Fußball

Chelsea pflügt durch CL und PL Was hat Thomas Tuchel da eigentlich getrieben?

Tuchel herzt seine Spieler nach dem 4:0-Sieg über Juventus Turin.

Tuchel herzt seine Spieler nach dem 4:0-Sieg über Juventus Turin.

(Foto: picture alliance / empics)

Mal eben Juventus Turin mit 4:0 vom Platz gefegt: Nach zwei Niederlagen im September transformiert Thomas Tuchel seinen FC Chelsea zu einem Powerhouse, das in Champions- wie Premier League mit spektakulärer Offensive und kaum Gegentoren dominiert. Wie hat der deutsche Coach das geschafft?

Es war ein kleines Finale. Natürlich nur in der Gruppe H der Champions League, aber mit drei Punkten hätte die bis dato ungeschlagene Alte Dame aus Turin den Gruppensieg quasi sicher gehabt. Aber gegen Thomas Tuchels FC Chelsea gibt es dieser Tage nichts zu holen. Das musste auch Juventus beim 4:0 (1:0) der Engländer anerkennen, mit dem sich die Blues die Führung in der Gruppe erkämpften. Teilweise spielte Tuchels Team in seinem 50. Spiel an der Seitenlinie die Italiener um Abwehr-Chef Andrea Bonucci schwindelig, während es hinten kaum etwas zuließ. Diese Extraklasse mit Torflut ist der derzeitige Normalzustand: Was hat der deutsche Coach eigentlich mit dem FC Chelsea angestellt?

Tuchel musste gegen Juve auf die noch nicht wieder fitten Kai Havertz und Romelu Lukaku verzichten. Aber kein Problem. Denn Chelsea konnte sich wie schon so oft in dieser Saison auf seine Eigengewächse aus der Nachwuchsakademie verlassen: 1:0 Trevoh Chalobah (22, seit 2007 im Klub) in Minute 25, 2:0 Reece James (21, seit 2006) in der 55. Minute, 3:0 Callum Hudson-Odoi (21, seit 2007) nur acht Minuten später nach Vorlage von Ruben Loftus Cheek (25, seit 2004). Auch Mason Mount (seit 2005 im Verein) und Nationalstürmer Timo Werner gelang in der Nachspielzeit im Verbund der Endstand.

"Das war meisterhaft", applaudierte Chelsea-Legende Joe Cole in seiner Rolle als TV-Analyst nach dem Spiel. "Es fehlen einem langsam die Worte, um zu beschreiben, was die Mannschaft leistet. Es wird für jeden schwer sein, sie zu stoppen."

"Loan-Army" integriert

Nur Torhüter Wojciech Szczesny verhinderte mit glänzenden Paraden, dass die Niederlage gegen die fulminant aufspielenden Blues nicht zu einer schlimmeren Schmach für Turin wurde. Trotzdem war es für Juve die erste Pleite mit vier Toren Unterschied in allen Wettbewerben seit fast 18 Jahren. Aber wem ist sowas in Europa zurzeit zuzutrauen, wenn nicht dem FC Chelsea? Das Achtelfinalticket in der Champions League ist gebucht, die Tabelle in der englischen Premier League führt man mit drei Punkten vor den mächtigen Citizens aus Manchester an. In Königsklasse und Liga gewannen Tuchels Männer acht der vergangenen neun Spiele (ein Unentschieden) und fingen sich dabei siebenmal kein einziges Gegentor.

Seit seiner Übernahme im Januar hat Thomas Tuchel den FC Chelsea transformiert - und immer stärker setzt er in dieser Saison auf die Spieler aus der Chelsea-Academy, der wohl derzeit besten Kaderschmiede der Welt. Der deutsche Trainer hat endlich einen Weg für London gefunden, die vielen Talente, die über die Jahre quer durch Europa verliehen wurden (was den unrühmlichen Spitznamen "Loan-Army", also Leih-Armee hervorrief), erfolgreich einzubinden. Der Akademie gehörte auch ein gewisser Jamal Musiala von 2011 bis 2019 an, der heute für den FC Bayern und die deutsche Nationalmannschaft auf Torejagd geht.

Besonders Reece James und Ben Chilwell (24, Ausbildung bei Leicester City) machten in dieser Spielzeit als Außenverteidiger einen enormen Sprung, obwohl sie zu Anfang der Saison nicht Tuchels erste Wahl waren. James bestätigte seine Topform mit einer wunderschönen Brustannahme samt Volleytor gegen Juventus und wird von vielen Beobachtern derzeit auf der rechten Außenbahn sogar vor Liverpools Trent Alexander-Arnold gesehen. "Er schießt wie ein Pferd", lachte Tuchel nach dem 3:0-Sieg über Newcastle Ende Oktober, bei dem James einen Doppelpack erzielt hatte.

