
Toni Schumacher bei der WM 1982.
(Foto: imago/Sportfoto Rudel)
Das Leben der deutschen Torwart-Legende Harald "Toni" Schumacher ist filmreif. Doch erst einmal wird der frühere Nationalkeeper jetzt zu seinem 70. Geburtstag in einem Theaterstück mitspielen. Es geht um die "Nacht von Sevilla" - und das Foul an Battiston. Der größere Skandal in seiner Karriere war aber wohl noch etwas anderes.
"Ich würde das Buch sofort wieder schreiben. Lieber ein Jahr lang Löwe als zehn Jahre Schaf. Woher sollte ich ahnen, dass Wahrheit in Deutschland verboten ist?" Es war der Knackpunkt in Toni Schumachers unglaublicher Karriere, aber noch lange nicht das Ende seiner Laufbahn. Doch die Veröffentlichung seines Buchs "Anpfiff" Anfang März 1987 veränderte alles im Leben des Nationaltorhüters. "Was damals geschah, hatte ich so nicht gewollt", hat Schumacher einmal gesagt, doch rückgängig machen wollte er dieses Ereignis nationaler Tragweite auch nicht. Auch wenn er nie richtig verstanden hat, was damals genau mit ihm passiert ist. Aber Harald, den sie seit seinen Anfängen beim 1. FC Köln "Toni", nach seinem zweiten Vornamen Anton, riefen, hatte da so eine Vermutung: "Das Volk liebt den Verrat, aber es hasst den Verräter."
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Für den zweifachen Vize-Weltmeister war und ist stets das Thema "Wahrheit" der entscheidende Punkt beim Blick auf den "emotionalen Sinkflug" mit anschließender "Bruchlandung" gewesen. Seine Mutter, so Schumacher, habe ihm mit auf den Weg gegeben, "immer ehrlich zu sein" und nun wurde er für die "Wahrheit bestraft": "Ich wollte nicht schönfärben, ich wollte das Bild so malen, wie ich es sah. Fette Ölfarben statt Aquarell." Und dieses Bild war tatsächlich schonungslos offen und ehrlich gemalt. Doch das hätte eigentlich niemanden wirklich überraschen dürfen.
Denn schon im Oktober 1983 hatte Schumacher dem "fußball-magazin" ein Interview gegeben, das die Monatszeitschrift in dicken Lettern auf dem Cover wie folgt ankündigte: "Unser Nationaltorwart macht reinen Tisch. Toni Schumacher: 'Jetzt packe ich aus!' Ein offenherziges Interview des Kölners über Missstimmungen und Missverständnisse." Am Anfang des Gesprächs habe der Keeper, so das Magazin, noch eine Sonnenbrille getragen, am Ende hätte er schließlich mit offenem Visier agiert. Typisch für Schumacher - und das sollte sich dann im März 1987 rächen. Ab da lief vieles, wenn nicht sogar alles anders im Leben des Nationalkeepers.
Weisweiler war früh entnervt
Doch die Karriere des Toni Schumacher hatte auch zuvor bereits einige wundersame Wendepunkte erlebt. Denn eigentlich war sein sportliches Schicksal schon Mitte der siebziger Jahre besiegelt. Fünf lange Spielzeiten hatte man sich in Köln seine schwankenden Leistungen ratlos angeschaut und still und leise gehofft, es würde irgendwann der große Durchbruch kommen. Doch nichts geschah. Schließlich kam der Tag, an dem sein Trainer Hennes Weisweiler entnervt aufgab und endgültig entschied: "Den Schumacher verschenk ich jetzt. Ich will ihn nicht mehr sehen!"
Schumacher sackte in sich zusammen. Sein Traum von der großen Torhüter-Karriere schien ausgeträumt, noch ehe sie richtig begonnen hatte: "Ich lag im Bett und sagte mir dauernd: Mein Gott, keiner nimmt dich mehr." Innerlich aufgewühlt erinnerte er sich zurück an die Zeit, als ihn seine Eltern bei den ersten Torwart-Einheiten mit Kissen und Sofa im heimischen Wohnzimmer liebevoll ermunterten: "Liebchen, mach mal den Herkenrath." Der war in den fünfziger Jahren Deutscher Meister und Pokalsieger geworden und diese Triumphe sollte das kleine "Liebchen" Harald nach dem Willen der Eltern auch einmal erringen.
