"Ich bin nämlich lustig" Lea Streisand pumpt Empathie in die Welt
21.08.2022, 14:37 Uhr
Warum eigentlich will man unbedingt Mutter werden? Lea Streisand hat Antworten, ob sie einem nun passen oder nicht.
(Foto: Stephan Pramme)
Im März ist ihr dritter Roman "Hätt' ich ein Kind" erschienen. Darin geht es um zwei Freundinnen, eine Schwangerschaft und eine Adoption. Und um Schneewittchen. Oder besser gesagt: Das Mutterbild in Grimms Märchen. Und auch um die Frage: Muss eine Stiefmutter denn immer böse sein? Die Antwort lautet - Spoiler - ja, muss sie, also jedenfalls, wenn die Bio-Mutter eines Kindes das so sehen möchte und wenn sie will, dass ihr Kind das auch so sieht. Doch lassen wir das, Lea Streisands Geschichte ist viel lustiger, auch wenn das Thema ernst ist. ntv.de erlebt im Gespräch eine Frau, in die man sich auf der Stelle verlieben muss. Lea Streisand hat die perfekte Mischung aus "So wie die will ich auch sein" und "So wie die werd' ich nie sein können". Sie ist schlau, attraktiv und witzig. Das ist viel, klar, denn außerdem ist sie erfolgreich, im Radio zu hören, authentisch und bald auch Dozentin für Poetik an der Uni Paderborn. Mit einer Glasnudel zwischen den Vorderzähnen - wir sitzen beim Asiaten - sprechen wir über das Thema Berlinern, denn das ist ja - unter anderem - ihr Markenzeichen.
ntv.de: "Wessis sollten nicht, Ossis mussten berlinern, sie waren schließlich Hauptstädter. Stimmt das?"
Lea Streisand: (lacht) Ich mag Dialekte. Sie erzählen was über dich. Ich erinnere mich noch mit Grauen, wie eine Freundin, als sie sich in einen Niedersachsen verknallt hatte, anfing zu sprechen wie er. Sie war, und das meine ich liebevoll, ursprünglich eine echte Kodderschnauze - und auf einmal spricht die hochdeutsch! Ich kenne Sachsen und Thüringer, denen war ihr Dialekt schon vor der Wende peinlich, aber aus Berlin zu kommen, Entschuldigung, das ist doch ein Statussymbol! Für mich jedenfalls.
Gehört das zur ostdeutschen Identität?
Wir Berliner Kinder haben schon Mitte der Neunziger nicht verstanden, warum plötzlich alle so taten, als wären alle Deutschen Wessis. Das waren wir nun mal nicht und das hörte man auch. Außerdem wollten wir uns nicht ersetzen lassen wie Dinge am Tag nach der Währungsunion 1990: Da kamst du in deinen alten "Konsum" und alle Ost-Produkte in den Regalen waren durch West-Produkte ersetzt. Als wäre man im falschen Film. Melitta statt Mokka-Fix, Bonduelle statt Tempo-Linsen. Mein Mann wird schon nervös, wenn sie in unserem Aldi zwei Regale umräumen. Aber so waren die Neunziger: Alles sollte raus. Aber wir Bohème-Kinder aus Prenzlauer Berg aus den Akademiker- und Künstlerfamilien haben uns gefragt: "Warum? Wir haben doch eine eigene Geschichte und eine eigene Identität." Ich fand Pionier-Lieder immer schön, ich wollte die weiter singen (lacht). UND christliche Lieder UND die Beatles.
Sprache ist etwas Wichtiges, verspürst du eine Art Sehnsucht nach anderen Sprachen?
Lebendige Sprache verändert sich. Ich bin total dankbar, dass es heute diese englischen Begriffe, zum Beispiel in Bezug auf Identitätspolitik, gibt! Als ich zum ersten Mal das Wort "Gaslighting" gelesen haben, hab' ich geheult vor Erleichterung. Weil es plötzlich ein Wort gab für das, was mir passiert ist. Und wenn sie ein Wort dafür gefunden haben, bedeutet das, dass ich nicht die Einzige bin, der das passiert ist. Oder "Ableism": Ich habe eine Gehbehinderung und kann manche Dinge einfach nicht. Und schon immer haben Menschen zu mir gesagt: "Komm, Lea, reiß dich mal zusammen, dann geht das schon." Nee, Alter, geht nicht! Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse und ich bin glücklich über jedes Wort, das einen dieser Unterschiede bezeichnet und damit sichtbar macht.
