Italiens vergessene Kinderzüge Als Amerigo in ein neues Leben aufbrach
07.08.2022, 14:27 Uhr
Fast 100.000 italienische Jungen und Mädchen wurden mit Sonderzügen aus der Nachkriegsarmut geholt. Das Bild zeigt Kinder aus Nordrhein-Westfalen, die 1946 auf dem Weg zu Familien in Irland sind.
(Foto: imago/United Archives International)
Neapel, 1946: Der siebenjährige Amerigo sammelt Lumpen und hat ständig Hunger. Dann bekommt er einen Platz in einem Kinderzug, um bei einer Familie im Norden Italiens aufgepäppelt zu werden. Wie diese Erfahrung sein Leben prägt, davon erzählt Viola Ardone feinfühlig in ihrem neuen Roman.
Es ist ein Stück italienische Geschichte, das der deutschen ähnelt, aber lange in Vergessenheit geraten war: Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurden etwa 100.000 notleidende Jungen und Mädchen aus dem zerbombten Süden Italiens mit dem Zug in den wohlhabenderen Norden gebracht. Dort lebten sie in Familien, bekamen regelmäßig Essen, neue Kleidung und gingen in die Schule. Viele der Kinder konnten dadurch Hunger und Elend entkommen. Für manche war es der Anfang eines neuen Lebens.
Die italienische Autorin Viola Ardone ruft mit ihrem Roman die Erinnerung an diese von der Kommunistischen Partei unterstützte Initiative wach. "Ein Zug voller Hoffnung" ist ein Überraschungserfolg und inzwischen in 30 Sprachen übersetzt worden. Nachdem das Buch in Italien erschienen war, "sprachen viele Menschen wieder über diese Zeit - nicht mehr voller Scham, sondern mit Stolz", erzählt Ardone in einem Interview mit dem Bertelsmann-Verlag, bei dem das Buch auf Deutsch in der Übersetzung von Esther Hansen erhältlich ist.
Als Ich-Erzähler für ihren Roman wählt Ardone den siebenjährigen Amerigo Speranza, der 1946 einen Platz in einem der Sonderzüge bekommt. Der Junge stammt aus einem Armenviertel in Neapel und wird dort "Nobelpreis" genannt, weil er so viel weiß. Seinen Vater kennt er nicht, er wächst bei seiner schroffen, wortkargen Mutter Antonietta auf, einer Schneiderin, die weder lesen noch schreiben kann. Jeden Tag sammelt Amerigo Lumpen, die seine Mutter dann wäscht, repariert und verkauft, Hunger ist dabei sein ständiger Begleiter.
Vorfreude und Abschiedsschmerz
Am Tag des Aufbruchs in den Norden herrscht großer Trubel am Bahnhof. Amerigo und die anderen Kinder schwanken zwischen Vorfreude und Abschiedsschmerz und erzählen sich Schauermärchen - denn wer weiß schon, ob sie nicht doch in Sibirien landen, wo Kinder zum Frühstück verspeist werden? "Ich wollte keine historische Periode rekonstruieren, sondern die Erfahrungen eines der Kinder nachempfinden", so Ardone. "Ich wollte einen der Züge besteigen, meine Mutter am Horizont verschwinden sehen, aufgeregt und ein bisschen ängstlich eine neue Welt entdecken."
Diese neue Welt liegt für Amerigo in der Emilia-Romagna. In seiner Gastfamilie bei Modena fühlt er sich schnell sehr wohl. Dort erfährt er die Herzlichkeit und Zuwendung, die ihm seine Mutter nicht geben kann. Und zum ersten Mal in seinem Leben trägt er Schuhe, die zwar ein bisschen zu klein, aber nicht schon von anderen Kindern krumm gelaufen sind, und hat zu seinem großen Erstaunen ein ganzes Zimmer nur für sich.
Durch seinen Pflegevater Alcide, einen Instrumentenbauer, entdeckt Amerigo seine Liebe zur klassischen Musik. Der Junge hält sich gerne zusammen mit Alcide in dessen Werkstatt auf: "Es ist, als wäre ich auch ein verstimmtes Instrument und er macht mich wieder neu, bevor sie mich dahin zurückschicken, wo ich herkomme." Ein Jahr später kehrt Amerigo nach Neapel zurück. Die Mutter ist ihm ein wenig fremd geworden. Als sie dann aus Geldnot die Geige, die Amerigos Pflegevater extra für ihn gebaut hat, verkauft, nimmt der Junge Reißaus und setzt sich erneut in einen Zug Richtung Norden.
Lebenslange Zerrissenheit
Den größten Teil des Romans erleben die Leserinnen und Leser durch die Augen des kleinen Jungen. Sie sind dabei, wenn Amerigo auf den Straßen Neapels Schuhe zählt: "heiler Schuh: ein Punkt dazu; kaputter Schuh: ein Punkt weg; neuer Schuh: Sternchen". Oder wenn seine Mutter ihm einen kleinen Apfel durchs Zugfenster reicht und er ihr den Mantel, den er gerade erst von den Organisatoren bekommen hat, zuwirft, damit sie sich daraus etwas nähen kann. Das letzte Viertel des Buches spielt dann 1994, da ist Amerigo ein bekannter Geiger und wird mit seiner Vergangenheit in Neapel konfrontiert, die er glaubte, hinter sich gelassen zu haben.
Mit dem kleinen Amerigo hat Ardone einen Protagonisten erschaffen, der es einem sehr leicht macht, ihn zu mögen. Dazu trägt auch die kindlich-sympathische Sprache bei, für die Übersetzerin Hansen eine anrührende Tonalität im Deutschen gefunden hat. Auch wenn die Geschichte insgesamt ein wenig tiefer hätte schürfen können, schreibt Ardone sehr feinfühlig darüber, was die "Kinderverschickung" für viele Jungen und Mädchen bedeutet haben mag. So kann Amerigo sich mit seinem Geigenspiel zwar aus der Armut befreien, gleichzeitig aber quält ihn eine lebenslange Zerrissenheit.
Quelle: ntv.de