Ein Mittagessen veränderte alles
Den erfolgshungrigen, vor Energie und Selbstvertrauen strotzenden Keeper der achtziger Jahre gab es damals noch nicht. Fast fahrlässig war Schumacher all die Jahre mit seinem Talent umgegangen. Doch das Schicksal meinte es gut mit dem kölschen "Tünn". Da sich in Berlin kurz vor Ende der Spielzeit der für die neue Saison auserkorene Torwart Norbert Nigbur beim Mittagessen (!) den Meniskus einklemmte und Schumacher plötzlich groß aufspielte, besann sich Weisweiler überraschend eines Besseren und klopfte dem Kölner Torhüter anerkennend auf die Schulter: "Jung', du bleibst, du bist jetzt mein Mann!"
Wenn Schumacher sich an diese Zeit erinnert, wird ihm immer noch bewusst: "Bis dahin war ich eine Wurst!" Von nun an aber rackerte der Kölner Keeper wie ein Wilder. Sein Motto lautete: "Schmerz ist Einbildung!" Zum Beweis ließ er sich auch schon einmal von seiner Frau eine brennende Zigarette auf dem Unterarm ausdrücken. Natürlich ohne das Gesicht dabei vor Schmerzen zu verziehen.
Schumacher trainierte wie ein Besessener. Unten im Keller hing ein Boxsack von der Decke, auf den er so lange einhaute, bis die Hände blutig waren. Hatte er einen Fehler - wie beispielsweise im WM-Finale 1986 in Mexiko - gemacht, dann klebte er sein eigenes Konterfei an den Sandsack und prügelte unerbittlich auf sich ein. Denn einer Sache war sich der große Toni Schumacher immer bewusst: "Irgendwann gebe ich mal den Löffel ab und hab nur eines gekonnt: Bälle fangen!"
"Mich hätte es auch erwischen können"
Das stimmt so natürlich nicht. Toni Schumacher ist und war ein echter Typ - auf und abseits des Platzes. So verwundert es auch nicht, dass der Medienmanager Hans Rudolf Beierlein Ende der achtziger Jahre sehr genau wusste, wie er den Fußball zu einem Event machen konnte und wer sich dafür als Zugpferd am besten eignete: "Jeder Sport kann die Menschen faszinieren, wenn es gelingt, Stars aufzubauen. Sehen Sie sich doch einmal Toni Schumacher an! Der ist doch eine Figur, die regelrecht nach Entertainment schreit. Das ist nicht nur ein schlagfertiger Junge. Der hat auch Humor - und er ist ein Frauentyp. An den müsste einfach einer rangehen und etwas draus machen; nach dem Motto: Fußball ist Entertainment."
Toni selbst hat die Sache mit dem "Frauentyp" 1993 bei Karl Dall in seiner Sat.1-Sendung "Jux und Dallerei" übrigens ein wenig korrigiert: "Mädels fielen mir erst auf, als ich schon 18 Jahre alt war. Vorher hielt ich immer nur Bälle für die einzig runden Sachen!" Und recht bald danach war er auch schon fest vergeben, wiewohl er die Pirsch noch nicht ganz aufgegeben zu haben schien: "Geheiratet habe ich eine Frau mit kurzen blonden Haaren, obwohl mein Typ immer die Frau mit langem dunklem Haar war. Es kommt ganz drauf an, eine Bo Derek würde ich zum Beispiel nie verachten …" Der Mann kann und konnte einfach nicht aus seiner Haut - selbst bei solch intimen wie privaten Fragen nach seinem Frauentyp antwortete er völlig ohne Scheuklappen.
Genau diese Offenherzigkeit wurde ihm noch lange nach dem anderen unvergesslichen Ereignis seiner Karriere angekreidet - dem Halbfinale der WM 1982 in Spanien. Damals nach diesem 8. Juli meinte Frankreichs Mannschaftsarzt, dass er gedacht habe, sein Spieler Patrick Battiston wäre tot: "Ich habe zwei Minuten lang keinen Puls gefühlt!". Bewusstlos lag der Franzose damals ausgestreckt und regungslos auf dem Boden. Kurz zuvor war Schumacher aus seinem Tor gestürzt und hatte wenige Meter vor der Strafraumlinie Battiston umgerannt. Ohne abzubremsen und ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Zusammenprall, bei dem man schon beim Zuschauen lieber sofort wieder wegblicken möchte. Schumacher sagte mit ein wenig Abstand am nächsten Tag immer noch sehr kühl und distanziert: "Das ist das harte Profigeschäft mit allen Risiken. Mich hätte es auch erwischen können."
