Das historische Erbe von Biden "Die USA haben ein kulturell verankertes Effizienzproblem"
31.10.2024, 19:10 Uhr Artikel anhören
Klimaschutz bedeutet für Joe Biden: Jobs, Jobs, Jobs.
(Foto: picture alliance / Sipa USA)
Am kommenden Dienstag entscheiden die US-Amerikaner, wer als Nächstes ins Weiße Haus einzieht: Kamala Harris oder Donald Trump. Auf Sieger oder Siegerin wartet ein schweres Erbe: "Es gibt keine Lösung, wie man von Öl und Gas wegkommt", sagt Sonja Thielges von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im "Klima-Labor" von ntv. "Der Energieverbrauch wird als Teil der amerikanischen Freiheit empfunden." Dennoch ist die Expertin für internationale Klimapolitik voll des Lobes für die Arbeit von US-Präsident Joe Biden: Unter seiner Ägide haben die USA erstmals Gesetze für den Klimaschutz verabschiedet, manche überparteilich, potenziell werden mehr als eine Billion US-Dollar in E-Autos, Batterien und erneuerbare Energien investiert - auch oder gerade in streng republikanischen Bundesstaaten wie Texas: "Der Bau von Solarparks kann inzwischen ein sehr attraktives Geschäft sein."
ntv.de: Sind die USA nach fast vier Jahren mit Joe Biden im Weißen Haus ein Verbündeter oder ein Gegner im Kampf gegen den Klimawandel?
Sonja Thielges: Stand heute sind Sie auf jeden Fall ein Verbündeter. Die Biden-Administration war sehr aktiv und auf Linie mit EU und der deutschen Politik.
Ist Joe Biden mit seinem berühmten Inflation Reduction Act (IRA) der Klimakanzler, der Olaf Scholz eigentlich sein wollte?
Biden ist angetreten mit dem Anspruch, den Klimaschutz in den USA voranzutreiben. Das hat er getan und mit wirtschaftspolitischen Themen verknüpft. Klimaschutz bedeutet für ihn: Jobs, Jobs, Jobs. Dieser Agenda ist er gefolgt, hat sich hohe Ziele gesteckt und erreicht. Er hat es tatsächlich geschafft, Gesetze für den Klimaschutz zu verabschieden. Das ist vor ihm niemandem gelungen. Das ist historisch. Manche davon sogar überparteilich. Die Republikanische Partei hat diesen Gesetzen vielleicht aus anderen Gründen zugestimmt, aber sie hat zugestimmt.
Welche Gesetze waren das?
Es gibt drei große: ein Infrastrukturgesetz, den Chips and Science Act, bei dem es um die Förderung der Halbleiterfertigung geht, die auch für Technologien aus dem Bereich Erneuerbare Energien relevant sind. Und natürlich der Inflation Reduction Act. Der wird in Europa und Deutschland zurecht als das Klimaschutzgesetz der USA wahrgenommen, weil er anteilig die größten Ausgaben für die Transformation der USA vorsieht. Darüber hat die US-Regierung mindestens 370 Milliarden US-Dollar an Investitionen eingeplant. Das sind noch nie gesehene Summen. Inzwischen schätzt man sogar, dass es letztlich die dreifache Summe werden könnte, denn der IRA enthält große, nicht gedeckelte Steuererleichterungen. Je mehr Menschen E-Autos kaufen oder erneuerbare Energien nutzen, desto mehr Geld stellt der IRA bereit. Das ist auf jeden Fall ein großer Erfolg.

Dr. Sonja Thielges ist Politikwissenschaftlerin und Geoökonomin. Sie berät unter anderem Bundesregierung und Bundestag in außenpolitischen Fragen mit Fokus auf Klima-, Energie- und Industriepolitik.
(Foto: Stiftung Wissenschaft und Politik, Viviane Wild)
Und das Gegenteil von Deutschland? Hier hat die Ampel in den vergangenen Jahren aufgrund der Haushaltskrise die Förderung grüner Technologien gekürzt, wo sie konnte.
