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Horrorszenario in der Lagune Fiktive Flutwelle verschlingt Venedig

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Laut Studien könnte Venedig bis zum Ende des Jahrhunderts teilweise fast dauerhaft überschwemmt sein. Bei dem schweren Acqua Alta 2019 (im Bild) waren die Pegel auf fast 1,90 Meter über Normalnull gestiegen.

Laut Studien könnte Venedig bis zum Ende des Jahrhunderts teilweise fast dauerhaft überschwemmt sein. Bei dem schweren Acqua Alta 2019 (im Bild) waren die Pegel auf fast 1,90 Meter über Normalnull gestiegen.

(Foto: picture alliance/dpa/LaPresse via ZUMA Press)

Touristen ohne Ende, sinkende Fundamente, steigender Meeresspiegel: Venedig ist eine von vielen Seiten bedrängte Stadt. In ihrem Roman "Acqua Alta" beleuchtet Isabelle Autissier die vielfältigen Herausforderungen und erzählt von einer Horrornacht, nach der von Venedig nur noch ein Haufen Trümmer bleibt.

Wer an Venedig denkt, hat sofort jede Menge Bilder im Kopf: den weltberühmten Markusplatz, Palazzi mit gotisch-byzantinischen Fassaden, auf jedem Campo mindestens eine Kirche, kleine und große Brücken, die über pittoreske Kanäle führen und natürlich Gondeln. In Isabelle Autissiers Roman "Acqua Alta", ins Deutsche übertragen von Kirsten Gleinig, ist von der malerischen Schönheit der italienischen Stadt allerdings nichts mehr übrig: Venedig liegt in Trümmern. Eine gigantische Flutwelle verschlingt die Serenissima, unzählige Menschen sterben oder sind vermisst.

Was zur Katastrophe geführt hat, ist nicht genau zu rekonstruieren. Nachdem es tagelang geregnet hatte, ein heftiger Sturm heraufzog und aus ungeklärten Gründen die Fluttore an den Eingängen der Lagune mal wieder nicht richtig funktionierten, "waren Tausende Tonnen Stein mit einem Mal auf den instabilen Untergrund gestürzt und hatten eine Reaktion erzeugt, die einem Erdbeben gleichkam". Begleitet von einem "entsetzlichen Dröhnen" breiteten sich die Erschütterungen aus und die Stadt mit ihren eng beieinanderstehenden Gebäuden fiel einem Dominoeffekt folgend zusammen.

Stadtrat Guido Malegatti hat schwer verletzt als einer von wenigen überlebt. Monate nach der Katastrophe fährt er durch die menschenleeren Ruinen Venedigs, der Motor seines Bootes dröhnt durch die Stille und er sieht nichts als Zerstörung. Den Campanile des Markusdoms gibt es nicht mehr und "die berühmte Front des Dogenpalasts, die Säulen, die Spitzbogen und der Balkon sind nur noch ein Haufen Schutt, der sich über den Kai erstreckt und sich mit den Wracks der Vaporetti mischt, die vor sich hin rosten." Erhalten ist nur die Rückwand des Gebäudes, "an der die jetzt in alle Richtungen offenen Stockwerke seltsam hängen, was das Ganze wie ein altes Puppenhaus aussehen lässt."

Auf dem Canal Grande muss Guido im Slalom um Geröllberge herumlenken, die einst prächtigen Palazzi sind eingestürzt und "durch die klaffenden Öffnungen erblickt er Bruchstücke von Decken, von Fresken und kaputten Möbeln." Das Gebäude, in dem er selbst lebte, ist nicht mehr zu erreichen. Als Guido in den Rio einbiegen will, ist der von Gondeln versperrt. Sie sind ineinandergeschoben "wie die Stäbe eines Mikadospiels, aus dessen Mitte ein Bug aufragt, als hielte er Wache, ganz umsonst".

