"Sind Antisemitisten anwesend?" Lea Streisand: "Der 7. Oktober hat mich zur Jüdin gemacht"
15.12.2024, 12:12 Uhr Artikel anhören
Lea Streisand sieht in der Kunst den "Reflektorschild des Realen gegen die einfachen Antworten der Populisten".
(Foto: Stephan Pramme)
Worin sind sich Linke, Rechte, Migrationshintergründler, Kartoffeln, Islamisten und Queere, Neonazis, Berufszonis und DekolonialistInnen einig? Dass die Juden an allem schuld sind. Stimmt nicht? Kann schon sein, aber so steht es auf dem Buch "Sind Antisemitisten anwesend", das Lea Streisand, Michael Bittner und Heiko Wernin herausgegeben haben, nunmal auf der Klappe. Moment, das kommt Ihnen komisch vor? Ja, soll es auch, denn in diesem Buch kommen nicht nur die scharfzüngigsten und scharfsinnigsten, sondern auch die komischsten Autorinnen und Autoren, jüdisch und nicht-jüdisch, zu Wort. Darüber, wie man dem neuen und dem alten Antisemitismus die Stirn bietet, hat sich ntv.de mit der Schriftstellerin, Kolumnistin und Herausgeberin Lea Streisand unterhalten.
ntv.de: Im Buch sind viele lustige Parts, wo einem aber bisweilen das Lachen im Halse stecken bleibt, auch bei den Cartoons. Hilft Humor bei allem, was in der Welt gerade geschieht?
Lea Streisand: Humor ist eine nützliche Eigenschaft, um die Widernisse des Alltags besser zu ertragen und nicht in Selbstmitleid zu ertrinken. Komik hingegen ist vor allem ein Analysewerkzeug. Indem ich unsere Ordnung durch Komik auf den Kopf stelle, mache ich sie sichtbar. Durch Lachen versuchen wir, diese Unordnung zu beseitigen.
Das Lachen ist natürlich ein Abwehrreflex. Die Reaktion auf eine Irritation. Das Komische ist nicht per se unbedingt lustig, es kann im Gegenteil äußerst beängstigend sein. Das "Es "tritt bei Stephen King ja nicht versehentlich als Clown auf. Es schmerzt und bleibt mitunter als Kloß im Hals stecken. Die Aufgabe lautet immer: "Lerne lachen, ohne zu weinen", wie Tucholsky sagte, der genau daran gescheitert ist.
Du fragst im Vorwort: "Aber wer sind denn 'die Juden'?" Hast du eine Antwort darauf, mehr als ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023?
"Die Juden" gibt es nicht, genauso wenig wie es "die Deutschen" gibt oder "die Männer". Weil Gruppenzuschreibungen einfach niemals funktionieren. Was es durchaus gibt, ist "das Jüdische": Ein merkwürdiges Konstrukt von Zuschreibungen, das es durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch geschafft hat, zum Inbegriff der Unordnung für diejenigen mit den Aufräumphantasien zu werden, zu dem, was beseitigt werden muss, um das Paradies zu erreichen.
Vor einem Jahr war ich mit meinem Sohn im Technikmuseum am Gleisdreck. Er ist ein großer Fan von Lokomotiven und ich dachte, wir machen mal was zu zweit, ich lenke mich ab von dem ganzen Elend. Plötzlich sagt er zu mir: "Mami, warum steht hier ein Güterwaggon?" Und naja, ich hab' mich dann sehr zusammengerissen und ihm erklärt, dass es eine Zeit gab, in der Menschen in Deutschland wie Gegenstände behandelt wurden. Und manche wurden weggeschmissen. Und mein fünfjähriges Kind nickt und sagt traurig: "Die Juden." Ist das nicht furchtbar?
Das ist es. Sehr. "Meine Familie wurde zu Juden gemacht, die wollten das gar nicht", hast du mal in einem Interview gesagt. Wie jüdisch fühlst du dich? Möchtest du dich jüdisch fühlen? Und wirst du seit dem 7. Oktober 2023 darauf reduziert?
Der 7. Oktober hat mich zur Jüdin gemacht. Bis vor einem Jahr war die Trauer mein jüdisches Erbe, die große Wunde, weil so viele ermordet wurden, die Scham, überlebt zu haben und auch die Scham der "anderen Erfahrung", mit der ich mich als Frau mit Behinderung aus Ost-Berlin ja sowieso ständig auseinandersetze. Die jüdische Erfahrung war so ein merkwürdiges Tabu, über das vor allem bedeutungsvoll geschwiegen wurde. Weil eben schon mein Urgroßvater von sich erklärte, er sei kein Jude. Es blieb also nur dieser Verlust, das Verdrängen, die Pein.
Wie hast du dann weitergemacht?
Nach dem 7. Oktober wusste ich einfach überhaupt nicht mehr, wohin mit mir. Die allgemeine Schuldumkehr war so immens, das ging sogar für meinen Selbsthass zu schnell. Diese Erkenntnis, dass der Hass auf das Jüdische bei vielen Menschen offenbar ein tief verwurzelter angelernter Reflex ist und meine Angst auf der anderen Seite mindestens genauso alt ist, die aber kaum jemand versteht, hat mich komplett überfordert.
Ich kam mir so bescheuert vor, dass ich das nicht gesehen hatte. Und dann hab' ich mich mit anderen Jüdinnen und Juden getroffen, denen es genauso ging und dann wurde ich in die Synagoge mitgenommen und dort sehr herzlich empfangen.
Hat das geholfen?
Die Synagoge war wohl lange nicht so voll wie dieses Jahr an Jom Kippur. Das zeigt, dass es vielen so geht wie mir.
Hast du Angst vor Übergriffen?
Ich hab' vor so ziemlich allem Angst, und ich sehe die Zukunft generell schwarz. Deshalb werde ich dann meist positiv überrascht (lacht). Du kennst den alten Witz: Wie lassen sich alle jüdischen Feiertage in einem Satz zusammenfassen?
Nein ...
Sie wollten uns töten, wir haben überlebt, lasst uns essen!
Den merk' ich mir. "Lieben wir", sagt man heute wohl. Noch kurz zur Kulturförderung, die in Berlin gerade drastisch beschnitten wird – was macht das mit Berlin, mit der Kultur, mit den Menschen?
Die Kürzungen sind eine Katastrophe für Berlin. Wieso ein Senat in Zeiten, da der Populismus Aufwind hat, ausgerechnet auf die Idee kommt, bei der Kultur zu sparen, ist mir ein Rätsel. Als würde man die Rauchmelder aus einem Haus schmeißen, das am Fuße eines Vulkans steht, der gerade ausgebrochen ist. Theater, Museen, Universitäten sind Denkräume - ihre Aufgabe ist die Intervention. Wenn Kunst wirtschaftlich werden muss, verkommt sie zur Werbung, zum Bestätigungsautomaten einer antihumanistischen Gesellschaft, in der Unterhaltung komplett zur Aufgabe künstlicher Intelligenz geworden ist. Kunst ist der Reflektorschild des Realen gegen die einfachen Antworten der Populisten.
Mit Lea Streisand sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de