Ich vergleiche das ungern, weil das politische System in den USA ein ganz anderes ist. Joe Biden muss nicht mehrere Parteien und Ministerien unter einen Hut bringen, sondern kann als Präsident einfach Dinge anordnen. Er hat einfach als Klimaziel festgelegt, dass die USA ihre Emissionen bis 2030 unter das Niveau von 2005 halbieren und das Stromsystem bis 2035 dekarbonisieren. Dafür braucht er die Parteien nicht. Anders als Deutschland sind die USA auch technologieoffen. Biden ist offen dafür, CSS, also das Abscheiden und Speichern von CO2, sowohl für die Industrie als auch für Gaskraftwerke einzusetzen. Er ist auch offen dafür, dass Wasserstoff aus erneuerbaren Energien und aus Erdgas hergestellt werden darf. Die USA sind in diesem Bereich traditionell sehr pragmatisch.
Diese Investitionen sind ein großer Schritt, bedeuten umgekehrt aber auch: Bisher haben die USA keine einzige Tonne CO2 eingespart.
Nein. Die USA investieren viel Geld in Technologien, die für den Klimaschutz relevant sind. Gleichzeitig sind sie unter Joe Biden der größte Öl- und Gasproduzent der Welt geblieben. Es ist extrem wichtig, sich das vor Augen zu führen. Egal, wer Präsident oder Präsidentin wird, das ist ein schweres Erbe. Es gibt keine Lösung, wie man davon wegkommt.
In Deutschland werden regelmäßig neue Rekorde bei der Stromerzeugung durch Erneuerbare gemeldet. Im ersten Halbjahr lag der Anteil bei mehr als 60 Prozent. Teilweise wird so viel grüner Strom erzeugt, wir wissen nicht, wohin damit. Wie sieht der amerikanische Strommix derzeit aus?
In den USA liegt der Anteil der Erneuerbaren nur bei gut 20 Prozent. Allerdings haben sie auch keinen Atomausstieg vollzogen. Rechnet man die Kernkraft dazu, sind es weitere 20 Prozent. Aber die eigentliche "Erfolgsgeschichte" war in den vergangenen Jahren Erdgas. Damit laufen viele neu gebaute Kraftwerke, die Kohleverstromung ist stark gesunken.
Die USA fördern und verstromen so viel Erdgas wie nie und wollen gleichzeitig bis 2030 ihre Emissionen halbieren … wie soll das gehen?
Die gesteigerte Öl- und Gasproduktion kommt vor allem dem Ausland zugute. Europa ist inzwischen der größte Empfänger von amerikanischem Flüssiggas. Das war früher anders. Das ist eine Entwicklung der letzten zwei Jahre, weil wir russisches Gas ersetzen möchten. Und wenn wir amerikanisches Erdgas verbrennen, zählt das nicht in die amerikanische Klimabilanz rein. Bei den neuen Gaskraftwerken setzen die USA außerdem auf eine Option, die in Deutschland nicht sehr beliebt ist: Die Biden-Administration hat festgelegt, dass die Emissionen ab 2032 am Kraftwerk abgeschieden und permanent im Untergrund gespeichert werden müssen.
Das berühmte Carbon Capture and Storage (CCS).
Genau. Das wird in Deutschland nur für die Industrie diskutiert, weil sich die Emissionen dort aus verschiedenen Gründen nicht vermeiden lassen. In den USA gibt es diese Debatte gar nicht. Dort will man CCS auch für Gaskraftwerke einsetzen, um diese länger nutzen zu können.
2032 ist schon bald. Kann die Branche Erfolge vermelden?
Nein, CCS steckt überall auf der Welt in den Kinderschuhen. Es gibt vereinzelte Projekte, wo diese Technologie getestet wurde. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist fraglich, ob man CCS bis 2032 überhaupt so hochfahren könnte, dass es einen nennenswerten Beitrag zu den Klimazielen leisten kann. Das ist Zukunftsmusik, aber es wird Geld in Forschung und Entwicklung gesteckt. Man kann davon ausgehen, dass CCS in den USA und international zur Anwendung kommen wird.
Das klingt nach Planung mit einer rosaroten Brille.
Zu einem gewissen Grad schon. Die USA haben keinen CO2-Preis und keinen CO2-Handel, der die Emissionen reguliert. Es gibt auch keine Ziele, welche Sektoren wie viel einsparen müssen. Das wurde nirgends festgelegt. Die Biden-Administration versucht einfach, so viele Anreize wie möglich zu setzen und berechnet grob, dass man diese Emissionsminderung schaffen könnte, wenn Technologien wie CCS erfolgreich von Investoren und Konsumentinnen und Konsumenten angenommen werden. Pi mal Daumen könnte es hinhauen. Aber man darf nicht vergessen: Die Vorgaben von Biden beruhen nicht auf Gesetzen, sondern auf Anordnungen. Die sind nicht in Stein gemeißelt, sondern können wieder rückgängig gemacht werden.
