Roman über einen Missbrauch Im kalten Oberharz, in den Armen ihres Lehrers


Auch Romanprotagonistin Dora bekam Ballettstunden (Symbolbild).
(Foto: picture alliance / Wolfgang Weihs)
Dora will ihren Lehrer verführen - oder erliegt die Schülerin der sexuellen Anziehungskraft eines Untäters? Der Roman "Schneeflocken wie Feuer" erzählt von der Entwicklung einer 17-Jährigen zur Frau - inmitten einer patriarchalischen Gesellschaft Anfang der 1960er-Jahre.
Geboren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, in eine Familie von Vertriebenen, mit einer Hitler-Anhängerin als Mutter und einem brüllenden Vater, wächst Dora, die 17-jährige Protagonistin des Romans "Schneeflocken wie Feuer", unter schwierigen Umständen zu einer Frau heran. In einer konservativen Gesellschaft. Und dann noch im Oberharz. Sie muss ständig frösteln. Selbst im Sommer. Einer Hochschule in der Nähe wird scherzhaft zugesprochen, deutschlandweit die "einzige Uni mit zwei Wintersemestern" zu sein.

Die Autorin Elfi Conrad - sie schrieb zuvor bereits unter dem Pseudonym Phil Mira Romane.
(Foto: privat/Daniel Kuntze)
Aber soweit ist Dora noch nicht. Sie bereitet sich auf ihr Abitur vor. Und sie trotzt mit all ihrer Lebensenergie nicht nur der Kälte. Denn ihre Aufgaben, sei es in der Schule oder zu Hause, nehmen kein Ende. Allabendlich muss sie etwa die körperlich wie mental ausgelaugte Mutter massieren, die kleine Schwester ins Bett bringen, schließlich die eigenen Hausaufgaben erledigen und anschließend dem Vater Brote schmieren. Sie macht das alles, ohne zu murren.
Und dazwischen noch eine weitere Aufgabe: eine Frau werden. Sie wird sexuell begehrt, nicht nur von Mitschülern. Einem Mann auf der Straße muss sie ein Knie in den Schritt rammen, als dieser ihr zwischen die Beine greifen will. Vonseiten ihrer Mitschüler und auch eines Lehrers gefällt ihr das Begehrtwerden, und sie sucht es. Eines ihrer Vorbilder ist Brigitte Bardot.
Damals Brigitte Bardot, heute dürre Models
Im Spannungsfeld des teils auf missbräuchliche Weise Begehrtwerdens und des aktiven Strebens nach einer selbstbestimmten Entwicklung als Frau spielt der Roman der 78-jährigen Autorin Elfi Conrad. Also in einem Spannungsfeld, das auch heute noch unbedingt hochaktuell ist - und Conrad deswegen zum Schreiben ihres Romans bewegt hat, der ihr erster bei einem Verlag ist, nämlich bei mikrotext.
"Der Mann war das Maß aller Dinge", fasst die meist in Karlsruhe lebende Autorin die damaligen Zeiten im Gespräch mit ntv.de zusammen. Sie spricht von einer patriarchalischen Gesellschaft - mit Frauen in einer Rolle von Jungfrauen bis zur Ehe und jungen Männern, "die Erfahrungen sammeln dürfen". Gleichzeitig steckten von der Film- und Medienindustrie entwickelte Frauenbilder sie und ihre Altersgenossinnen in ein "Korsett der Künstlichkeit". Im Roman explizit benannt werden Brigitte Bardot, Gina Lollobrigida und Sophia Loren. Wenn Conrad an ihre 13-jährige Enkelin denkt, konstatiert sie aber: "Ihre Welt ist ja noch viel schlimmer inzwischen." Sie denkt etwa an Modeshows mit dürren Mannequins.
In einer Welt, in der viele Erwartungen an Frauen herangetragen werden, wächst die Romanprotagonistin Dora auf. Mit all ihrer Lockerheit und Lebensfreude. Aber auch mit einem Rachegedanken für all die Erniedrigungen, die sie täglich erlebt. Und auch mit all den Trieben des jungen Erwachsenenalters. In einem Mann brechen sich all diese Gefühle. Dora himmelt ihren Musiklehrer an und nähert sich ihm erstmals auf einem Klassenfest, fordert ihn gar zu einem Tanz auf. "Lange vor dem Trinken der Bowle, vermutlich noch vor dem Klassenfest, hatte sich der Gedanke einer Verführung [bei Dora] festgesetzt. Kein Gedanke, eher ein Drang, eine anarchische vage Idee."
Doch aus der angedachten Verführung entwickelt sich ein Verhältnis, dessen Konsequenzen und Komplikationen, die im Verlauf des Romans auftreten, Dora natürlich noch nicht überblicken kann. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, diese zu überblicken. Der Musiklehrer hingegen scheint sich möglicher Konsequenzen bewusst, entscheidet sich aber zum Verhältnis mit Dora und damit zu etwas, was man damals "Unzucht mit Abhängigen" genannt hätte. Heute entspricht dies dem sexuellen Missbrauch einer Schutzbefohlenen. Dieser steht im Zentrum des Buches.
