Panorama

Lange Schlangen vor Krematorien "Bis zu 20-mal" mehr Corona-Tote in China

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Arbeiter in Hongkong überführen einen Sarg mit einem Leichnam für die Beerdigungszeremonie.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

China hat die Corona-Pandemie offiziell für beendet erklärt. Das Virus sei besiegt, die Todesrate niedriger als überall sonst auf der Welt. Obwohl die offiziellen Zahlen geschönt sind, scheint das Schlimmste tatsächlich überstanden.

China hat Corona besiegt. Das hat die chinesische Führung Mitte Februar verkündet. Kurz darauf haben die chinesischen Gesundheitsbehörden die Corona-Epidemie in der Volksrepublik für "beendet" erklärt - mit der niedrigsten Todesrate weltweit.

Offiziell sind bisher rund 83.000 Menschen in China an Corona gestorben. Diese Zahlen seien aber "sehr unglaubwürdig", sagt Helwig Schmidt-Glintzer, Direktor des China Centrum Tübingen im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". "Schätzungen gehen auf das bis zu 20-Fache". Unabhängige ausländische Experten gehen davon aus, dass mindestens eine Million Menschen an Corona gestorben sind, einige sprechen sogar von 1,5 Millionen Toten. Die Zahl genau zu beziffern sei schwierig, "weil manche Leute mit und andere mit und an Covid gestorben sind".

In China wurden nur die Infizierten gezählt, die in Krankenhäusern gestorben sind. Dort stirbt aber nur ein kleiner Teil der Menschen in der Volksrepublik: von 2018 bis 2020 war das nur ein Fünftel aller Todesfälle, berichtet die New York Times. Gerade auf dem Land ist das nächste Krankenhaus oft weit entfernt - die Menschen sterben zu Hause. Zudem werden seit Dezember nur noch die Infizierten als Corona-Tote gezählt, die wegen Versagens der Atmung gestorben sind.

Bekannt ist auch, dass die chinesischen Ärzte die Todesursache fälschen sollten. Sie wurden angewiesen, in die Sterbeurkunde nicht Covid zu schreiben, sondern die Grunderkrankung des Verstorbenen. Das sorgt ebenfalls für geschönte Zahlen.

Begräbnisindustrie "extrem überlastet"

Dass die Totenzahlen viel höher waren als offiziell verkündet, zeigt auch der Boom in der Bestattungsindustrie. Grabgestecke wurden stärker nachgefragt als normalerweise, auch Totenanzüge - Kleidung für Verstorbene - waren so gut wie ausverkauft, hatte das ZDF Ende Januar berichtet. Das Fernsehteam konnte auf dem Land viele frische Gräber dokumentieren. Särge in der Volksrepublik wurden knapp, die Bestatter hatten viel zu tun.

Vor den Bestattungsinstituten gab es teils lange Konvois von Beerdigungsfahrzeugen. Die Menschen mussten stundenlang anstehen, um ihre Angehörigen einäschern zu lassen, berichtete die Washington Post im Januar. "Die Begräbnisindustrie, die Sargproduktion und die Krematorien waren extrem überlastet, aber diese Überlast ist inzwischen überwunden", sagt Schmidt-Glintzer. "Die Frage ist, ob jeder seinen Urnenplatz oder Grab gefunden hat, so wie er das normalerweise hätte finden können. Und sicherlich ist diese Erfahrung auch für viele traumatisch gewesen."

80 Prozent aller Chinesen haben sich inzwischen laut einem Wissenschaftler des nationalen Gesundheitsamts mit dem Virus infiziert. Anfang Dezember hatte die chinesische Regierung die Null-Covid-Politik abrupt beendet und die strengen Maßnahmen von heute auf morgen gestrichen. Die Infektionszahlen explodierten danach. Die Folge waren völlig überfüllte Leichenhallen und Krankenhäuser, in den Apotheken waren Medikamente gegen Erkältung und Fieber ausverkauft.

Chinas mRNA-Impfstoff kommt mit Verspätung

Rund um das chinesische Neujahrsfest Ende Januar hatte sich das Coronavirus vor allem in den ländlichen Gebieten verstärkt ausgebreitet. Zum ersten Mal seit drei Jahren durften die Menschen ohne Einschränkungen reisen. "Dadurch haben sehr viele Leute die Möglichkeit ergriffen und sind nach Hause gefahren", so Schmidt-Glintzer. Rund 300 Millionen Inlandsreisen gab es laut der staatlichen Nachrichtenagentur. "Damit war sicherlich auch viel Infektionsgeschehen verbunden. Es hat eine große Nachfrage nach Fieber-Behandlungen gegeben." Höhepunkt der Infektionswelle mit 36.000 Todesfällen pro Tag war der 26. Januar, schätzt der Datenverarbeiter Airfinity.

Schuld an den schwereren Infektionen und vielen Todesfällen nach dem Ende der Null-Covid-Politik war auch der unzureichende Impfschutz der chinesischen Bevölkerung. Die heimischen Impfstoffe unter anderem von Sinovac und Sinopharm sind laut Studien weniger wirksam als die mRNA-Vakzine von Biontech und Moderna. "Viele haben kritisiert, dass China auf das Angebot der Mainzer Forscher und von Pfizer nicht eingegangen ist", sagt Schmidt-Glintzer.

Über drei Jahre nach Pandemie-Beginn hat China vergangene Woche nun den ersten eigenen mRNA-Impfstoff gegen Covid-19 zugelassen. Der Impfstoff zielt laut dem Hersteller, dem chinesischen Pharmakonzern CSPC Pharmaceutical, auf einige der wichtigsten Omikron-Untervarianten ab. Als Auffrischungsimpfung habe es sich in einer Studie als sehr wirksam erwiesen.

Impfstoffe aus dem Ausland wollte China bisher nicht importieren, um sich nicht von ausländischen Lieferungen abhängig zu machen, führt Schmidt-Glintzer im "Wieder was gelernt"-Podcast aus. "Insofern war das sicher auch Kalkül, dass man sagte, dann haben wir unser eigenes Produkt und brauchen es nicht von der Außenwelt zu importieren."

Krankenhäuser führen wieder "normale Behandlungen" durch

Seit Ende Januar scheint die Infektionswelle laut Airfinity wieder abzuflauen. Der Betrieb in den Kliniken hat sich seitdem wieder normalisiert. "Die Krankenhäuser sind offen für normale Behandlungen, es gibt keine Zugangsbeschränkungen mehr, die Situation ist entspannt", berichtet China-Experte Schmidt-Glintzer im Podcast. Es würden weniger Corona-Patienten eingeliefert, haben Ärzte dem chinesischen Online-Magazin Sixth Tone gesagt.

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Laut den Behörden ist die Zahl der Corona-Patienten in den Kliniken seit Anfang Januar um 98 Prozent zurückgegangen.

Wenn die Regierung sagt, das Virus sei besiegt, meint sie damit, China habe die Prüfung "Pandemie" bestanden, sagt Helwig Schmidt-Glintzer. Die Null-Covid-Strategie wurde über Nacht abgeschafft, deswegen wirke es so, als gäbe es kein Covid mehr. Tatsächlich sei das Virus in China weiter endemisch vorhanden.

Inzwischen kehrt in China allmählich der Alltag zurück. Mitte März hatte die Regierung die Visa-Einschränkungen aufgehoben, Touristen dürfen wieder in die Volksrepublik reisen. Der Reiseverkehr laufe langsam an, sagt Helwig-Schmidt-Glintzer. Dass insbesondere der Geschäftsreiseverkehr wieder Fahrt aufnehme, sei "nur noch eine Frage von Wochen".

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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Hinweis: Dieser Text wurde in einer ersten Version am 31.03.2023 veröffentlicht.

Quelle: ntv.de

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