Es sind apokalyptische Szenen, mit denen die französische Autorin Autissier ihren Roman beginnt. Sie erinnern an die fürchterlichen Bilder, die jede und jeder von Naturkatastrophen kennt, und überlagern im Kopf der Leserinnen und Leser auf verstörende Weise die bekannten Motive der Silhouette Venedigs. Nach diesem intensiven Einstieg hat es die darauffolgende Geschichte etwas schwer. Autissier springt zwei Jahre zurück und erzählt von Vater, Mutter und Tochter Malegatti, die sich auf jeweils ganz unterschiedliche Weise mit der Stadt verbunden fühlen.

Unlösbarer Vater-Tochter-Konflikt

Guido will vor allem zwei Dinge im Leben: Geld und Macht. Für seinen Traum von der Million arbeitete er sich vom Bauernsohn zum nicht gerade zimperlichen Bauunternehmer hoch. Um an Macht zu gelangen, kam ihm Maria Alba gerade recht. Seine "madonnenhafte" Frau (besonders die weiblichen Figuren sind sehr stereotyp geraten) stammt aus einer inzwischen verarmten Patrizierfamilie, darf vier Dogen zu ihren Ahnen zählen und öffnete ihm die Tür zur aristokratischen Welt Venedigs.

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Der größte Glücksmoment für Guido ist dann der Tag, an dem er Wirtschaftssenator von Venedig wird. Endlich kann er an der Durchsetzung seines Erfolgskonzepts für die Stadt arbeiten: noch mehr Touristen anlocken und noch mehr bauen - vielleicht sogar eine Metro. Warnungen, dass Venedig untergehen wird, hält er für Panikmache. Aber falls es doch stimmen sollte, werde sich schon irgendeine Technologie finden, die das verhindern kann, "wir sind schließlich auch auf den Mond geflogen".

Die 17 Jahre alte Léa spürt eine Liebe für die Stadt, die "tief in ihr verankert, exzessiv, beinahe körperlich" ist. Schon als kleines Mädchen folgte sie den Spuren ihrer ruhmreichen Vorfahren durch ganz Venedig und lauschte dabei den Geschichten ihrer Mutter. Doch während Maria Alba in der Hollywoodschaukel auf ihrem Balkon darauf hofft, dass die Stadt auch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung ein Garant für Beständigkeit und Stabilität bleibt, hat Léa eine Mission. Über ihren Professor, mit dem sie eine Affäre hat, lernt die Kunststudentin die Initiative "Venedig retten" kennen. Sie schließt sich Umweltaktivisten an, radikalisiert sich immer mehr - und gerät in einen unlösbaren Konflikt mit ihrem Vater.

Verletzliches Venedig

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Anhand der verschiedenen Positionen ihrer Figuren fächert Autissier das Problemspektrum auf, mit dem Venedig ganz real konfrontiert ist: der Massentourismus mit seinen bis zu 100.000 Urlaubern pro Tag und den Kreuzfahrschiffen, die die Fundamente der Stadt angreifen; das fragile Gleichgewicht der Lagune, das durch politische Entscheidungen (Grundwasser abpumpen, Teile der Lagune trockenlegen, Fahrrinne vertieft) beeinflusst wurde. Und natürlich die Tatsache, dass der Meeresspiegel steigt, während die Stadt langsam absinkt. Laut verschiedener Studien könnte das auf Millionen Pfählen erbaute Venedig bis zum Ende des Jahrhunderts fast dauerhaft in Teilen unter Wasser stehen. Und ob das von Korruptionsvorwürfen überschattete Milliardenprojekt Mose mit seinen 78 beweglichen Fluttoren die Stadt tatsächlich schützen kann oder ihr nicht im Gegenteil sogar Schaden zufügt, ist umstritten.

Autissier, die 1991 als erste Frau alleine die Welt umsegelte und Präsidentin von WWF Frankreich ist, hat interessante Fakten verständlich aufbereitet und verzahnt Realität und Fiktion beklemmend miteinander, um den Fokus auf die unzweifelhafte Protagonistin ihres Romans zu lenken: das so schöne wie verletzliche und gefährdete Venedig. Und die Autorin weiß aufzurütteln: Das Horrorszenario, das sie entwirft, spielt nicht in einer weit entfernten, dystopischen Zukunft, sondern im zweiten Corona-Jahr 2021 - das bei Erscheinen des Buches 2022 in Frankreich bereits in der Vergangenheit lag.

Quelle: ntv.de

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