Die Jagd nach der Erinnerung Stoßwellen als Geheimrezept gegen Alzheimer?
24.09.2023, 09:50 Uhr Artikel anhören
Computergrafik des Neuronen-Netzwerks im Gehirn: Mediziner hoffen, mit Stoßwellen das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung beeinflussen zu können.
(Foto: picture alliance / Zoonar)
In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit der Diagnose Demenz, einer Erkrankung, die bis heute nicht heilbar ist. Doch die Forschung an neuen Therapien läuft auf Hochtouren: Eine Stoßwellentherapie soll den Verlauf von Alzheimer verlangsamen können.
Vor fünf Jahren zeigten sich bei Hans-Jürgen die ersten typischen Symptome. Er hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden und konnte sich nur noch schlecht orientieren. Der heute 82-Jährige erhielt die Diagnose: "Alzheimer-Krankheit".
Seine Partnerin Gabriele hörte durch Zufall von einer Stoßwellentherapie, die Demenz-Betroffenen helfen soll. Sie kam so in Kontakt mit der Uniklinik Bonn. Hier werden Alzheimer-Patienten und - Patientinnen mit der sogenannten Transkraniellen Pulsstimulation (TPS) behandelt, mit dem Ziel, die Erkrankung aufzuhalten. Bei Hans-Jürgen kam es nach Einsatz dieser Stoßwellentherapie sogar zu einer Verbesserung des Zustandes. Er fühle sich danach viel klarer im Kopf, berichtet er. Auch seine Partnerin sieht positive Veränderungen nach der Behandlung. Die Wortfindungsstörungen seien zwar noch da, aber deutlich weniger. "Und er liest auch wieder".
Mit Pulswellen Alzheimer aufhalten
Bei der Stoßwellentherapie wird der Kopf der Patienten zunächst genau vermessen. Danach werden Pulswellen durch die Schädeldecke geleitet. Sie stimulieren die von Alzheimer betroffenen Gehirnregionen in bis zu acht Zentimetern Tiefe. "Diese ultrakurzen Stoßwellen können den Knochen durchdringen und im Gehirn zum Beispiel zelluläre Veränderungen hervorrufen. Wir hoffen natürlich, dass damit Veränderungen der Alzheimer-Erkrankung positiv beeinflusst werden, und testen das sehr sorgfältig", erklärt Professor Ullrich Wüllner. Er ist Neurologe und Direktor der Klinik für neurodegenerative Erkrankungen am Universitätsklinikum Bonn.
Wüllner sieht Potenzial in der Pulswellen-Behandlung: "Wir beobachten tatsächlich bei etwa zwei Drittel unserer Patienten einen stabilen Verlauf über jetzt Monate. Das heißt, die geistige Leistungsfähigkeit, gemessen in neuropsychologischen Tests, wird nicht schlechter."
Große Studien fehlen noch
Wüllner hat bisher 50 Patienten und Patientinnen behandelt, es fehlen allerdings noch große Studien, die den positiven Effekt belegen. Die Therapie wird bei Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz angewendet und kann ambulant erfolgen. Sie muss alle sechs Wochen wiederholt werden, um eine Verschlechterung zu vermeiden. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Behandlung nicht, da eine Wirksamkeit bisher nicht wissenschaftlich belegt ist.
Alzheimer heilen kann auch die Stoßwellentherapie nicht, ein Aufhalten der Demenz wäre aber schon ein Fortschritt: "Wenn man sich die Dynamik der Alzheimer-Erkrankung anschaut, wäre es schon viel, wenn man den Betroffenen sagen könnte, wir können die Erkrankung auf einem bestimmten Niveau stabilisieren", so Wüllner.
Antikörper bremsen geistigen Abbau
Die meisten Forschungsinitiativen der Pharmaindustrie setzen auf Antikörper gegen die bei Alzheimer auftretenden Eiweißablagerungen, die die Funktion der Nervenzellen im Gehirn stören. Aussichtsreiche Kandidaten sind etwa Lecanemab oder Donanemab, die besonders im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit wirksam zu sein scheinen. Sie sollen die schädlichen Eiweiß-Ablagerungen im Gehirn beseitigen, die sich dort über einen jahrelangen Zeitraum bilden, und so den Verlauf von Alzheimer verlangsamen. Das bestätigte sich in aktuellen klinischen Studien: Es wurde ein großer Teil der Ablagerungen aus dem Gehirn entfernt und teilweise ließ sich das Fortschreiten der Erkrankung deutlich verlangsamen.
Der Antikörper Donanemab konnte bei weniger schwer Betroffenen den Abbau der kognitiven Fähigkeiten um etwa ein Drittel verlangsamen. Allerdings kam es bei einigen Personen unter der Therapie mit Antikörpern zu schweren Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen oder Hirnblutungen. Auch vereinzelte Todesfälle sollen mit den Antikörpern in Zusammenhang stehen. "Die Antikörper wirken nicht bei jedem Betroffenen gleich, die richtige Vorauswahl, womöglich auch die Kombination verschiedener Antikörper, muss noch untersucht werden", so Wüllner. Ziel sei eine stärker personalisierte Medizin, die auf einzelne Betroffene zugeschnitten werden kann.
Krankheit früher behandeln
Der Antikörper Lecanemab wurde Anfang des Jahres in den USA zugelassen, in der EU steht eine Zulassung noch aus. Donanemab ist als Medikament derzeit bisher nicht verfügbar. Auf der Suche nach Alzheimer-Medikamenten gab es immer wieder Rückschläge, da es sich um eine sehr komplexe Erkrankung handelt. Die Diagnose Demenz müsse viel früher gestellt werden, um gute Behandlungserfolge zu erzielen, so Wüllner. Wenn die ersten Alzheimer-Symptome auftreten, ist die Erkrankung schon jahrzehntelang im Körper aktiv. Es haben sich dann nicht nur Ablagerungen im Gehirn gebildet, sondern auch sekundäre Veränderungen wie Entzündungsreaktionen ausgelöst.
"Die Antikörpertherapie - dies zeigen die Studien - muss möglichst früh beginnen, im Idealfall in einem präsymptomatischen Stadium", sagt Wüllner. Der bisherige Behandlungsbeginn sei wahrscheinlich zu spät. "Je früher An- und Ablagerungen von Eiweißen im Gehirn beseitigt werden können, umso günstiger scheint es zu sein und umso günstiger wäre wahrscheinlich auch das Nebenwirkungsprofil", vermutet Wüllner.
Zahl der Betroffenen steigt
Ob Antikörper oder Stoßwellentherapie, noch ist keine Heilung in Sicht, aber eine frühe Diagnose und zielgerichtete Therapien könnten in Zukunft das Leben von vielen Alzheimer-Betroffenen deutlich verbessern. Denn die Zahl der Demenzkranken nimmt zu: Schon 2050 könnte sie Schätzungen zufolge von 1,8 Millionen auf 2,8 Millionen Betroffene in Deutschland steigen.
Für Hans-Jürgen und seine Partnerin ist der Alltag schon jetzt leichter geworden. Seit er vor einem Jahr mit der Stoßwellentherapie begonnen hat, ist auch seine Orientierung wieder besser. Für Gabriele eine positive Veränderung: "Ich muss nicht immer so auf der Hut sein, ich bin entspannter und, sagen wir mal, man ist auch wieder zuversichtlicher."
Die vollständigen Namen von Hans-Jürgen und Gabriele sind der Redaktion bekannt.
Quelle: ntv.de