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"Die spürst du nicht" Was ist das Leben eines Menschen wert?

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Aayana ertrinkt im Swimmingpool der Luxusvilla.

Aayana ertrinkt im Swimmingpool der Luxusvilla.

(Foto: IMAGO/Zoonar)

Zwei Familien treffen sich für einen Luxus-Urlaub in der Toskana. Gleich am ersten Abend verunglückt ein aus Somalia geflüchtetes Mädchen tödlich. In seinem Roman "Die spürst du nicht" seziert Daniel Glattauer Vorurteile, Ignoranz und Arroganz der Privilegierten.

"Keiner der Beteiligten ist mit dem Schreck davongekommen. Das Unglück hat sich in die Hinterköpfe gegraben und dreht dort Endlosschleifen. Es löst die Strukturen zweier Familien auf, versetzt deren Alltag in chronische Ausnahmezustände, kontrolliert Nächte, dirigiert Träume, und jedes Erwachen führt zum Ausgangspunkt zurück, zu diesem gottverdammten Swimmingpool in der Toskana." Es sind gerade einmal 40 Seiten vergangen, da ist in dem Roman "Die spürst du nicht" des österreichischen Autors Daniel Glattauer schon die Katastrophe passiert.

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Die spürst du nicht: Roman
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Ein Mädchen ertrinkt am ersten Abend eines exklusiven Italien-Urlaubs. Angereist sind das Winzerehepaar Binder mit Sohn sowie die Grünen-Politikerin Elisa Strobl-Marinek mit ihrem Akademiker-Mann und den Kindern. Glattauer beschreibt einen "gedeckten Terrassentisch, überdacht mit einer vanillefarbenen Plane, flankiert von Steinmauern eines Landhauses im warmen ockergelben Licht. Weiter hinten schlängelt sich die dunkelgrüne Zierleiste einer Platanenallee durch die luftflimmernde Landschaft." Idylle pur. Gerade haben die befreundeten Familien erste Antipasti verspeist, die Proseccogläser sind nachgefüllt.

Über das schüchterne Mädchen, das sie leblos in dem Pool der Luxusvilla finden, wissen sie kaum etwas. Außer dass es Aayana heißt und aus Somalia geflüchtet ist. Und dass die streng muslimischen Eltern erst überzeugt werden mussten, die 14-Jährige mit nach Italien fahren zu lassen. Denn das war die Bedingung von Sophie, der ältesten Tochter der Strobl-Marineks. Sie wollte ihrer schüchternen Freundin "das Schöne am Guten der westlichen Welt zeigen und sie etwas vom Leben der Privilegierten lehren, das sie selbst freilich für das ganz normale Leben hält". Und sie wollte ihr das Schwimmen beibringen.

Niemand will Verantwortung übernehmen

Glattauer, der sich 2006 mit seinem E-Mail-Roman "Gut gegen Nordwind" eine große Fangemeinde erschrieben hat, zieht in seinem Buch sowohl sprachlich als auch formal alle Register. Ironisch distanzierte und satirisch zugespitzte Passagen wechseln sich mit einer etwas zurückgenommeneren Sprache ab. Besonders in den Dialogen läuft er zu Höchstform auf. Die knapp 300 Seiten strukturiert Glattauer klug und abwechslungsreich, neben erzählende Texte stellt er Pressemeldungen zum Unglück, Kommentare aus Internetforen und Chatverläufe.

Neun Jahre lang haben Fans auf einen neuen Roman von Daniel Glattauer gewartet.

Neun Jahre lang haben Fans auf einen neuen Roman von Daniel Glattauer gewartet.

(Foto: picture alliance / EVA MANHART / APA / picturedesk.com)

Glattauer ist es weniger daran gelegen, das Unglück zu rekonstruieren. Ihn interessieren vielmehr die Folgen für die Beteiligten. Und zurück in Wien gehen die Binders und Strobl-Marineks alle ganz unterschiedlich mit dem Unfall um, gemeinsam ist ihnen nur: Niemand will Verantwortung übernehmen. Derweil ist die mediale Aufmerksamkeit riesig, denn mit Elisa Strobl-Marinek ist eine prominente Politikerin involviert, der Chancen auf einen Ministerinnenposten zugesprochen werden. Und während die Erwachsenen mit sich selbst, den Resten ihrer Ehe, einer gerade beendeten Affäre und ihrer Sprachlosigkeit beschäftigt sind, sucht Sophie im Internet Trost bei einem Pierre. Der versucht sie mit animierten Zeichnungen aufzumuntern und ist nicht der, der er zu sein vorgibt.

Wenn Theorie Realität wird

Und die Familie von Aayana? Auf die Idee, die trauernden Eltern und den Bruder zu besuchen, kommen weder die Binders noch die Strobl-Marineks. Dann taucht ein kauziger Anwalt auf und fordert eine hohe Schadensersatzsumme für die Familie und die Lage - besonders für Elisa - wird immer verfahrener.

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Glattauer hält in seinem Roman der Welt der Privilegierten zwischen Vorurteilen, Ignoranz und Arroganz den Spiegel vor und seziert das Verhalten von liberal eingestellten Angehörigen der gehobenen Mittelschicht. Wie reagieren sie, wenn sie direkt mit - in diesem Fall geflüchteten - Menschen zu tun haben, über die sie sonst nur in der Theorie diskutieren? Und er analysiert, was passiert, wenn die Frage, wie viel ein Menschenleben kostet, die eigentlich gut geschützten Gewissheiten ins Wanken bringt.

Ganz am Ende des Buches, im Gerichtssaal, erfahren die Figuren und mit ihnen die Leserinnen und Leser dann die traumatisierende Fluchtgeschichte von Aayanas Familie. Zu sechst sind sie in Somalia aufgebrochen, aber nur vier von ihnen haben Wien lebend erreicht. Und dort interessiert sich niemand für ihr Schicksal. Selbst die Nachbarn sind sich nicht einig über das, was sie über die Familie zu wissen glauben. Denn, so die titelgebenden Worte: "Die hat man gar nicht gespürt."

Quelle: ntv.de

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