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Till Brönners "Identity" "Ein interessantes Gesicht fragt nicht nach Prominenz"

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Boxers, Duisburg, 2019

Boxers, Duisburg, 2019

(Foto: © Till Brönner, Courtesy Brost-Stiftung)

Musiker und Fotograf, das klingt gut, das sieht gut aus, und das repräsentiert Till Brönner. Rund 80 Fotografien, darunter zahlreiche neue Arbeiten, präsentiert er momentan der Öffentlichkeit, allerdings nicht ganz um die Ecke, sondern in Budapest. In Ungarn? Ja, denn Brönner fängt in seinen Werken den kulturellen Facettenreichtum Europas ein und ist sich sicher, dass wir Europäer um genau diesen an vielen Orten der Welt beneidet werden. 2019 bereits porträtierte er Menschen des Ruhrgebiets - bekannte und weniger bekannte - und drang dabei tief in die Materie Bergbau ein. Mit seiner eindringlichen Langzeitstudie brachte er die am dichtesten bevölkerte Region Deutschlands "unters ganze Volk". Jetzt geht es weiter, denn Brönner geht es um mehr: Bereits in den Bildern aus dem Ruhrgebiet spürt man die humanistische Haltung des Trompeters. In den Fotografien der europäischen Landschaften und Leute wird nun vollends deutlich, welche Lebenseinstellung den Künstler prägt: Er ist getrieben vom europäischen Gedanken und daher hochgradig motiviert, auch in Budapest Menschen grenzüberschreitend zusammen und in den Dialog zu bringen. "Die Politik unseres Kontinents wird nicht nur durch unsere Entscheidungsträger selbst, sondern auch durch die sich daraus ergebenden Schicksale zwischen Klimaprotest und Flucht geprägt" ist er sich sicher. Till Brönner, der 1971 in Viersen geborene Kosmopolit, aufgewachsen in einer Musikerfamilie zwischen Italien und dem Rheinland, lebte und arbeitete lange Zeit zwischen Berlin und Los Angeles - und ist im Prinzip überall zu Hause. Wie er das empfindet, lesen Sie im Interview mit ntv.de.

ntv.de: "Identity", also Identität - so wichtig wie schon lange nicht mehr, oder?

Till Brönner: Ich persönlich denke, kurz und knapp: Ja.

Was bedeutet Identität denn?

Father and son, Ukraine Arrival Center Berlin, 2024

Father and son, Ukraine Arrival Center Berlin, 2024

(Foto: © Till Brönner)

Identität kann laut Lexikon verschiedene Bedeutungen haben. Mir gefällt "Selbstverständnis" für mein aktuelles Projekt am besten. Und für die Frage nach dem europäischen Selbstverständnis bringt das Wort "Identity" Gedanken in Gang, die ziemlich aktuell sind.

Menschen auf der Flucht - was macht das mit ihrer Identität?

Das muss man Menschen in einer solchen Grenzsituation natürlich selbst fragen. Ich schätze, sie identifizieren sich entweder besonders stark oder eher weniger als je zuvor mit dem Bisherigen. Gleichgültigkeit halte ich für die unwahrscheinlichste Variante.

Wer bin ich, wenn ich nicht mehr weiß, wo "Zuhause" ist - wenn die Heimat unerreichbar ist?

Ein Glück für den, der sich diese Frage nicht stellen muss. Zuhause kann man aus meiner Sicht aber fast überall sein. Vertrieben und gar geächtet zu werden, zwingt einen jedoch dazu, sich mehr mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Das sind dann ganz andere Koordinaten.

Wie erschaffe ich mir eine neue Identität?

Mediterranean Sea, 2018

Mediterranean Sea, 2018

(Foto: © Till Brönner, Courtesy Brost-Stiftung)

Indem ich das will oder muss, nehme ich an. Freiwillig geht vieles, und so offen sollte unsere Gesellschaft hierzulande auch sein. "Unter falscher Identität" kennen wir als Begriff, und wir verbinden nichts Gutes damit.

Oder nehme ich meine Identität immer mit mir mit?

Ich selbst spüre sie mal mehr, mal weniger, die Identität. Ihr entkommen wollte oder musste ich jedoch noch nie. Sie zu spüren, gefiel mir immer, auch wenn ich ihr teilweise nicht unkritisch gegenüberstehe.

Droht der kulturelle Facettenreichtum, von dem in Bezug auf die Ausstellung die Rede ist, zu verschwinden?

Das glaube ich schon deshalb nicht, weil gerade diese unterschiedlichen Facetten uns ja dazu zwingen, die Gemeinsamkeiten europäischer Identität zu benennen, über alle willkommenen Unterschiede hinweg. Ich habe schon manches Mal festgestellt, dass ich mich, wenn ich sehr weit weg von Zuhause bin - in den USA oder in Japan - sehr stark als Europäer fühle. Noch mehr als das, was in meinem Pass steht. Das fand ich interessant.

Fotografierst du deshalb, aus fast dokumentarischen Gründen?