Auch neue Wörter gehören zum kreativen Schreiben ...
Ich habe mal Seminare an der Uni gegeben, Studiengang Europäische Literaturen, das heißt, da waren ganz viele internationale Studierende. Das war super, mit denen Geschichten zu schreiben, weil ganz unterschiedliche Erzählkulturen zusammenkamen. Ein Brite hat einfach geradeaus erzählt, klassisches Storytelling. Eine Italienerin hat so absurd komisch erzählt, das war wie Commedia de'll arte zum Zuhören, und eine Russin hat ihre Sätze einfach nicht zu Ende bekommen, weil sie klingen wollte wie Tolstoi. Die Fehler bei der Rechtschreibung interessieren mich dabei überhaupt nicht. Mich interessieren die Geschichten. Und Rechtschreibfehler - die führen mitunter nämlich zu wunderbaren Wortneuschöpfungen.
In deinem Buch geht es auch um Märchen ...
Ich kenne die Vorbehalte. Aber in der DDR waren es die Schauspieler vom "Deutschen Theater", die die Märchen gesprochen habe, das waren wunderbare Hörspiele, das hatte eine besonders hohe Qualität. Es war wie Theater hören. Auch die DEFA-Filme waren ganz bezaubernd. Nicht kitschig, pur, immer mit etwas Humor und Ironie. Und was man nicht vergessen darf: Man konnte an manchen Stellen ganz gut unter der Zensur wegtauchen, wenn man Kinder-Literatur oder Hörspiele für Kinder gemacht hat. Da wurden dann Märchen umgeschrieben, von Peter Brasch zum Beispiel, dessen Wolf keinen Bock mehr hatte, den Bösen zu spielen, denn er wollte lieber zum Zirkus. Rotkäppchen also hinterher, denn ohne bösen Wolf funktioniert ja ihr Märchen nicht. Das fand ich als Kind schon zum Schreien komisch, auch wenn ich vielleicht gar nicht verstand, was zwischen den Zeilen erzählt wurde.
Warum aber diese Begeisterung für Grimms Märchen, die nicht mal für Kinder geschrieben wurden?
Was ich an Grimms Märchen so liebe, ist, dass die Märchen Bilder bereitstellen für die ganze schreckliche Schönheit unserer Gefühlswelt. Märchen werten nicht: was passiert, passiert eben. Und genau das ist kindliche Wahrnehmung. Erst als Erwachsene werten wir, wir interpretieren. Märchen sind wie Traumatherapien - die Erlösung ist immer schon mit drin. Wenn der Wolf die Geißlein verschlingt, dann wird es dunkel, und wenn ihm der Bauch aufgeschnitten wird, damit die Geißlein wieder frei sind, dann wird es hell. Das sind Metaphern. Die Welt ist grausam, es passieren schreckliche Dinge, jeden Tag. Aber der Ausweg ist immer Teil der Geschichte.
Dein Roman handelt von Müttern verschiedenster Art ...
Nicht jede leibliche Mutter ist die beste Mutter für ihr Kind, auch eine Stiefmutter kann eine gute Mutter sein, ein Vater, ein Stiefvater. Hinter uns liegen zweieinhalb Jahre Pandemie, in denen die Kinder zum Teil einfach sich selbst überlassen wurden. Mit den Schul- und Kitaschließungen hat der Staat einfach ganz klar grob fahrlässig gehandelt. Es ist doch erwiesen, dass Kindesmisshandlung in den Familien stattfindet, nicht nachts im dunklen Park durch einen unbekannten Täter. Es sind die eigenen Eltern, der Freund der Mutter, der übergriffig wird. Aber wenn alle Schutzräume für Kinder gleichzeitig geschlossen werden, gibt es kein Korrektiv mehr, keine Stelle, die Alarm schlagen kann, wenn irgendwas komisch ist. Die Kinder werden einfach nicht mehr gesehen.
Darum geht es auch in Märchen ...