Für den Lehrer Wein, für sie Sprudel
Trotz der Ernsthaftigkeit des Sujets gelingt der Autorin der Balanceakt zwischen Unterhaltung und hoher Literatur. Sie lässt einen in bewegenden Szenen an Emotionen der Protagonistinnen und Protagonisten teilhaben und behandelt gleichzeitig Fragen, die sich heute weiterhin etwa in der Me-Too-Bewegung stellen. Dabei werden Situationen sehr fein geschildert, etwa als Dora ihren Lehrer das erste Mal zu Hause aufsucht, Hilfe bei ihm ersucht. Er lässt sie ein und kreiert eine Situation der Nähe, lässt aber doch einen gewissen Abstand, indem er ihr nur Sprudel ausschenkt.
"Er kommt mit zwei Weingläsern zurück, einer Flasche Sprudel und einer Flasche Rotwein. Den Bademantel hat er gegen einen blauen Trainingsanzug getauscht. Das Schütten des Sprudels in eines der Weingläser. Das Öffnen der Rotweinflasche. Das Plopp des Korkens. Es lässt mich zusammenfahren, was mache ich hier? Das Schütten des Rotweins in das andere Weinglas. Das Klingen der aneinanderstoßenden Gläser. Auf das Du können wir nicht mehr anstoßen, denke ich, schade, kein Kuss."
Etwas später fordert sie Wein ein. Und noch etwas später ist ihre Hand in seiner Hose. "Zunächst ist er überrascht, dann gibt er nach. Gibt sich meiner Hand hin."
Mit Sicherheit wird es, sollte sich Conrads Roman gut verkaufen, auch zu diesen Passagen etwa in den sozialen Medien ein sehr aufgefächertes Meinungsbild geben, was Fragen der Schuld angeht. Die Geschichte passt also sehr gut in die heutige Zeit, in der "Victim Blaming" weit oben auf der Tagesordnung steht.
Szenen einer Nachkriegs-Ehe
Ernste Themen scheinen Conrad zu liegen. Bereits vor "Schneeflocken wie Feuer" veröffentlichte sie mehrere Romane selbst unter einem Pseudonym, darunter "Bloßlegung", in dem es um die Vergewaltigung eines Mannes geht. Die Verhandlung psychologischer Ausnahmezustände erscheint als Stärke in Conrads Schreiben, die eine Karriere als Lehrerin wie in der Wissenschaft im Bereich der Kognitionspsychologie hinter sich hat. Dies zeigt sich etwa in der tief berührenden Nacherzählung der schwierigen Ehe von Doras Eltern. In einer Szene wird beschrieben, wie es zu einer großen Narbe auf dem Oberschenkel des Vaters kam, als dieser während des Krieges in einem Lazarett lag. Und wie die Mutter darauf reagiert.
"Um nicht weiter kämpfen zu müssen, hat er sich die Wunde immer wieder aufgekratzt. Warum hätte er sich für ein Regime einsetzen sollen, gegen das er schon lange vor Beginn des Krieges war? 'Das ist doch feige', sagt meine Mutter, während ich sie massiere und sie mir zum tausendsten Mal von ihrer Flucht [aus Niederschlesien] erzählt."
Und später: "Das Wort 'aufgekratzt' benutzte meine Mutter fast hämisch, wenn sie davon erzählte. Mein Vater erzählte davon nichts. Er hätte sich geschämt."
Männer sind bei Conrad nicht nur Täter - im Gegenteil. Ihre Protagonistin Dora hat ein großes Empathievermögen für Männer. Ihr Vater kommt im Großen und Ganzen besser weg als die Mutter, als viele Mütter, die ihre Töchter so erziehen, dass sie Männern gefallen zu haben. Dora reflektiert die Schuld des Musiklehrers, auch wenn sie das natürlich gar nicht müsste. Insgesamt beeindruckend sind die Schilderungen einer sich in emotionaler Schockstarre befindlichen deutschen Nachkriegsgesellschaft. Dabei sind die familiären und gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie im Roman vorkommen, an das eigene Leben der Autorin angelehnt. Sie seien autofiktional, erklärt Conrad im Gespräch mit ntv.de.
Insgesamt gesehen hat Conrad hier und da aber etwas viel in das Buch gepackt: Passagen, die auf feministische Bewegungen von den 1970er Jahren bis heute blicken, stehen neben Schilderungen einer mittlerweile digitalen Welt, in denen YouTube und Twitter ihren Platz haben. Es geht um das Frausein, um das Aufwachsen in einer Familie von Vertriebenen, es geht um deutsche Schuld, um Hitler und um die Eigenheiten eines verschlafenen Nestes im Oberharz - und das auf weniger als 290 Romanseiten.
Man möchte es dem Roman aber gar nicht ankreiden. Denn um die Nacherzählung des vorletzten Schuljahrs von Dora legt sich eine Nebenerzählung der alten Frau Dora, die in ihre Heimat zurückkehrt für ein Klassentreffen. Diese klammerartige Erzählung gelingt - abgesehen eben von einigen überfrachteten Stellen - wiederum sehr gut. So wird das Auseinanderdriften und Zueinanderhalten in Beziehungen klar, der Fluss von Gedanken und Erinnerungen, sowie die Genese eines Menschenlebens - und hier eines weiblichen unter schwierigen Umständen.
Quelle: ntv.de