Nein, nicht nur. Aber die Möglichkeit zu haben, sich einem Sujet wie diesem fotografisch zu nähern, ist ein toller Luxus. Neben der Musik natürlich, die mich ständig die Sprache des Brückenbauers sprechen lässt.

Was gibt dir die Fotografie an Ausdrucksmöglichkeiten, die die Musik, die Trompete, auch der Gesang nicht hat?

Thyssen Krupp Steel, Duisburg, 2019

Thyssen Krupp Steel, Duisburg, 2019

(Foto: © Till Brönner, Courtesy Brost-Stiftung)

Die Ruhe und das Beobachtende am Fotografieren ist das genaue Gegenteil des Performance-Modus, in dem ich mich mit der Trompete befinde. Trompete im Konzert ist der Jetzt-oder-nie-Effekt. Hinter der Kamera bin ich nicht der Wichtigste oder Bekannteste; vielmehr widme ich mich etwas oder jemand anderem als mir selbst. Und ich kann das Gebannte erst dann zeigen, wenn ich es für gut genug erachte. Ein Konzert kannst du nicht wiederholen, und ein musikalisches Stück kannst du im Nachhinein nicht noch einmal ändern.

Wie viel Ruhrgebiet steckt in Europa?

Rechnerisch sehr viel (lacht). Wir sprechen vom größten Ballungsgebiet in ganz Europa, durchzogen von Nationalitäten und Mentalitäten, die sich auch nach Generationen alle sehr stark mit ihrer jetzigen Region an der Ruhr identifizieren. Bergbau und Industrie findet man jedoch auch an diversen anderen Stellen in Europa.

Und wieviel Europa findet man im Ruhrgebiet?

Soccer Stadium Trumpeter, 2019

Soccer Stadium Trumpeter, 2019

(Foto: © Till Brönner, Courtesy Brost-Stiftung)

Diese Frage finde ich fast spannender. Ich bin jetzt 53 Jahre alt. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich in Deutschland auch nur jemals das Gefühl, dass wir uns als Deutsche jenseits von Urlaub in Südeuropa oder Restaurantbesuchen besonders stark nach außen öffnen wollten. Vermeintlich gestützt wurde diese Haltung sicher stets durch die fast uneingeschränkte Bewunderung, die man trotz zweier Weltkriege allerorten für das tüchtige, wirtschaftlich starke Deutschland spürte. Heute haben sich die Koordinaten deutlich verändert. Wir bleiben uns selbst und anderen viele Antworten schuldig, scheinen wenig flexibel, und die Vokabel "tüchtig" habe ich auch schon lange nicht mehr gehört (lacht).

Ist es einfacher, Prominente oder Nichtprominente zu fotografieren?

Jedes Porträt hat seine eigene Energie. Ein interessantes Gesicht fragt nicht nach Prominenz. Für die Betrachter erhöht sich freilich gerne mal der Reiz, wenn eine Berühmtheit abgelichtet wurde. Aber das ist nicht mein großes Credo.

Wie kam es zu dem Start der Ausstellung ausgerechnet in Budapest?

Till Brönner, bei der Arbeit ...

Till Brönner, bei der Arbeit ...

(Foto: Copyright Till Brönner)

Mir ging das ständige Europa-Bashing auf die Nerven. Man kann diesen Landstrich ja nicht einfach nur auf eine langsame oder schwerfällige Verwaltung in Brüssel oder Straßburg reduzieren. Wir sprechen hier immerhin von einem Kontinent, dessen kulturelle Errungenschaften in den Bereichen Politik, Musik, Literatur und Bildender Kunst über Jahrhunderte jede andere Region auf der Welt überstrahlte. Die Welt beneidet Europa seit jeher um seine Kultur. Man spürt das beispielsweise in Amerika noch immer sehr deutlich. Der Respekt für die europäische Marke ist nach wie vor immens. Einzig beim Tempo sind wir ausbaufähig, und das macht uns inzwischen zu schaffen.

Was kann die Kunst besser als die Politik?

Musik wird beispielsweise auf der gesamten Welt ohne Sprachbarrieren sofort verstanden, das Musizieren ist eine Art Grundbereitschaft zum Dialog und zum Kompromiss. Die diebische Freude darüber macht sich sowohl auf als auch vor der Bühne verlässlich und immer wieder bemerkbar. Wer musiziert, fängt keine Schlägerei an.

Schäferin, Toskana, 2017

Schäferin, Toskana, 2017

(Foto: © Till Brönner)

Wann ist ein Brönner-Bild farbig, und wann ist es schwarz-weiß?

Wenn es in der getroffenen Entscheidung für oder gegen Farbe mehr Energie hat als vorher.

Mit Till Brönner sprach Sabine Oelmann

Die Ausstellung "Identity - Landscape Europe" im Ludwig Múzeum - Museum for Contemporary Art in Budapest ist noch bis zum 25. August 2024 zu sehen.

Quelle: ntv.de

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