Ja, Märchen sind Geschichten von verlassenen Kindern. Sie könnten oft ja gar nicht anfangen, wenn das Kind tolle Eltern hätte (lacht). Das Kind geht also mutterseelenallein in die Welt hinaus und besteht Abenteuer. Hilfe erfährt es durch Zauberwesen, seltsame Leute, hilfreiche Tiere. Und warum helfen die? Weil das Kind so schön und so gut ist. Und weil es weint, darauf reagieren nun wieder die anderen. Das Märchen erzählt dem Kind nichts anderes als: Du bist super, so wie du bist. Manchmal passieren schreckliche Dinge und dann hast du das Gefühl, du bist ganz allein, aber es werden immer andere kommen, die helfen. Es geht immer weiter. Das ist doch sehr beruhigend.
Und die Mütter vom Prenzlauer Berg? Sind die wenigstens perfekt?
(lacht) Das ist die Mutter als Personifikation der Gentrifizierung, wie aus einem Horrorfilm: eine Art weibliche Godzilla mit Brüsten und Babybauch, die durch immerwährende Fortpflanzung schuld an der Wohnraumverknappung am Prenzlauer Berg ist. Eine Person, die Künstlerkneipen mit ihrer Muttermilch verunreinigt, ihr dicker Bauch immer im Weg, der Kinderwagen sowieso. Wie über Mütter und ihre Körper geredet wurde und wird, ist schockierend. Mütter sollen stillen und still sein. Nach dem Motto: "Jetzt hast du doch ein Kind, was willst du denn noch, jetzt reicht es doch, was, du willst auch noch was sagen, eine Meinung haben, arbeiten, laut sein? Das geht nicht." Es ist auch schrecklich, in welch kinderfeindlicher Gesellschaft wir leben. In anderen Ländern ist da schon mehr angekommen, zum Beispiel in Dänemark, die wissen: Wenn das Kind entspannt ist, zum Beispiel im Restaurant, dann sind auch die Eltern entspannt.
Kinder - kriegen, haben, lieben, darum geht es in deinem Buch ...
Es geht ja eigentlich niemanden etwas an, ob ich mein Kind liebe oder nicht. An manchen Tagen finden Eltern ihre Kinder sogar doof, unsympathisch. Das ist total in Ordnung. Was zählt, ist, dass ich für mein Kind verantwortlich bin. Das sind die Kategorien, in denen man über Kinder sprechen kann. Kinder sind abhängig, Eltern sind zuständig, die Liebe ist nicht der Gegenstand, der in der Gesellschaft besprochen werden muss. Es ist ja eine alte Regel, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind groß zu bekommen. Das ist kein Privatvergnügen, sondern eine gesellschaftliche Verantwortung. Kinder sind die Zukunft, die müssen stabil aufwachsen. Und das ist hart, weil Kinder für Menschen ein Armutsrisiko darstellen. Man muss sich Kinder tatsächlich leisten können in Deutschland.
Wie viel von dir steckt in "Hätt' ich ein Kind"?
Ich arbeite stark autofiktional, das ist der Pool, aus dem ich schöpfe, aber am Ende ist doch trotzdem immer alles erstunken und erlogen (lacht). Wahrscheinlich können Leute, die mich nicht kennen, besser zwischen meinen Zeilen lesen als Personen, die mich kennen. Ich erzähle Geschichten, das ist mein Beruf. Ich möchte Empathie in die Welt hinauspumpen, aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Ich möchte die Menschen, die nicht im Fokus sind, in den Mittelpunkt stellen, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen. Deren Alltag möchte ich erzählen.
Fühlst du so etwas wie einen Rechtfertigungszwang?
Da kommen wir wieder zum Thema Ableism, denn einer meiner häufigsten Sätze lautet: "Ich kann ohne meine Schuhe nicht laufen, ich habe eine Gehbehinderung." Und ich werde dennoch aufgefordert, zum Beispiel bei einer Hauseinweihung, drinnen meine Schuhe auszuziehen oder ansonsten außen über die Baustelle zur Toilette zu gehen. Menschen mit Behinderung passiert sowas ständig, genauso wie jede Person, die nicht zur männlichen, weißen Vielverdiener-Elite gehört, sich immer, wenn sie auf ihre besonderen Bedürfnisse hinweist, rechtfertigen muss. Ist doch ätzend. Vor wenigen Jahren hätte ich das so auch noch nicht erzählt. Aber ich habe meine Behinderung von Kindheit an, ich rechtfertige mich dafür, seit ich denken kann. Damit ist nun aber Schluss.
