Deutschland droht Solarinfarkt "An sonnigen Tagen ist so viel Strom in der Leitung, wir wissen nicht, wohin damit"
19.09.2024, 14:45 Uhr Artikel anhören
Auch der Boom der Balkonkraftwerke ist Teil des Problems.
(Foto: picture alliance / Winfried Rothermel)
Deutschland erlebt einen Solarboom. Der wird allerdings speziell in süddeutschen Regionen mit vielen privaten Anlagen auf Dächern und an Balkonen immer häufiger zum Problem. "An sonnigen Feiertagen stoßen unsere Netze schon heute an die Grenzen", sagt Maik Render, Vorstandssprecher des Nürnberger Energieversorgers N-Ergie. "Irgendwann fliegt die Sicherung raus." Um den Solarinfarkt zu verhindern, gibt es ihm zufolge zwei Möglichkeiten: "Vielleicht müssen wir sagen, dass wir PV nicht mehr dort bauen, wo schon ganz viel ist", sagt er im "Klima-Labor" von ntv. Der N-Ergie-Chef kann sich allerdings auch Vorgaben für den Betrieb privater Solaranlagen vorstellen, etwa: Überschüssiger Strom darf nur zu bestimmten Zeiten ins Netz einspeist werden. "Man kann nicht immer nur fördern, sondern muss auch mal fordern", meint Render. "Als kommunales Unternehmen sagen wir: Diese Verknüpfung fehlt viel zu oft."
ntv.de: Haben Sie Angst vor dem Solarboom?
Maik Render: Man muss differenzieren, um welche Solaranlagen es geht: die großen, die neben den Autobahnen zu sehen sind oder die kleinen auf den Dächern einzelner Häuser. Der Gesetzgeber gibt vor, dass wir die großen Anlagen neben den Autobahnen ausschalten können, wenn zu viel Sonne scheint und zu viel Sonnenstrom vorhanden ist. Bei den Anlagen auf den Dächern können wir das nicht.

"Die Verteilung der Lasten wird die Kernfrage des Energieumbaus, davon bin ich fest überzeugt", sagt Maik Render.
(Foto: SIMOarts.com, Simone Kessler)
Die verursachen den Solarinfarkt?
Das ist kein deutschlandweites Phänomen, sondern ein regionales. Nehmen Sie eine Region mit vielen Häusern, alle haben eine PV-Anlage. Ostersonntag scheint die Sonne, alle sind außer Haus, niemand verbraucht Strom - es wird aber neuer erzeugt. Dann kann es passieren, dass mehr Strom produziert als verbraucht wird. Irgendwann können unsere Netze diesen Strom nicht mehr aufnehmen.
Warum sind Feiertage das große Problem? Weil nicht gearbeitet wird?
Genau. Die Industrie steht still. Wenn die Sonne scheint, sind wir draußen unterwegs und benötigen weniger Strom. An solchen Tagen ist so viel Strom in der Leitung und wir wissen einfach nicht, wohin damit.
Ist das eine Prognose oder passiert das schon?
An sonnigen Feiertagen stoßen unsere Netze schon heute an die Grenzen. Viel Luft nach oben ist nicht mehr im System. Also müssen wir jetzt technische Maßnahmen ergreifen, denn je mehr nicht steuerfähige Anlagen gebaut werden, umso schwieriger wird es.
Und dann kommt es zu Stromausfällen?
Ein Stromkreislauf lebt davon, dass genauso viel eingespeist wie ausgespeist wird. Das kennt man aus der Schule. Wenn ich aber zu viel Strom in den Kreislauf drücke, fliegt die Sicherung raus. Denken Sie an eine Kabeltrommel: Wenn Sie damit über längere Zeit Strom verbrauchen, mit dem Föhn zum Beispiel, und die Trommel aufgewickelt lassen, wird das Kabel irgendwann so heiß, dass wegen Überhitzung der Thermoschutzschalter auslöst. Das ist ein kleiner, roter Knopf an der Trommel. Nichts anderes passiert bei den Solaranlagen: Wenn im Netz keine Kapazität mehr vorhanden ist, werden die Leitungen zu warm und es fliegen Sicherungen raus. Das ist kein Blackout, wie gerne kolportiert wird, aber erst mal ist kein Strom mehr da.
Wird dieses Problem durch den Boom bei Balkonkraftwerken verstärkt?
Ja. Bei der Elektrizität stehen Verbrauch und Produktion immer im Einklang. Aber im neuen System wird der Strom tagsüber produziert und erst abends verbraucht, wenn das Licht angeht. Dafür ist das Stromnetz nicht bereit. Wir sollten zusehen, dass wir Speicher aufbauen und nicht einfach nur nicht steuerfähige Anlagen ins System drücken.
Der private Solarboom ist aber generell sinnvoll, oder würden Sie widersprechen?
Nein. Als N-Ergie glauben wir an die Energiewende. Aber heute läuft ein normales Kraftwerk etwa 6000 Stunden im Jahr, die Sonne scheint etwa 1000 Stunden. Um unseren Kraftwerkspark zu ersetzen, brauchen wir also einen sechsmal so großen solaren Park. Was wir bis jetzt gebaut haben, reicht lange nicht aus, um fossilfrei zu werden. Man muss aber beim Zubau aufpassen. Früher standen die Kraftwerke neben den Städten, die Solaranlagen sind in der Fläche verteilt. Bauen wir zu viele in einzelne Regionen, benötigen wir dort die entsprechenden Netze. Gibt es die nicht, fliegen die Sicherungen raus. Deswegen müssen wir Speicher und Netze bauen und vielleicht auch sagen: PV bauen wir nicht mehr dort, wo schon ganz viel ist.
