehin häufig.
In der Türkei bedankt man sich stets höflich bei Gästen, in diesem Fall nach dem gefühlten Heimspiel bei der DFB-Elf: Ayağınıza sağlık! "Gesundheit für Ihre Füße", heißt das wörtlich übersetzt, was wohl nie besser passte.
Quelle: ntv.de