Inwiefern ziehst du das durch?
Ich habe mir mein ganzes Leben lang angehört: "Sie könnte doch, wenn sie wollte, sie ist einfach zu faul, sie stellt sich an." Das Schlimme ist, ich hab' es geglaubt. Ich hab' mir den Schuh buchstäblich angezogen. Jetzt habe ich orthopädische Schuhe, vorher hatte ich Konfektionsschuhe. Weil ich nicht behindert sein wollte und dachte, wenn ich mich nur anstrenge, dann bin ich es auch nicht mehr. Weil es eine Industrie gibt, die uns erzählt, wir könnten uns selbst nach unserem Willen gestalten, wenn wir uns nur genug anstrengen - und genug bezahlen natürlich. Nun bin ich mitten im Emanzipationsprozess: Ich gestehe mir ein, dass ich manchmal auf Hilfe angewiesen bin. Und wer noch nie in der Situation war, der kann sich tatsächlich nicht vorstellen, wie das ist, wenn einem nicht geglaubt wird.
Bist du darum Schriftstellerin geworden?
Ich glaube, ich bin Schriftstellerin geworden, weil ich schon immer viel erklären musste, weil ich schon immer etwas erzählen musste, um in die Köpfe der anderen zu kommen, zum Beispiel in die Köpfe meiner Familienangehörigen (lacht). Ich stehe auch nicht auf der Bühne, weil ich so 'ne Rampensau bin, sondern weil ich sowieso nie unsichtbar bin. Ich wollte immer unsichtbar sein - das kannst du aber nicht, wenn du so läufst wie ich. Auf der Bühne ist für mich der sicherste Ort im Raum. Da kann mich keiner umschubsen. Und wenn mich sowieso alle anglotzen, dann können sie mir auch zuhören. Ich bin nämlich lustig.
Findet deine engste Umwelt das auch?
Ich verschleiße gerade FreundInnen. Aber ich bin jetzt über 40, ich muss nicht mehr jedem gefallen. Und wenn eine Freundschaft oder Beziehung nicht mehr funktioniert, dann darf man sich trennen. Das ist ein sehr befreiendes Gefühl.
Bestätigt wirst du ja auch in anderen Gebieten, zum Beispiel durch deine Poetik-Dozentur.
Als die Mail von der Uni Paderborn kam, musste ich mich schon einmal kneifen. Ich fühle mich wahnsinnig geehrt und freue mich sehr darauf, die fünf Vorlesungen zu halten. Eins meiner Themen wird sein: "Schreiben im Jetzt." Heißt nichts anderes, als dass ich etwas auf der Bühne erzähle, dann einen Tweet draus mache und dann ein Foto bei Insta reinstelle, um am Schluss noch einen Podcast aufzunehmen (lacht). Wenn's sehr gut läuft, dann wird aus dem kleinen Kern der Sache eines Tages ein dicker Roman.
Was bedeutet dir das Schreiben?
Es ist ein bisschen wie verliebt sein - aber auch ein Horror, wenn es ein Roman wird: Am Anfang noch die Idee, das sind die Schmetterlinge im Bauch, keiner darf was wissen, und langsam aber kommt man sich näher, der Roman und die Schriftstellerin. Und auf Seite 150 kennt man sich schon echt gut. Die ersten 50 Seiten machen immer Spaß - der Rest ist Arbeit (lacht). Es gibt auch Stellen, die man nicht erzählen möchte oder kann, weil man noch nicht so weit ist. Aber die Geschichte wächst ja beim Schreiben und ich entwickle mich mit dem Buch.
Wann ist ein Text, ein Buch, lustig?
Immer, wenn was peinlich ist. Schreiben bedeutet, in die Wunde rein und dann ordentlich drin rumrühren. Ein brutaler, schmerzhafter Akt. Existenziell. Warum tue ich es? Ich kann nix anderes und eine muss ja. Denn es gibt noch so viele unerzählte Geschichten. Indem ich von meinem Scheitern erzähle, das Unsagbare ausspreche, wird dem Unperfekten eine Bühne gegeben. Und damit verändern wir die Welt.
Mit Lea Streisand sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de