Als der Keeper an Guy Béart dachte
Genau diese scheinbare Kaltblütigkeit war es auch, die viele Beobachter am Abend zuvor beim Halbfinalspiel zwischen Deutschland und Frankreich bei der WM 1982 in Spanien erschreckte und fassungslos zurückließ. Ein anderes Zitat des deutschen Keepers von diesem Abend ist mittlerweile eine Legende: "Dann zahl' ich ihm eben seine Jacketkronen." Später hat Schumacher einmal gemeint, dass er damit habe ausdrücken wollen, wie erleichtert er darüber gewesen wäre, dass nicht mehr passiert sei und ihm deshalb dieser lockere Spruch über die Lippen gekommen sei.
Doch zurück ins Jahr 1987. Autor Michel Meyer, mit dem Schumacher damals das Buch verfasste, zeigte sich damals resigniert angesichts der verlogenen Reaktionen vonseiten der Presse, der Öffentlichkeit und der Fußballgemeinschaft: "Ich bin verblüfft über die heuchlerische Haltung des DFB. Ich denke seit einigen Tagen an ein Chanson von Guy Béart, wo der Refrain beginnt: 'Er hat die Wahrheit, drum müssen wir ihn hinrichten.'" Ein wichtiger Satz, wenn man die Reaktionen und den Empörungsgrad und Schumachers nachträgliche Gedanken über diese rastlose Zeit verstehen möchte.
Neben der Doping-Thematik waren es damals vor allem die vielen kleinen Spitzen gegen Berufskollegen, die für Aufregung sorgten. Über den Schalker Nationalmannschaftskollegen Olaf Thon schrieb der Kölner beispielsweise: "Viele junge Spieler sind faule Säcke. Und ein paar sind dazu noch sträflich dumm. Olaf Thon ist ein Paradebeispiel." Auch in seiner Heimatstadt Düren war Schumacher nach der Veröffentlichung nicht mehr erwünscht. Weil er in seinem Buch ehemalige Nachbarn als "Asoziale", Väter als "Alkoholiker" und Mütter als "Mischung aus Schlampe und Kneifzange" tituliert hatte, lud ihn der Sportausschuss von einer Feierlichkeit wieder aus.
Schumacher würde nichts anders machen
Der Rest ist Geschichte. Die Reaktionen auch. Bayern-Keeper Jean-Marie Pfaff stellte ohne Umschweife fest: "Ich sage es ungern, aber für mich ist Schumacher ein Verräter. Große Spieler müssen Vorbilder sein. Toni soll in den Spiegel gucken und vor sich selber ausspucken." Und Sepp Maier ergänzte: "Es kann nur so sein, dass Schumacher nach der Weltmeisterschaft in Mexiko, bei der er ja unbestritten gut gehalten hat, dachte, er sei allmächtig und niemand könne ihm was anhaben. Ich habe sechs Bücher geschrieben, aber ein solches Buch würde ich noch heute nicht schreiben. So etwas gehört sich nicht." Doch für Schumacher ist es auch über dreißig Jahre später immer noch wichtig zu betonen: "Ich bekam keine einzige einstweilige Verfügung, keine Verleumdungsklage. Weil alles, was ich in meinem Buch geschrieben habe, stimmte."
Bis heute ist das Schumacher-Buch und der Skandal um sein Werk eine der ganz großen Legenden des deutschen Fußballs. Niemals zuvor und danach hat ein Buch eines deutschen Fußballers für so viel Aufsehen und Aufregung gesorgt. Und bis heute kann Harald "Toni" Schumacher nicht verstehen, was damals mit ihm passierte: "Nicht die Missstände wurden beseitigt, sondern derjenige, der sie offen angesprochen hat."
Heute feiert der Mann, der in seiner Karriere mindestens so viele Geschichten schrieb, wie er Titel holte - Europameister, Deutscher Meister, mehrfacher DFB-Pokalsieger, türkischer Meister - seinen 70. Geburtstag und kehrt rechtzeitig dafür zurück auf die große Bühne. Im Theaterstück "Die Nacht von Sevilla - Fußballdrama in fünf Akten" spielt Schumacher sich selbst. Mit seiner Karriere und den Ereignissen von damals ist der ehemalige deutsche Nationaltorhüter mittlerweile im Reinen. Und so kann er guten Gewissens sagen: "Fußball ist auch gewisses Theater. Aber ich bin froh, dass ich jetzt beim richtigen Theater mitmachen darf." Dabei viel Vergnügen, lieber Harald "Toni" Schumacher, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und Glück auf!
Quelle: ntv.de