Studie untersucht Wahrnehmung Können wir Stille hören?
11.07.2023, 18:02 Uhr Artikel anhören
Stille ist hörbar, wie eine Studie herausfindet.
(Foto: picture alliance / CHROMORANGE)
Bei einem meist lärmenden Alltag sehnen sich viele Menschen ab und zu nach Stille. Den Ohren mal eine Pause gönnen. Untersuchungen eines Forschungsteams legen jedoch nahe, dass unser Hörsinn bei Stille nicht einfach nur eine Auszeit nimmt - und Stille mehr ist als nur die Abwesenheit von Geräuschen.
Der Presslufthammer vor dem Fenster, der Rasenmäher des Nachbarn oder das Klingeln des Handys: Der Alltag der meisten Menschen ist von Geräuschen geprägt. Die Sehnsucht nach Stille, nach einer Auszeit für die Ohren, ist daher bei vielen groß. Doch was, wenn diese Stille mehr ist als die Abwesenheit von Geräuschen - und wir sie sogar hören können? Dieser Frage ist in Team aus Philosophen und Psychologen der Johns Hopkins University nachgegangen, mit einem erstaunlichen Ergebnis.
"Wir denken typischerweise, dass unser Hörsinn etwas ist, das sich mit Geräuschen befasst. Aber Stille, was auch immer sie ist, ist kein Geräusch - es ist die Abwesenheit von Geräuschen", sagt Studienautor Rui Zhe Goh, Doktorand der Philosophie und Psychologie an der Johns Hopkins University einer Mitteilung zufolge. "Überraschenderweise deutet unsere Arbeit darauf hin, dass das 'Nichts' auch etwas ist, das man hören kann."
Mithilfe auditiver Täuschungen haben die Forschenden untersucht, wie Momente der Stille die Zeitwahrnehmung von Menschen verzerren können. Sie ließen dafür 1000 Probanden zunächst Geräusche hören, dann Stille. Ähnlich wie bei optischen Täuschungen, die das Gesehene verfälschen, können auch akustische Täuschungen dazu führen, dass Menschen Zeitabschnitte als länger oder kürzer wahrnehmen, als sie tatsächlich sind, heißt es in der Studie.
So erscheint ein andauernder Piepton länger als zwei kurze aufeinander folgende Pieptöne - selbst wenn die beiden Sequenzen gleich lang sind. Ersetzten die Forschenden den Piepton mit Stille, schien ein äquivalenter Zeitraum der Stille ebenfalls länger zu sein, als er tatsächlich war. Andere Stille-Täuschungen führten zu denselben Ergebnissen wie Täuschungen mit Geräuschen, etwa mit Geräuschkulissen von Restaurants, Märkten oder Bahnhöfen.
Wenn "Nichts" doch "Etwas" ist
"Die Tatsache, dass die auf Stille basierenden Illusionen genau die gleichen Ergebnisse wie ihre auf Geräuschen basierenden Gegenstücke erzeugten, deutet darauf hin, dass Menschen Stille genauso hören, wie sie Geräusche hören", schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
"Philosophen haben lange darüber debattiert, ob wir Stille buchstäblich wahrnehmen können, aber es gab bisher keine wissenschaftliche Studie, die sich direkt mit dieser Frage befasst", sagte Chaz Firestone, Leiter des Johns Hopkins Perception & Mind Laboratory, laut Mitteilung. "Unser Ansatz bestand darin, zu fragen, ob unser Gehirn Stille so behandelt, wie es Geräusche behandelt. Wenn man mit Stille die gleichen Illusionen erzeugen kann wie mit Geräuschen, dann könnte das ein Beweis dafür sein, dass wir tatsächlich Stille hören."
Ihre Ergebnisse, die in der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" veröffentlicht wurden, könnten der Forschungsgruppe zufolge die Art und Weise, wie wir über die menschliche Wahrnehmung denken, neu definieren. Das Team will weiter die Wahrnehmung von Abwesenheit erforschen und untersuchen, ob Menschen auch Stille hören, der kein Ton vorausgeht. Dazu schreiben die Forschenden: "Es scheint, dass in der Welt der Wahrnehmung 'Nichts' tatsächlich 'Etwas' sein kann."
Quelle: ntv.de, hny