"Würde sie nicht Verteidiger nennen"

Tuchel hatte nach der Amtsübernahme direkt auf eine Dreierdefensive umgestellt, die derzeit mit dem deutschen Nationalspieler Antonio Rüdiger, Altmeister Thiago Silva und entweder Chalobah oder Andreas Christensen (25, seit 2015 in Akademie und Klub) und den zusätzlichen Außenverteidigern James und Chilwell unglaublich schwer zu knacken ist. Das war das erste Ziel. Denn in der vorherigen Saison wollte der Trainer zunächst vor allem eines erreichen: Gegentore verhindern, was den Blues in den Jahren zuvor selten gelungen war. Die Außenverteidiger rückten deshalb nicht besonders weit hoch, agierten meist um die Mittellinie herum.

Aber nun ist es Tuchels eingeimpfter Schwung für die Offensive über außen, der Chelsea so gefährlich macht. "Ich würde sie nicht Verteidiger nennen", sagte der Teammananger sogar über seine beiden Jungstars auf den Außen, die er weiter nach vorne positionierte und mit vielen Freiheiten ausstattete. Immer wieder stürmen James und Chilwell in die Box, wie der Strafraum in England genannt wird, und kreieren Chancen oder schießen selber Tore. Laut Sky Sport haben die beiden im Durchschnitt mehr Ballkontakte im gegnerischen Strafraum als jeder andere Verteidiger. Nur in einem einzigen Ligaspiel trafen die Blues nicht ins gegnerische Tor.

Die Rolle des Außenverteidigers ist nicht leicht, aber vielleicht die wichtigste im schnellen, physischen Spiel dieser Jahre, in dem es darum geht, Räume zu öffnen und so effektiv wie möglich zu nutzen und Lücken zu füllen, die Stürmer hinterlassen. Tuchel weiß das und passte dementsprechend das Spiel der Blues fortschrittlich an. "Wir verlangen viel von unseren Außenverteidigern", erklärte der Coach zu Beginn dieser Saison. "Sie müssen verteidigen, wenn es Zeit ist zu verteidigen, und sie müssen angreifen, wenn wir in den gegnerischen Strafraum kommen." Ohne die beiden Außenverteidiger könne man "im Halbraum nicht gefährlich sein", so Tuchel. Sie sorgen für die Breite, um dichte Defensivreihen zu knacken: "Man muss Optionen haben, um die Abwehr auseinanderzuziehen."

James und Chilwell zahlen dem Trainer das Vertrauen in Leistung zurück. James schoss in neun Liga-Partien vier Tore und lieferte ebenso viele Assists, Chilwell erzielte in seinen sechs Premier-League-Spielen drei Treffer und gab eine Vorlage. Und hinten wird die Weste fast immer Weiß gehalten. In der Champions League stehen 10:1 Tore auf dem Konto, in der Premier League nach zwölf Partien 30:4 Treffer (beste Defensive und zweitbeste Offensive nach Jürgen Klopps FC Liverpool). Tuchel erklärte, dass er die beiden 0:1-Niederlagen Ende September im Hinspiel gegen Juventus und in der Liga gegen Manchester City als Wendepunkt betrachtete. Danach ließ er die Flügelzange James-Chilwell zum ersten Mal los, Tore en Masse (ohne Lukaku und Werner in den vergangenen Wochen) und keine weitere Niederlage waren die Folge bisher.

Transformator Tuchel hat nicht genug

Ein weiterer Grund für die wenigen Gegentreffer (seit seiner Übernahme im Januar sind es gar erst 17 in der Liga): Tuchel stabilisierte nicht nur die Defensive, sondern auch das Mittelfeld, wo sich unter seinen Vorgängern immer wieder beängstigende Lücken auftaten. Der ehemalige BVB-Coach schaffte es mit Europameister Jorginho und Weltmeister N'Golo Kanté, ein Gleichgewicht in diesem wichtigen zentralen Mannschaftsteil herzustellen. Der Raum zwischen Verteidigung und Mittelfeld, den Gegner zuvor gerne ausnutzten, ist nicht mehr da. Für die Offensive gibt es dann ja James und Chilwell - und einen gewissen Lukaku samt Sturmpartner "Jahrhunderttalent" Havertz.

Eine der wichtigsten Aufgaben in Sachen Defensive kommt auf Tuchel nun aber abseits des Platzes zu. Die Säulen Rüdiger, Christensen, Silva und Cesar Azpilicueta haben Verträge, die am Ende der Saison auslaufen. Die Verhandlungen laufen selbstverständlich und womöglich wird es sich positiv auswirken, dass der erfolgreiche Transformations-Trainer Tuchel jüngst sagte, einen langfristigen Chelsea-Verbleib anzustreben.

"From broken to brilliant", titelte der englische "Guardian" schon im Mai über Tuchels Veränderungsmaßnahmen von einem kaputten FC Chelsea hin zu einem brillanten Top-Team. Anschließend gewannen die Blues die Champions League und setzten sich dieses Jahr mit offensiverer Taktik und Talenten aus der Kaderschmiede an die Spitze der Premier League. Und was jetzt? Transformator Thomas Tuchel hat natürlich nicht genug: Ich will, "dass wir die Mannschaft sind, gegen die niemand spielen will."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen