Unterhaltung

Von 0 auf 1 in den Charts Umstrittener Protestsong spaltet die USA

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Singt sich gerade vor allem in die Herzen rechter Fans: Oliver Anthony.

Singt sich gerade vor allem in die Herzen rechter Fans: Oliver Anthony.

(Foto: AP)

Er nennt sich Oliver Anthony, singt Country, trägt einen roten Bart - und ist bis dato völlig unbekannt. Doch sein Song "Rich Men North Of Richmond" geht urplötzlich viral und erobert nun sogar Platz 1 der US-Charts. Nicht das erste popkulturelle Phänomen, das die USA pünktlich zum Wahlkampf-Start spaltet.

Musikalisch ist der rund dreiminütige Akustikgitarren-Song nichts Besonderes. Und wären da nicht der Text und der Sänger mit seinem auffälligen roten Bart, der ihn engagiert und inbrünstig vorträgt, wäre der Clip vermutlich einfach unter den zigtausend ähnlichen Videos untergegangen, die Tag für Tag bei Youtube hochgeladen werden. So aber - und mit der Fürsprache konservativer Meinungsmacher - ging "Rich Men North Of Richmond" von einem gewissen Oliver Anthony viral mit mittlerweile weit über 30 Millionen Abrufen binnen knapp zwei Wochen. Und nicht nur das: Das Lied schaffte es nun auch aus dem Stand von 0 auf Platz 1 der US-amerikanischen Billboard-Charts.

Der bis dato völlig unbekannte Oliver Anthony, der mit richtigem Namen Christopher Anthony Lunsford heißt, überrundete damit nicht nur gestandene Popgrößen wie Taylor Swift oder Olivia Rodrigo. Ihm gelang auch ein bislang einzigartiges Kunststück, wie Billboard mitzuteilen wusste: Nie zuvor ist es in den USA jemandem gelungen, stante pede die Spitze der Charts zu erobern, ohne je zuvor in irgendeiner Form in den Hitparaden präsent gewesen zu sein.

Die Aufmerksamkeit wäre Anthony also so oder so gewiss, auch wenn er in seinem Lied nur über das Wetter singen oder aus dem Telefonbuch rezitieren würde. Doch es ist vor allem der Inhalt seines Protestsongs, der sogar eine Zeitung wie die "New York Times" zu einer seitenlangen Analyse seines Erfolgs veranlasst hat. Schließlich scheinen Anthonys Textzeilen Wind auf die Mühlen des rechten Lagers in den USA zu sein. Und das prompt zu Beginn des Wahlkampfs um das Weiße Haus.

"Die Seele verkauft"

Anthony nimmt in seinem Song die Rolle eines Arbeiters ein. "I've been selling my soul working all day, overtime hours for bullshit pay. So I can sit out here and waste my life away, drag back home and drown my troubles away. It's a damn shame what the world's gotten to for people like me and people like you" ("Ich habe meine Seele daran verkauft, den ganzen Tag zu arbeiten, bei Überstunden und beschissener Bezahlung. Ich kann das hier aussitzen und mein Leben vergeuden, mich nach Hause zurückziehen und meine Sorgen ertränken. Es ist eine verdammte Schande, was aus der Welt für Menschen wie dich und mich geworden ist"), beginnt der Sänger sein Klagelied. Er wünsche sich, dies alles wäre nur ein schlechter Traum.

Dann aber kommt Anthony darauf zu sprechen, wer seiner Ansicht nach für diese "neue Welt" verantwortlich ist: die "reichen Männer nördlich von Richmond", die einfach nur "totale Kontrolle" haben wollten. Richmond ist die Hauptstadt des US-Bundesstaats Virginia. Sie liegt rund 150 Kilometer südlich der US-Bundeshauptstadt Washington, in der Anthony die "reichen Männer" verorten dürfte.

Danach knöpft sich der Musiker in seinem Song weitere Missstände, die er zu erkennen glaubt, vor - von der Inflation über zu hohe Steuern bis hin zum Wohlfahrtsmissbrauch. Mit einer Textzeile wie "I wish politicians would look out for miners and not just minors on an island somewhere" ("Ich wünschte, Politiker würden sich um Bergarbeiter kümmern und nicht nur um Minderjährige irgendwo auf einer Insel") taucht Anthony zudem in den Verschwörungssumpf ab - der Bezug zum QAnon-Märchen um den angeblichen Kindesmissbrauch durch politische Eliten ist unverkennbar.

"Join a Union"

So bekam der Sänger für seinen Vortrag alsbald auch Applaus von prominenten Konservativen in den USA. Politische Rechtsaußen wie der Publizist und Podcaster Matt Walsh, der TV-Kommentator und Verschwörungserzähler Jack Posobiec oder die republikanische Politikerin Kari Lake erklärten sich zu Fans. Doch auch die kritische Auseinandersetzung mit Anthonys Song nahm rasch Fahrt auf, einschließlich Spekulationen, der Sänger tauche nicht ganz zufällig im Rampenlicht auf. Während die einen vermuten, er sei eine singende Strohpuppe des rechten Lagers, wähnen andere einen geschickten Coup der Musikindustrie hinter seinem Erfolg.

Der für seine Protestsongs bekannte britische Musiker Billy Bragg befasste sich in einem Beitrag für den "Guardian" argwöhnisch mit "Rich Men North Of Richmond" und Anthony, dem er vorwirft, nur noch weiter nach unten zu treten. "Die Leben der einfachen arbeitenden Menschen würden von den Reichen auseinandergerissen, beklagt er, aber man könne das ja fixen: indem man die Wohlfahrt beschneidet und Steuern senkt", lästert Bragg über den US-Kollegen. Zugleich veröffentlichte der Brite seinerseits eine musikalische Antwort auf Anthonys Protestsong. Anstatt über sein Arbeiterschicksal zu jammern, gebe er ihm einen ganz einfachen Rat, heißt es darin: "Join a Union" ("Schließe dich einer Gewerkschaft an").

Dabei ist Anthony gar kein Arbeiter. Jedenfalls nicht mehr. Möglicherweise von seiner plötzlichen Prominenz selbst überrascht sah sich der Sänger inzwischen genötigt, in einem Youtube-Video und auf seiner Facebook-Seite einige Details zu seiner Person preiszugeben. Demnach begann er 2021 damit, seine eigene Musik zu schreiben. Nach einem früheren Industrie-Job im "Dreischichtsystem, 12 Stunden, sechs Tage die Woche" mit einem Stundenlohn von 14,50 Dollar bewirtschafte er inzwischen rund 36 Hektar Farmland in Virginia. Zur Rechtfertigung schiebt er hinterher: Er wohne in einem 750 Dollar teuren Campingwagen und sitze wegen des Landkaufs auf einem Berg Schulden.

Jason Aldean hat vorgelegt

Er habe ein 8-Millionen-Dollar-Angebot der Musikindustrie abgelehnt, begegnet er den Mutmaßungen, er sei in Wahrheit ein "gemachter" Star. Auch einer politischen Vereinnahmung widerspricht er. Er habe sich vielmehr politisch schon immer irgendwo in der Mitte befunden, sagt Anthony, lässt zugleich aber seinen Hang zu Verschwörungserzählungen erkennen. Für ihn dienten Linke und Konservative dem gleichen Herren - "einem Herren, der es mit dem Menschen in diesem Land nicht gerade gut meint".

Eine ähnliche Geisteshaltung schimmert durch, wenn Anthony vom Kindesmissbrauch spricht, der angeblich "normalisiert" worden sei. Oder dann, wenn er auf seiner Facebook-Seite vor Fake-Accounts in seinem Namen warnt: "Wenn ihr betrogen werden wollt, schaut einfach die Nachrichten." Die Menschen lebten aktuell "in dunklen Zeiten", ist sich der Sänger sicher. "Aber das ist erst der Anfang von dem, was uns erwartet."

Es ist nicht das erste Mal, dass ein popkulturelles Phänomen in diesen Tagen das rechte Lager in den USA vor Freude in die Hände klatschen lassen dürfte. Erst vor drei Wochen eroberte mit Jason Aldean ein anderer Country-Sänger ebenfalls mit einem umstrittenen Song die Spitze der US-Charts. In "Try That In A Small Town" setzt sich der etablierte Star mit den angeblich chaotischen Zuständen in den US-Metropolen auseinander - egal, ob es dabei um Raub geht, Gewalt gegen Polizisten oder das Verbrennen von US-Flaggen. "Versuch das mal in einer kleinen Stadt", spottet Aldean. "Hier nehmen wir die Dinge selbst in die Hand", ruft er kaum verhohlen zur Selbstjustiz auf, ehe er stolz über die Knarre sinniert, die ihm sein Großvater vermacht habe.

Überraschungserfolg auch im Kino

Erst recht jedoch hatte es der Videoclip in sich, den Aldean zu seinem Lied veröffentlichte. Der zeigte natürlich nicht etwa den gewaltsamen Sturm von Donald-Trump-Anhängern auf das Kapitol, sondern Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen Polizeigewalt. Zudem posierte Aldean in dem Clip ausgerechnet vor dem Gerichtsgebäude in Columbia, Tennessee. Dort war 1927 ein junger Schwarzer von einem weißen Mob gelyncht worden. Diese Geschmacklosigkeit veranlasste sogar den Sender Country Music Television (CMT), Aldeans Videoclip aus dem Programm zu nehmen - dem Erfolg von "Try That In A Small Town" tat dies keinen Abbruch.

Doch nicht nur in der Musik, sondern auch in den Kinos erhielten die rechten Kräfte zuletzt kulturelle Rückendeckung. So mauserte sich der Film "Sound of Freedom" in den USA zum Überraschungserfolg. In ihm wird der Menschenhandel mit Kindern, um sie als Sexsklaven zu missbrauchen, thematisiert. Auch wenn der Streifen nicht direkt Bezug zu QAnon herstellt, fühlen sich viele Anhänger des Verschwörungsmärchens doch durch ihn bestätigt.

Kannte ihn vor Kurzem noch kaum jemand, tingelt Oliver Anthony nun mit seiner Gitarre durch die USA. Videos auf seiner Facebook-Seite zeigen ihn etwa zuletzt bei einem Auftritt vor einer großen Menschenmenge in North Carolina. Nur eine Eintagsfliege? Oder mausert er sich gar zur neuen Symbolfigur der Rechten? Der Wahlkampf dürfte es zeigen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen