Lynchmob im "Tatort" Ist es in Schwaben wirklich so schlimm?
17.11.2024, 21:45 Uhr Artikel anhören
Tanzt einer aus der Reihe, steht der Mob auf der Matte.
(Foto: SWR/Benoît Linder)
Auf dem Land versteht man die Städter nicht, andersherum ist es genauso. "Lass sie gehen" kippt Öl ins Feuer der zunehmenden Entfremdung, indem es ein Klischee ans nächste reiht. Dabei zeigt der Film an manchen Stellen, was aus ihm hätte werden können.
Schon mal von Bichishausen gehört, dem 120-Seelen-Ort auf der Schwäbischen Alb? Es gibt dort eine Kirche, eine Burgruine, und ein Gasthaus mit dem schönen und sehr deutschen Namen "Hirsch". Durchs Dorf fließt ein Flüsschen, eingerahmt von Hängen auf beiden Seiten, an denen sich Mischwald und Magerwiesen mit hübschen Felsformationen abwechseln. Kurzum: Bichishausen ist ein wirklich schönes Fleckchen Erde, der Inbegriff deutscher Romantik.
Allerdings nur, wenn man nicht zu tief in die Seele des Dorfes schaut. Im Stuttgarter "Tatort" muss Bichishausen nämlich als Beispiel für so ziemlich jedes Klischee herhalten, das Städter vom Leben auf dem Land haben: In Waldingen, wie Bichishausen im Krimi heißt, pflegt der Stammtisch im gleichnamigen "Hirsch" seinen Alltagsrassismus. Jeder redet über jeden, natürlich hinter vorgehaltener Hand und immer schlecht. Es wird gesoffen, was das Zeug hält, ständig kläfft irgendwo ein Hund und wenn einer mal aus der Reihe tanzt, steht sofort der Mob auf der Matte.
Und weil wir in Schwaben sind, arbeiten die Menschen natürlich bei einem Hidden Champion, sind noch kleinkarierter als anderswo und haben allgemein eine ziemlich deprimierende Einstellung zum Verhältnis von Arbeit und Leben. "Beten und arbeiten, das ist dein Leben", schleudert das spätere Mordopfer ihrer Mutter entgegen, als sie den elterlichen Familienbetrieb, ihren Verlobten samt frisch bezogenen Neubau und das Dorf fluchtartig verlässt. "Man kann doch nicht einfach machen, was man will", findet dagegen die Mutter.
Eine Überdosis Klöße

Alltagsrassismus unterm Hirschgeweih ist im Stuttgarter "Tatort" an der Tagesordnung.
(Foto: SWR/Benoît Linder)
Die Krux bei der ganzen Sache: Klar gibt es das alles auf dem Land, nicht nur in Schwaben. "Lass sie gehen" ist aber genauso vollgestopft mit Klischees wie die Mutter des Opfers in der Szene, in der sie den Schmerz über den Tod ihrer Tochter buchstäblich mit einer Überdosis Klöße ersticken will. Hätten sich die Macher doch mal stärker auf das zerstörte Innenleben der Wirtsfamilie konzentriert: Neben der Kloßszene gibt es eine weitere, in der der Vater mit einer Flasche Schnaps und ohrenbetäubendem Metal durch die Gaststube moscht, um ein Ventil für seine Wut und Trauer zu finden.
In solchen Momenten ist dieser Stuttgarter "Tatort" extrem stark. Mehr davon, und am Ende hätten wir uns über eine gelungene Charakterstudie (eines ganzen Dorfs) freuen können. So aber bleibt ein schaler Nachgeschmack, weil das Bichishausen im Film so ein billiges Abziehbild wilder Fantasien über das Leben im Dorf ist - bei der zunehmenden Entfremdung von Stadt und Land hilft das sicher nicht weiter.
Quelle: ntv.de