Man sollte die Förderung so ausrichten, dass sie Regionen begünstigt, wo es wenig PV gibt und dort, wo schon viel ist, wird stattdessen der Netzausbau gefördert?
Zum Beispiel, aber in Bayern ist das ein flächendeckendes Problem. Man kann nicht sagen, bei Würzburg oder Kitzingen wird mehr Solarausbau benötigt, bei Sulzbach-Rosenberg weniger.
Sollten sich private Haushalte, die sich bereits eine Solaranlage zugelegt haben, nach einem Speicher umschauen?
PV-Anlage und Speicher werden meistens bereits zusammen installiert. Aber die Batterie arbeitet leider nicht netzdienlich, sondern hilft nur dem Haus, denn: morgens um 8 Uhr geht die Sonne auf. Der Stromverbrauch ist erst einmal gering, weil man zur Arbeit und die Kinder zur Schule gehen. Wenn die Sonnenstrahlung um 11 Uhr am stärksten ist, ist die Batterie bereits voll. Für das Netz wäre es besser, wenn sie nichts morgens, sondern erst ab 11 Uhr geladen und abends entladen wird. Daran hat der Hausbesitzer aber kein Interesse. Der will abgesichert sein, falls um 12 Uhr ein Wolkenfeld aufzieht. Das ist das Problem: Technisch könnten lokale Speicher dem Netz in wichtigen Stunden helfen, aber für die Besitzer gibt es derzeit keinen Anlass.
Und solange die Energiespeicher nicht netzdienlich arbeiten, wünschen Sie sich, dass Sie Balkonkraftwerke und Solaranlagen auf den Dächern der Region in Notfällen von Nürnberg aus ausknipsen können?
Rein rechtlich dürfen wir das in bestimmten Fällen bereits. Das betrifft etwa mittelgroße Anlagen auf Bauernhöfen. Aber wir als Energieversorger möchten natürlich immer lieber Strom einspeisen als Anlagen ausschalten. Insofern möchten wir eher regulieren, dass die vorhandenen Speicher nicht nur dem Haushalt dienen, sondern den Netzen. Dafür braucht es aber einen finanziellen Anreiz, denn derzeit lohnt sich das netzdienliche Verhalten für Hausbesitzer nicht. Diese profitieren am meisten, wenn sie die Batterie möglichst günstig aufladen und den Strom später selbst verbrauchen.
Wie könnte diese Regulierung aussehen? Denn viele Hausbesitzer besorgen sich Solaranlage und Speicher genau deshalb: Sie möchten autark sein. So wird es verkauft und beworben.
Man könnte den Speicherausbau mit den Netzentgelten verrechnen. Als Energieversorger können wir Speicher aufbauen, die in den sonnenreichsten Stunden Strom aufnehmen. Die werden uns bisher nicht bezahlt, auch wenn wir damit dunkle Stadtteile verhindern oder dass Strom weggeworfen wird. Oder man erkennt, dass man nicht immer nur fördern kann, sondern auch mal fordern muss und wählt Auflagen: Ihr könnt gerne autark sein, zwischen 11 und 15 Uhr dürfen eure Speicher aber keinen Strom einspeisen, sondern müssen ihn netzdienlich aufnehmen.
Das ist politisch aber eine heikle Debatte. Die Leute haben sich eine PV-Anlage gekauft, die Energiewende unterstützt und plötzlich wird ihnen erklärt, wie sie diese zu benutzen haben?
Wir diskutieren bei der Energiewende leider zu oft über technische Fragen. In diesem Fall ist es eine finanzielle: Wer bezahlt wann wo was? Die meisten Deutschen können sich keine Solaranlage kaufen, weil sie gar kein Eigenheim besitzen. Das ist - das sage ich bewusst - reichen Eigenheimbesitzern vorbehalten. Die erhalten eine Förderung und senken damit seit 20 Jahren ihre Stromkosten. Warum kann ich denen nicht die Pflicht auferlegen, das Gesamtsystem zu stützen? In Nürnberg gibt es einen Stadtteil namens Langwasser, in dem überspitzt gesagt 20.000 Menschen in zehn Häusern leben. Von denen hat niemand die Möglichkeit, von der Förderung zu profitieren. Privat würde ich das auch nicht schön finden, aber als kommunales Unternehmen sagen wir: Diese Verknüpfung von Fördern und Fordern fehlt viel zu oft.
Tatsächlich? Die Lasten werden derzeit ungerecht verteilt?
Die Verteilung der Lasten wird die Kernfrage des Energieumbaus, davon bin ich fest überzeugt. Es besteht ein gesellschaftlicher Konsens, dass wir kein Öl und Gas mehr verbrennen wollen. Aber es wird schwierig, wenn wir Eigenheimbesitzer fördern, Mieter aber nicht. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung kann nicht an diesem System partizipieren. So entsteht gesellschaftlicher Sprengstoff. Das sorgt für Unzufriedenheit. Diese unbequemen Wahrheiten muss man aussprechen.
Mit Maik Render sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
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Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
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Quelle: ntv.de