Wo sehen sie denn noch Potenziale? Die USA haben mit 14,2 Tonnen pro Kopf einen extrem hohen CO2-Ausstoß. Nur in Australien (14,3), Kanada (14,9) und Saudi-Arabien (16,6) ist er höher. In der EU liegt er bei 6,3 Tonnen.
Die USA haben, wenn ich das so nennen darf, ein kulturell verankertes Effizienzproblem. Der Energieverbrauch wird als Teil der amerikanischen Freiheit empfunden. Donald Trump ist etwa ein Energieeffizienzprogramm für Haushaltsgeräte ein Dorn im Auge. Er möchte das Label für sparsame Waschmaschinen und Kühlschränke abschaffen, weil jeder so viel Energie verbrauchen sollte, wie man eben möchte - und zwar zu einem möglichst günstigen Preis. Das gehört für ihn zum Konzept der amerikanischen Freiheit, viele Amerikaner stehen dahinter.
Mit dem Argument, dass man mit effizienteren Kühlschränken Geld sparen kann, kommt man also nicht voran?
Dieser Versuch wird unternommen, aber das ist schwieriger, wenn die Energiepreise so niedrig sind. Das betrifft nicht nur Strom, sondern auch Benzin. Der Anreiz, auf ein effizientes Modell umzusteigen, steigt, wenn man Euro und nicht nur wenige Cent spart. Zumal man in der Regel erst einmal investieren muss, um später sparen zu können. Tatsächlich fördern viele US-Bundesstaaten die Installation von Solaranlagen auf dem Dach. Aber gerade für ärmere Haushalte, für Arbeitslose oder Menschen, die anderweitig benachteiligt sind, ist das extrem viel Geld. Dann ist es attraktiver, einfach den günstigen Strom aus Kohle oder Gas zu beziehen.
Und dennoch macht der globale Trend beim Ausbau der erneuerbaren Energien auch vor den USA nicht halt. Erstaunlicherweise ist es ausgerechnet der Öl- und Gasbundesstaat Texas, der enorm viele Erneuerbare baut.
Texas ist faszinierend. Das ist nicht nur der größte Öl- und Gasproduzent der USA. Auch beim Zubau der Solarkapazitäten hat man inzwischen Kalifornien überholt. Der Anteil der Erneuerbaren am Strommix liegt bei 27 Prozent. Das ist hoch im Vergleich mit anderen Staaten. Aber selbst wenn Texas seinen Strommix auf 100 Prozent erneuerbare Energien umstellen würde, würde man weiter Öl und Gas fördern, denn das wird im Zweifelsfall in anderen Sektoren oder Ländern konsumiert.
Können Sie trotzdem einmal den "Business Case" für diese Entwicklung erklären? Die Zahlen sind beeindruckend, aber der Solarausbau hat offensichtlich nichts mit Umwelt- oder Klimaschutz zu tun.
Die Regierung in Texas hat kein Interesse am Klimaschutz. Trotzdem war Texas der erste US-Staat, der in den 90er-Jahren Vorgaben für erneuerbare Energien im Stromsystem gemacht hat und zwar aus einem einfachen Grund: Das war, bevor Fracking funktionierte. Man wollte sich vom Öl aus den Golfstaaten und anderen Opec-Ländern unabhängiger machen. Also hat Texas erneuerbare Energien gefördert. Diese Förderung ist später ausgelaufen …
... aber der "Schaden" war bereits angerichtet?
Ja. Das sind Marktentwicklungen. Die Kosten für Solarpanels sind extrem gesunken. In sonnenreichen Orten wie Texas kann der Bau von Solarparks inzwischen ein sehr attraktives Geschäft sein, von dem Investorinnen und Investoren profitieren können.
Mit Sonja Thielges sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Funktioniert Klimaschutz auch ohne Job-Abbau und wütende Bevölkerung? Das "Klima-Labor" ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen der unterschiedlichsten Akteure auf Herz und Nieren prüfen.
Ist Deutschland ein Strombettler? Rechnen wir uns die Energiewende schön? Vernichten erneuerbare Energien Arbeitsplätze oder schaffen sie welche? Warum wählen Städte wie Gartz die AfD - und gleichzeitig einen jungen Windkraft-Bürgermeister?
Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
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Quelle: ntv.de